Mammutprogramm: Das Philharmonische Orchester Altenburg-Gera spielt alle fünf Klavierkonzerte von Sergej Prokofjew an einem Abend




Info
Künstler: Philharmonisches Orchester Altenburg-Gera

Zeit: 10.04.2025

Ort: Gera, Theater

Fotograf: Gyunai Musaeva (Polina Osetinskaya); Evgevy Evtyukhov (Eva Gevorgyan)

Internet:
http://www.tpthueringen.de

Fünf Klavierkonzerte gibt es von Ludwig van Beethoven, aber auch von Sergej Prokofjew. Während allerdings bei erstgenanntem wohl noch niemand auf die Idee gekommen sein dürfte, diese fünf alle an einem regulären Konzertabend nacheinander aufzuführen, wagt das Philharmonische Orchester Altenburg-Gera anno 2025 dieses Experiment mit den fünf Prokofjew-Konzerten, die im Durchschnitt etwas kürzer sind als die Beethovenschen – trotzdem beginnt das Konzert eine halbe Stunde früher als üblich, und da es zudem zwei Pausen gibt statt wie im Konzertbetrieb gang und gäbe nur einer, wird’s nach hinten raus dann doch recht spät: 19 Uhr geht’s los, und erst kurz vor 23 Uhr sitzt der Rezensent wieder in seinem Auto.
So ein Mammutprogramm würde natürlich auch den konditionsstärksten Pianisten nicht nur an, sondern wohl über seine Grenzen hinaus bringen – ergo teilen sich in Gera mit Eva Gevorgyan und Polina Osetinskaya zwei Tastenkünstlerinnen in den Abend. Konditionell fordernd ist das auch so noch, zumal das Programm wie üblich an zwei aufeinanderfolgenden Abenden in Gera gegeben wird, während der normalerweise am Folgetag noch anhängende dritte Abend in Altenburg wegfällt. Der Rezensent ist in Gera am zweiten Abend anwesend.

Osetinskaya eröffnet mit dem 1. Klavierkonzert Des-Dur op. 10, einem einsätzigen Frühwerk, das intern aber trotzdem dem üblichen dreiteiligen Schnell-Langsam-Schnell-Schema folgt, wobei eine Einleitung vorgeschaltet ist. Dirigent Ruben Gazarian zieht den Bombast eher in die Breite und schafft somit akustischen Platz für die Pianistin – die Balance ist zumindest am Sitzplatz des Rezensenten links hinten fast unter der Empore (er hatte um einen Randplatz gebeten, um im Falle eines Hustenanfalls schnell den Saal verlassen zu können, was sich dann aber letztlich nicht nötig machte) exzellent. Osetinskaya nutzt diesen Raum dann auch gleich und hämmert die Einleitung förmlich herunter, ehe noch vor dem ersten Allegro brioso eine Kadenz eingeschaltet ist, die enorm flott herüberkommt, teils kernig mit Orchesterhintergrund, teils aber auch huschend, fast spukhaft dann im Allegro-Seitenthema, mit intensiver gemeinsamer Arbeit zwischen Pianistin und Dirigent ausgefeilt. In den breiten Passagen liegt schon fast Cineastik, im langsamen Mittelteil dann aber fast Entrücktheit, zudem mit „maurischen“ Anklängen, wie sie weiland en vogue waren – hier und da beschleicht den Hörer aus heutiger Perspektive aber fast der Verdacht, einen Blues-Vorläufer zu hören. Abermals sehen wir Osetinskaya und Gazarian intensiv miteinander arbeiten, was im Schlußteil darin gipfelt, dass der Dirigent die (weitere) Kadenz förmlich mitgroovt, wofür sich dieser Scherzo-Teil mit seinem puppentanzartigen Motivreigen auch anbietet. Sinn für Dramatik hatte der junge Komponist auch schon, wie die drei großen Horntöne zeigen, die zur Kadenz führen. Im Finale zeichnet Gazarian einen guten Mix aus breitem Schwingen und Vorwärtsdrang – auch das muß man erstmal hinkriegen. Erste Bravi deuten bereits an, dass das ein richtig guter Abend zu werden verspricht.

