Ritter mit Laserwaffen: Gewandhausorchester und Boston Symphony Orchestra vereinigen sich für Schostakowitschs Siebente in Leipzig




Info
Künstler: Gewandhausorchester & Boston Symphony Orchestra

Zeit: 23.05.2025

Ort: Leipzig, Gewandhaus, Großer Saal

Fotograf: Gert Mothes

Internet:
http://www.schostakowitsch-leipzig.de
http://www.gewandhausorchester.de
http://www.bso.org

In einem Sinfoniekonzert sitzen gemeinhin Menschen auf der Bühne, die zusammen ein Orchester bilden. Mal tun sie das dauerhaft in identischer oder zumindest ähnlicher Konstellation, mal nur projektweise. Beim Schostakowitsch-Festival Leipzig finden sich Beispiele für beide Herangehensweisen: Das Gewandhausorchester spielt Konzerte, das Boston Symphony Orchestra auch – das Festivalorchester hingegen, bestehend aus Nachwuchskräften der Akademien beider Orchester, ist ein Projektklangkörper, der nur für dieses Festival ins Leben gerufen wurde und sich danach (wahrscheinlich) wieder aufgelöst haben wird.
Es gibt aber noch eine weitere Variante, und die wird in der zweiten Festivalwoche bei den insgesamt drei Aufführungen von Dmitri Schostakowitschs wohl bekanntester Sinfonie, der 7. in C-Dur op. 60, der sogenannten Leningrader, praktiziert: Das Gewandhausorchester und das Boston Symphony Orchestra verschmelzen zu einem einzigen Klangkörper. Das war vor einigen Jahren, als die Leipziger in Boston zu Gast waren, schon mal praktiziert worden – hier in Leipzig hat ein solches Projekt aber Neuigkeitenwert. Nun ist diese Sinfonie bekanntlich riesig besetzt, so dass sich ein solches Projekt gerade bei ihr anbietet, und der entstehende Klangkörper ist dann so groß, dass die vorderen Sitzreihen links und rechts zwecks Vergrößerung der Bühne abgebaut werden müssen. Obwohl Andris Nelsons im normalen Spielbetrieb Chef beider Orchester ist, bleibt allerdings eine interessante Frage, in welcher Richtung er das Kombiorchester klanglich lenken wird, gibt es da doch ein paar grundlegende Unterschiede, die etwa erst eine Woche zuvor in Gestalt der extrem schrillen Elften mit den Amerikanern offen aufs Tapet gehoben wurden – die hatte Nelsons dreieinhalb Jahre zuvor mit dem Gewandhausorchester an gleicher Stelle in deutlich weniger grellem Klangbild gespielt.

Vorab geeinigt hat man sich erstmal über den Einzug – der findet gemeinschaftlich statt wie beim Gewandhausorchester üblich, nicht individuell wie bei den Bostonern. Auch über die Orchesteraufstellung mußte man sich einig werden, da das Gewandhausorchester die deutsche Aufstellung mit den Kontrabässen aus Publikumssicht links außen spielt, das Boston Symphony Orchestra aber die amerikanische mit den Kontrabässen rechts außen. Hier ist die Entscheidung für die deutsche Aufstellung gefallen.

Der Rezensent sitzt diesmal nicht direkt mittig wie eine Woche zuvor, sondern etwas nach links versetzt, also näher an den ersten Geigen, aber auch an den Kontrabässen, was erstmal keine Prognose fürs zu erwartende Klangbild ermöglicht. Das Konzert wird jedenfalls fürs Fernsehen gefilmt – daher offenbar die orangerote Anstrahlung des Orgelprospektes, die mit ihrem „Feuerschein“ perfekt zum kriegerischen Thema der Sinfonie paßt. Die Kamera links außen an der Bühne fährt allerdings häufig hin und her, und es dauert sehr lange, bis der Rezensent gelernt hat, das zu ignorieren. (Die Fotos stammen von der dritten Aufführung am Folgeabend, mit anderer Beleuchtung und ohne Kameras.)

