Romeo triumphiert nicht: Das Leipziger Universitätsorchester spielt Prokofjew und Tschaikowski




Info
Künstler: Leipziger Universitätsorchester

Zeit: 01.02.2025

Ort: Leipzig, Gewandhaus, Großer Saal

Fotograf: Simon Chmel (www.simonchmel.com)

Internet:
http://www.uni-leipzig.de/orchester

Das Leipziger Universitätsorchester ist basisdemokratisch organisiert, entscheidet also in kompletter Eigenregie der studentischen Mitglieder über seine Programme. Dass für dasjenige am Ende des Wintersemesters 2024/25 eines herauskommt, das ausschließlich aus Werken russischer Komponisten besteht, überrascht positiv – seit 2022 gibt es schließlich nicht selten Stimmen, man dürfe angesichts des Krieges in der Ukraine hierzulande keine Musik russischer Komponisten mehr spielen, womit freilich das Kind mit dem Bade ausgeschüttet und eine potentielle kulturelle Verständigung für lange Zeit ins Abseits gestellt würde, was eigentlich nicht Sinn und Zweck der Sache sein kann, so problematisch die politische Situation im postsowjetischen Raum auch ist. Dass die Studenten – wie immer beim Leipziger Universitätsorchester sind es solche, die nicht ihr jeweiliges Instrument studieren – bei ihrer Programmentscheidung nicht in diese Falle getappt sind, stellt ihnen also schon im Vorfeld ein gutes Zeugnis aus.

Sergej Prokofjew stellte aus seiner Ballettmusik zu „Romeo und Julia“ gleich zwei Suiten zusammen – an diesem Abend im praktisch ausverkauften Gewandhaus erklingt die zweite op. 64b, allerdings in einer um die Sätze „Romeo und Julia“ und „Tybalts Tod“ aus der ersten erweiterten Fassung. Schon die beiden Originale folgten nicht sklavisch der Handlung, und so stellt diese Erweiterung inhaltsstrukturell kein Problem dar, wobei man darin sogar den Versuch erblicken kann, den dramatischen Höhepunkt, als Romeo Tybalt, Julias Cousin, tötet, auch in Suite 2 darzustellen, wo er original nicht enthalten ist, und damit Suite 2 noch mit einem zusätzlichen Dramatikfaktor zu bereichern.
Also hinein ins Geschehen! Der eröffnende Tanz der Ritter beginnt planmäßig mit in eine Art Nocturne eingebettetem schrägem Krach, auch wenn die Hörner unplanmäßig zu schräg agieren, ehe sich das markante Hauptthema herausschält, das so mancher im ausverkauften Rund vielleicht auch in der Bearbeitung von Emerson Lake & Palmer im Ohr hat. Das Gesäge in den Tiefen, von Kontrabässen, Baßposaune und Tuba inszeniert, läßt Dirigent Daniel Seonggeun Kim, der beide Werke des Programms auswendig dirigiert, zwar markant, aber nicht überscharf darstellen und erreicht damit einen richtig überzeugenden Ausdruck. In der Folge der an diesem Abend also neun Sätze gelingt ein guter Mix aus Naturalismus und distanzierter Betrachtung, mal mit einer völlig jenseitigen Celesta, mal mit klassischen Scherzo-Satzaufbauten spielend, mal lange auf Engtanz setzend oder das Fagott ein pastorales Solo spielen lassend, aber auch nervösen Speed mit markanten Klaviersätzen und einer hyperaktiven Kleinen Trommel auffahrend. „Tybalts Tod“ wandelt sich von flott-lockerer Dramatik erst in Hyperspeed, dann in brutale Einzelakkorde und schließlich in einen enorm powervollen Trauermarsch – die Einfügung hat sich in dynamischer wie dramatischer Hinsicht definitiv gelohnt. Etwas zurückhaltender, aber nicht weniger interessant kommt die innere Struktur einer Nummer wie „Romeo und Julia vor ihrer Trennung“ daher – der Mix aus Lieblichkeit und Düsternis wandelt sich, nachdem die wieder mal himmlische Celesta ihren Dienst getan hat, gekonnt in die Dominanz des letztgenannten Elements, allerdings mit einem Trauermarsch im Pianissimo, dem leider zu schräge Klänge aus der Kontrabaßgruppe etwas die Wirkung rauben. Über den kurzen, eleganten und wie schon diverse andere Sätze Saxophone auffahrenden „Tanz der Brautjungfern“ erreichen wir, tatsächlich der originalen Handlung folgend, das Finale: „Romeo an Julias Grab“. Kim holt mit ganzem Körpereinsatz grelle Verzweiflung aus dem Orchester und fordert dazu alternierend finstere Größe. Drei markante Töne aus dem Kontrafagott lassen den Schnitter um die Ecke biegen, ehe die Violinen und die Piccoloflöte das Geschehen entschweben lassen und eine enorme Spannung aufgebaut wird, die niemand zerhustet und auch niemand vorklatschend zerstört – der verdiente Jubel danach fällt umso intensiver aus.