Das 2. Klavierkonzert g-Moll op. 16 entstand nur kurze Zeit nach dem ersten und ist doch ein völlig anders geartetes Werk, ein Viersätzer mit dem klassischen Sinfoniesatzschema, auch doppelt so lang wie der Erstling. Eva Gevorgyan spielt die Andantino-Einleitung geradezu murmelnd und zurückhaltend, deutet aber an, dass Kernigkeit durchaus kein Fremdwort darstellt. Der Allegretto-Hauptteil des ersten Satzes besitzt ein groß schreitendes Hauptthema, das stilistisch eine Fortsetzung in der Kadenz findet. Wer genau hinhört, entdeckt ein paar Einfälle, die man später in veränderter Form in „Romeo und Julia“ oder im „Tanz der Zuckerfee“ wiederfindet. Nach vielen Minuten setzt das Orchestertutti mit großer Monumentalität ein – aber der Satz endet im Gegenteil, nämlich minimalistisch.
Das Scherzo bietet flirrenden Speed, hier und da durchaus zupackend, zumeist aber eher dahinhuschend. Der langsame Satz ist als Intermezzo deklariert, aber er besitzt durchaus nicht nur Zwischenspielcharakter, wie schon der düstere Riese klarmacht, den das Orchester hier zu Beginn aufbaut. Tritt Gevorgyan hinzu, wird’s wieder eher spukhaft, aber auch das Getrampel des Riesen kommt wieder und hinterläßt eher groovige Szenenbilder, zu denen sich ein paar Abgründe gesellen.
Das Finale, ein Allegro tempestuoso, verspricht schon im Titel einiges an Tumult. Also hören wir einen Mix aus Speed und Bombast, im Kontrast dazu aber ein extrem karges Seitenthema, das erst allmählich mit Lebensenergie beimpft wird. Die Verknüpfung der divergierenden Welten gelingt prima, auch die Klangbalance läßt Gevorgyan selbst im wilden Orchestergetrümmer noch Platz zur Entfaltung, und so steht dem Finaljubel nichts im Wege, auf der Bühne nicht und vor der Bühne auch nicht.
Eva Gevorgyan

Nach der ersten Pause ist Eva Gevorgyan gleich nochmal im Einsatz und spielt, nein, nicht das 3., sondern das 4. Klavierkonzert B-Dur op. 55, ein strukturell ungewöhnliches Werk, da es für den Pianisten Paul Wittgenstein geschrieben worden war, der im Ersten Weltkrieg einen Arm verloren hatte und später mehrere derartige Werke in Auftrag gab oder zumindest anregte, so auch dieses von Prokofjew, das er aber nach eigener Aussage nicht verstand und letztlich nie spielte. Der Komponist wiederum erwog, auch eine Version für beidhändiges Klavierspiel zu schreiben, tat dies aber letztlich doch nicht, und das Werk fristet ein gewisses Schattendasein, obwohl es interessante Musik enthält. Gevorgyan hat bekanntlich noch beide Arme, hält sich aber trotzdem an die Vorgabe und spielt nur mit Links, erleichtert sich aber die Aufgabe zumindest damit, dass sie mit Rechts blättert. Außerdem hält sie sich bisweilen mit der rechten Hand an der rechten Klavierwange fest – möglicherweise erzeugt das einen inneren Spannungszustand, der es ihr erlaubt, mehr Power in die linke Hand zu legen. Das Werk selbst ist viersätzig und hebt mit einem zumeist zügigen Vivace an. Das Andante an zweiter Position beginnt mit einer langen, sehr bedächtigen Orchestereinleitung und behält den tupfend-tastenden Charakter dann auch über weite Strecken – nur selten kommen energischere Anschläge der Pianistin um die Ecke gebogen, gekonnt austariert per intensiver Detailabstimmung mit Gazarian. Und die Kombination aus tiefem Gewühl und latenter Leichtigkeit ist gar nicht so einfach hinzubekommen, wie das an diesem Abend gelingt, wo dann auch die Schlußspannung steht.
Mit einem Moderato folgt gleich noch ein eher gebremster Satz, und die Entwicklung der ersten Gedanken erfolgt demnach recht zurückhaltend, aber es entspinnt sich bald ein Wechsel zwischen dieser Zurückhaltung und zupackenderen Elementen. Das geht dann so weit, dass der Kadenzansatz recht wüst daherkommt, aber die kontrollierte Herangehensweise siegt letztlich. Erst im Vivace-Finale bricht sich dann wieder flüssiger Speed Bahn, aber der Satz ist eher kurz und in der Gesamtanlage recht unauffällig, was das Publikum natürlich nicht vom Spenden verdienten Applauses abhält.