Nicht ignorieren kann man auch den Fakt, dass zumindest am vom Rezensenten miterlebten zweiten Abend, an dem das Kombiorchester live spielt, die das Allegretto eröffnenden Streicher-Unisoni ein wenig brauchen, bis die Spieler komplett im Gleichklang sind. Nelsons läßt den Klang eher in die Breite als nach vorn gehen, was speziell dem ruhigen Seitenthema nützt. Hier breitet sich tatsächlich ein komplett unironischer Frieden aus, gekrönt von exzellenten Einzelleistungen aus den Bläsern und von Konzertmeister Frank-Michael Erben. Aber wir wissen natürlich, dass der Frieden nicht bleibt: Die das Invasionsthema ankündigende Kleine Trommel holt Nelsons anfangs aus dem Nichts, die Schichtung verläuft planmäßig, wobei der Dirigent immer wieder an Details feilt wie etwa am Übergang von Durchgang 4 zu 5. Aber zwei andere Dinge überraschen. Zum einen wechselt das Invasionsthema bekanntlich durch die verschiedenen Instrumentengruppen, und zumindest an diesem Abend kommt es mehrfach vor, dass es von den Begleitinstrumenten klanglich in den Schatten gestellt wird – eine Balancevariante, die der Rezensent in dieser Sinfonie so noch nie gehört hat. Zum anderen aber kommt hier kein Panzer angerollt, sondern ein Ritterheer aus Individualkämpfern angeritten – ob das so Absicht war oder sich aufgrund der Zusammensetzung des Orchesters so ergeben hat, kann nicht entschieden werden, aber das Ergebnis fügt dem Kanon dieser Sinfonie einen interessanten Beitrag hinzu. Normalerweise muß man sich nach einer guten Aufführung dieses ersten Satzes so fühlen, als sei ein Panzer über einen hinweggerollt, aber Michael Sanderling hatte 2012 mit der Dresdner Philharmonie gezeigt, dass das auch anders gehen kann: Im (alten) Kulturpalast driftete der Klang baulich bedingt extrem in die Breite, so dass die Wucht eines Panzers nur schwer darstellbar gewesen wäre – statt dessen wurde man dort von einer Laserwaffe in Scheiben geschnitten. So etwas haben die Ritter im Gewandhaus an diesem Abend offenbar auch, denn noch im größten Getümmel bringt Nelsons eine erstaunliche Transparenz zuwege, und trotzdem fühlt sich der Hörer quasi physisch bedrängt und angegriffen – eine erstaunliche Kombination. Vom Schrillheitsfaktor her dominiert hier allerdings die Boston-Strategie, freilich nur kurz – aus dem Fagott kommt ein stimmungsvoller Trauergesang, die zehn (!) Kontrabassisten streicheln die Seele des Hörers völlig unironisch, und das Invasionsthema verschwindet im Satzschluß wieder ganz hinten, wo Nelsons es halb hingehockt verbannt.
Im Moderato entwickelt der Lette einen eigenartigen Mix aus Eleganz und latenter Schärfung, der lange dahinlaviert, ehe ein Schostakowitsch-typischer Zirkusmarsch für groteske Momente sorgt und die folgenden kammermusikalisch inspirierten Passagen beide Welten auf noch seltsamere Weise verbinden. Das behutsame Finale führt wieder zu einer Art Frieden zurück.

Das Adagio nimmt Nelsons in einer pseudosakralen Weise, bevor er lange durch spätromantische Landschaften mäandert – sozusagen eine späte Antwort auf Bruckner. Die Dramatisierung dauert lange, die Intensität liegt planmäßig weit unter der im 1. Satz, und der lange Schlußteil pendelt zwar wieder in Richtung Frieden, kommt dort aber nicht an, da ein permanenter Unterton bleibt. Quasi „endlose“ Unisoni münden in getupfte Dunkelheit.

Das Allegro-non-troppo-Finale hängt quasi attacca an und läßt den Hörer lange im unklaren, in welche Richtung es sich bewegen wird, ehe es in geschickter Weise dramatisiert wird. Dass Nelsons auch diesen Kampf in beeindruckender Klangtransparenz von der Bühne schallen lassen würde, war zu vermuten und trifft dann auch ein. Dass die Intensität abermals unter der von Satz 1 liegt, muß auch so sein. Die erste Überraschung kommt mit der Klangwelt an sich – die Schrillheits-Strategie gehört nämlich der Vergangenheit an, der von Nelsons geleitete Kampf findet in den Klangtiefen statt: Eindrucksvolle Tiefstreicherwelten breiten sich mehrdimensional aus und helfen auch bei der Wahrnehmung der zweiten Überraschung. Der Dirigent hat nämlich aus dem Heer von Einzelrittern einen Kampfverband geschmiedet. Die Wiederkehr des ersten Themas aus Satz 1 nimmt der Lette wunderbar ätherisch, aber die Tiefe gewinnt gleich wieder: Die große Finalsteigerung mündet in eine breite Schlußfeierlichkeit mit einigen planmäßigen Mißtönen (die Ann-Katrin Zimmermann im Programmhefttext genauer unter die Lupe nimmt), und das Ganze bewegt sich mit enorm ansteigender Spannung in unerbittlicher Weise und schleppendem Tempo auf das Ende zu, das der Rezensent wieder einmal mit einer Becker-Faust „kommentiert“. Freilich hat nicht jeder Besucher die Spannung des gesamten Riesenwerkes so in sich aufnehmen können – selten hat der Rezensent in seiner Umgebung so viele Menschen sitzen gehabt, die in gewissen Abständen auf die Uhr blicken (ca. 80 Minuten sind im Programmheft angekündigt, Nelsons braucht 85, also gar nicht so viel länger – da hat er anderweitig schon deutlich stärker „überzogen“). Aber das Gros der Anwesenden bricht sofort in Jubel aus, wobei der Schlagwerker an der Kleinen Trommel den lautesten Einzelapplaus bekommt. Eine hochinteressante Deutung dieses Werkes – ob man sie so einmal wiederhören wird?


Roland Ludwig



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