Ein halbes Jahrhundert älter ist Pjotr Tschaikowskis Sinfonie Nr. 5 e-Moll op. 64, bei der erstmal der Wechsel am Konzertmeisterpult auffällt: Statt Anne Clasen agiert dort jetzt Marius Drobosz. Daniel Seonggun Kim formt das eröffnende Andante sehr behutsam und hält das Tempo weit unten, läßt das Geschehen aber trotzdem nicht ins Finstere abstürzen, obwohl er es farblich noch etwas nachdunkelt. Auch den tatsächlich Scherzo übertitelten Allegro-Hauptteil dieses Satzes erkunden er und seine Studenten sehr zurückhaltend, fast tastend, wodurch der erreichbare Schärfungsgrad bei den ersten Paukendonnern besonders groß ausfällt. Im Seitengedanken findet der Dirigent einen guten Mix aus Eleganz und Witz, und generell liegt das Energie- und das Dramatiklevel im Fortgang schon relativ hoch, wobei die Spielsicherheit auch hier hohe Werte aufweist, was ein paar Problemfälle, etwa den etwas schrägen Satzschluß, nicht ausschließt.
„Andante cantabile, con alcuna licenza“ steht über dem zweiten Satz. Das gibt Kim die Option, den Streicherteppich temposeitig mal wieder weit unten auszurollen, während sich klangschöne Hörner darauf räkeln und die Celli eine beseelte Wiederkehr der Hörnermelodie hinlegen. Aber auch hier ist das klangliche Unheil nicht weit und der große Ausbruch daher recht niederschmetternd, was natürlich so sein muß, ebenso wie die emotionale Anspannung im Fortgang nach dem großen Zusammenbruch. Unter den guten Einzelleistungen muß noch der zauberhafte Klarinettenton im Satzschluß hervorgehoben werden, und die Spannung kann nicht mal durch einen Erkältungsausbruch im Publikum getötet werden.
Wenn Kim schon bei übersichtlichen Tempi ist, bleibt er im dritten Satz, einem Allegro-moderato-Walzer, natürlich auch dabei – aber das zugleich schwingend hinzubekommen ist gar nicht so einfach, wird aber vom Orchester ebenso problemlos gemeistert wie der Übergang in eher spukhaftes Geschehen. Das wiederum kontrastiert prima mit dem Andante-maestoso-Auftakt des Finalsatzes – den läßt Kim tatsächlich majestätisch spielen und versieht ihn mit einer Art dunklem Glanz. Geschicktes dynamisches Manövrieren auf kleinem Raum leitet zum Allegro-vivace-Hauptteil, vom sehr bewegungsintensiv arbeitenden Dirigenten zwar zügig, aber nicht überhastet in Szene gesetzt, zumal die offbeatartigen Strukturen schneller wirken, als sie eigentlich sind. Auch auf hohem Dynamiklevel sind noch kleine Variationen möglich, wobei sich Kim entscheidet, die Themenwiederkehren am Ende zwar mit viel Breite, aber nicht mit viel Größe ausstatten zu lassen, trotz unverkennbaren Hymnenfaktors. Aber der große Triumph bleibt in seiner Lesart hier aus, und folgerichtig gibt es am Ende auch keine Steigerung mehr, was das Publikum natürlich nicht davon abhält, in verdienten Jubel auszubrechen.

In früheren Jahren war bei den Konzerten des Leipziger Universitätsorchesters immer noch eine humoristische Zugabe Pflicht, später dann nur noch eine Zugabe ohne humoristische Einlagen, bis es im Sommersemesterkonzert 2023 gar keine Zugabe mehr gab. Die beiden 2024er Konzerte hat der Rezensent verpaßt, kann zur damals geübten Praxis also nichts sagen und ist daher angenehm überrascht, dass diesmal wieder eine Zugabe gespielt wird, wenngleich keine humoristische, sondern der Valse lente aus dem 1. Akt von „Coppélia“ aus der Feder von Léo Delibes. Dafür besticht dieser Walzer mit großer Eleganz, und diesen Groove mit einem riesig besetzten Laienorchester hinzubekommen ist alles andere als einfach, klappt an diesem Abend aber bestens und rundet das Bild eines gelungenen Konzertes ab.


Roland Ludwig



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