Das 5. Klavierkonzert G-Dur op. 55 entstand nur kurze Zeit nach dem vierten und hat die meisten Sätze dieser Prokofjew-Werkgruppe, nämlich fünf, ist aber nicht das längste. War das Orchester für das vierte Konzert geschrumpft, wächst es nun wieder. Das eröffnende Allegro con brio wechselt zwischen Zügigkeit und Bremsung, wobei Polina Osetinskaya oftmals geradezu kantig zu Werke geht und etliche schroffe Gegensätze aufbaut, wobei ein recht lieblicher Seitengedanke ebenso dienlich ist wie der recht knackige Schluß.
Im Moderato ben accentuato schreitet zunächst eine Riege im Gleichschritt vorwärts, ehe sich fast jazzige Welten auftun – auch wieder zwei Stilistika, die nicht leicht zu kombinieren sind, aber der Komponist schafft es, und die Beteiligten an diesem Abend folgen seinem Weg bereitwillig. Satz 3, eine Allegro-con-fuoco-Toccata, entwickelt viel Zug zum Tor, fällt aber sehr kurz aus, während sich das Larghetto deutlich mehr Zeit nimmt, um eine weite, karge, aber nicht unliebliche Landschaft zu zeichnen, die so ganz anders klingt als die weiten, kargen Landschaften, die man später von Dmitri Schostakowitsch zu hören bekam. Lange Zeit werden Abgründe allenfalls angedeutet, ehe plötzlich doch noch einige Dramatikeinschübe kommen und teils in schleppenden Bombast münden, bevor ein bezaubernder hingetupfter Schluß anhängt.
Das abschließende Vivo nimmt der Dirigent flott, aber nicht überschnell, und die diversen Klüfte überspringt er nicht einfach, sondern macht sie durchaus bewußt, zumal das sehr verträumte Seitenthema auch hier klarstellt, dass es an Kontrastentwicklung nicht mangeln soll. Dessen Ende gerät geradezu fragil und erfordert eine geschickte Re-Dramatisierung hin zum kurzen, aber durchaus großen Bombastfinale, das abermals reichlich Applaus hervorruft.
Polina Osetinskaya

Nach der zweiten Pause ist es schon 22.10 Uhr, und das Auditorium hat sich etwas ausgedünnt. Die Dagebliebenen bekommen noch das 3. Klavierkonzert C-Dur op. 26 – wer aber vermutet hatte, die beiden Pianistinnen, von denen bisher jede zwei Konzerte gespielt hatte, würden sich vielleicht in die drei Sätze hineinteilen, der irrt: Wir hören nur Polina Osetinskaya. Einer Andante-Einleitung folgt im Allegro-Hauptteil des ersten Satzes ein speedig-perlendes Hauptthema, das bald an Zupackfaktor gewinnt. Das Seitenthema setzt diesem eine Art Mix aus Spuk und Tanz gegenüber, was eine dramatische Durchführung ermöglicht, garniert mit einigen energischen Ausbrüchen, aber auch etwas Entrücktheit – und dann sind da noch diverse ganz besondere Einfälle. Wenn etwa Piccoloflöte und Piano in höchsten Tönen duettieren, hat das etwas besonders Sinistres, und die späteren Kastagnetteneinsätze erzeugen ein ähnlich fremdartiges Flair. Ein knapp-knackiges Finale schließt diesen originellen Satz ab.
An zweiter Stelle steht ein Variationensatz im Andantino. Das Thema wird vom Orchester elegant schreitend eingeführt, Osetinskaya groovt schon mit, obwohl sie noch gar nicht spielt, sondern erst mit der 1. Variation einsetzt, diese dann aber gleich ganz alleine bestreitet. Der Variationenzyklus ist recht bunt, was Charakter und Dynamik angeht, von entrückt bis flockig ist alles dabei, und Gazarian arbeitet hier besonders intensiv mit der Solistin, bis der Satz in einem akzentuierten, dann aber ins Jenseits verschwindenden Schluß verhallt.
Dieses Konzert ist wieder in klassischer Dreisätzigkeit gehalten und endet mit einem Allegro ma non troppo, treibend anhebend, aber irgendwie mechanisch wirkend, was Absicht sein dürfte, wie auch die anderen Eigentümlichkeiten: Das Seitenthema lagert breit, aber karg in der Landschaft, und die Pianistin agiert später fast spieluhrartig. Dominiert die Breite, wird es zwar nie richtig finster, aber die Solistin muß trotzdem im schleppenden Tempo an den Ketten zerren, ehe sich die motorische Wirkung schrittweise wieder steigern darf. Die Bravorufe ertönen hier schon in den Schlußton hinein, auch wenn der Überwältigungsfaktor am Ende des 2. Klavierkonzertes letztlich der größte war – der im Saal verbliebene Teil des Publikums, von dem übrigens ein auffällig großer Teil Russisch spricht, jubelt jedenfalls nochmal ausdauernd. Jenseits der reinen physischen Höchstleistung, die Ruben Gazarian, das Philharmonische Orchester Altenburg-Gera und die beiden Pianistinnen auf die Bretter gebracht haben, hat jedenfalls auch die künstlerische Leistung in der Gesamtbetrachtung ohne Wenn und Aber überzeugen können.


Roland Ludwig



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