Musik an sich


Reviews
Lully, J.-B. (O’Dette - Stubbs)

Thésée


Info
Musikrichtung: Barock Oper

VÖ: 21.05.2007

CPO / JPC
3 CD (AD DDD 2006) / Best. Nr. 777240-2


Gesamtspielzeit: 173:18



ZAUBERHAFTES MONUMENTALGEMÄLDE

Es wundert mich nicht, dass sich Jean-Baptiste Lullys dritte Oper Thésée seit ihrer Uraufführung 1675 für 104 Jahre im Repertoire halten konnte. Was die dramaturgische Bündigkeit und Expressivität der Rezitative angeht, befindet sie sich zwar noch nicht auf der Höhe der späteren Werke. Musikalisch hingegen ist sie sehr reich an äußeren Reizen, so reich, dass z. B. der erste Akt mit seinem Aufgebot an Ensembles, Chören, Pauken und Trompeten wie ein einziges (fast schon ermüdend) pompöses Divertissement anmutet und bereits der Schluss des 4. Aktes zum Finale taugen würde, das dann im 5. Akt gleich mehrfach mit Chören und Tänzen anhebt, bevor der Vorhang schließlich endgültig fällt.
Im 18. Jahrhundert, in dem das Publikum zunehmend nach eingängiger und weniger repräsentativer Unterhaltung verlangte, war dieser musikalische Reichtum ohne Zweifel die größere Attraktion. Außerdem gibt es hier noch eine komisch Einlage (im 2. Akt), ein Element, dass Lully und sein Librettist Quinault aus den späteren Werken verbannten. Auch diese Zutat unterstreicht den geradezu revueartigen Charakter von Thésée.

Hauptkonflikt ist die unerwiderte Liebe der als Zauberin und Kindsmörderin bekannten Medea zum jungen Helden Theseus, der jedoch die Prinzessin Aegle liebt, die wiederum vom König Aegeus begehrt wird, der jedoch, wie sich später herausstellt, der Vater von Theseus ist. Aegles Vertraute Cleone und ihr Geliebter Arcas, ein Vasall des Königs, sorgen als zweites Paar für zusätzliche amouröse Verwicklungen. Es geht um Heldentum, Liebe, Eifersucht, Leben, Tod, Gift, Magie und Wahnsinn, kurz um Lebensfragen der Versailler Hofgesellschaft. Das alles haben Lully und Quinault in eine musikalischen und poetischen Rahmen gegossen, der für rund drei Stunden ohne Abstriche auch heute noch unterhält.
Die gelegentliche Trockenheit, von denen auch die besten Werke Lullys nicht immer ganz frei sind, kommt hier nicht auf. Großen Verdienst haben daran die einfallsreichen Interpreten, die die Spielräume der Partitur werkgetreu ausfüllen: der großzügige Einsatz von Schlagzeug, Lauten, Gitarren und (historisch ab 1664 verbürgten) Musetten verleiht den Tänzen ein kräftiges Kolorit. Auch die Rezitative werden vom reichen Continuo durchweg phantasievoll begleitet, für theatralisch-unheimliche Atmosphäre sorgt eine Donnermaschine.
Das Aufführungsmaterial, das die beiden Dirigenten und Lautenisten Paul O’Dette und Stephen Stubbs ihrer Fassung zugrunde gelegt haben, stammt übrigens aus der Werkstatt von Les Arts Florissants - vielleicht auch dies ein Grund für den überaus farbigen Gesamteindruck.

Der geschmeidige, keineswegs schematische Gesang, die pointierten, aber nicht gestanzt wirkenden Rhythmen sowie die flexibel gestalteten Chöre, Tänze und Sinfonien ergänzen sich zu einem wunderbaren Mosaik. Die Tongebung ist nicht so trocken wie z. B. bei vergleichbaren Lully-Einspielungen von Hugo Reyne, die ganze Produktion weniger puristisch als etwa bei Christophe Rousset, der dem Continuo für meinen Geschmack zu sehr die Zügel anlegt und meist auf das Schlagzeug verzichtet. Stubbs und O’Dette setzen hier dagegen zu Recht auf die unmittelbaren Reize der Musik, wobei es ihnen gelingt, das Werk in ein für französische Verhältnisse geradezu mediterranes Licht zu tauchen.
Die guten Sänger/innen sind ihren Partien durchweg gewachsen und nehmen mehrheitlich durch ihre stimmigen Timbres für sich ein. Howard Crook in der Hauptrolle hat einen eher kleinen Part: alles dreht sich hier um den Helden – wie seinerzeit um den französischen Sonnenkönig – er selbst aber wahrt noble Zurückhaltung. Crook, stimmlich nicht mehr ganz so jugendlich frisch wie in seinen gerühmten Einspielungen der 80er und frühen 90er Jahre, versteht es, durch seine sensible und klare Diktion Theseus als Helden und als Liebhaber zu beglaubigen. Als ebenso leidenschaftliche wie intrigante Medea überzeugt Laura Pudwell mit ihrer wandelbaren Stimme. Für eine junge Prinzessin zu spröde timbriert ist dagegen Ellen Hagris; ihre Aegle klingt ältlich. Liebreiz verströmt dagegen Suzie LeBlanc als Aelges Vertraute Cleone – eine umgekehrte Besetzung wäre stimmiger gewesen. Harry von der Kamp und Oliver Laquerre verleihen König und Vasall markantes Profil. Der Chor und das, gemessen an den damaligen Möglichkeiten Lullys, eher klein besetzte Orchester sind sehr gut disponiert.

Ausgestattet mit einem ausgezeichneten, umfangreichen Beiheft überzeugt diese ungekürzte Produktion auf der ganzen Linie. Im nächsten Jahr soll übrigens Lullys Psyche (die Tragedie von 1678) mit dem gleichen Team folgen.
Angesichts der zahlreichen qualitätvollen Lully-Veröffentlichungen in den vergangenen Jahren scheint für den ebenso vielgerühmten wie -geschmähten Superintendenten Ludwig XIV. diskographisch nun doch noch ein Goldenes Zeitalter angebrochen zu sein.



Georg Henkel



Besetzung

Howard Crook, Thésée
Laura Pudwell, Medée
Ellen Hagris, Aeglé
Harry van der Kamp, Aegée
Suzie LeBlanc, Cleone
Oliver Laquerre, Arcas
u. a.

Chor und Orchester des
Boston Early Music Festival

Paul O’Dette & Stephen Stubbs, Leitung & Theorbe und Gitarre


 << 
Zurück zur Review-Übersicht
 >>