Cage, J. (Klava, S.)

Werke für Chor


Info
Musikrichtung: Neue Musik Chor

VÖ: 03.06.2022

(Ondine / NAXOS / CD / DDD / 2007 u. 2020 / Best. Nr. ODE 1402-2)

Gesamtspielzeit: 66:50



ANARCHISCHE HARMONIE

John Cage als Chorkomponist? Originäre Werke für diese Besetzung gibt es in seinem Schaffen nur wenige, dafür dürfte ihm der klassische Chorgesang auch zu harmoniebetont gewesen sein - und für Harmonie hatte Cage nach Ausweis seines Lehreres Arnold Schönberg bekanntlich keine Begabung. Da stehe er vor eine Wand! Cages berühmte Antwort: Dann werde er eben für den Rest seines Lebens mit seinem Kopf gegen diese Wand schlagen!
Bekanntlich tat er dies mit einer Musik, die auch das Geräusch einbezog und durch Zufallsoperationen den Komponisten als Entscheider mehr oder weniger suspendierte. Cage schuf zahllose Werke aus isolierten Einzelereignissen, ganz ohne Harmonie als Klebe- und Bindemittel. Politisch gesprochen: Der Sieg des Individuums über den Systemzwang. Ein sehr amerikanisches Verständnis von Avantgarde!

Erst ab den 1980er Jahren, in seinen späten Number-Pieces, durchbrach Cage die Wand und fand zur Harmonie, wenngleich auf seine eigene, anarchische Weise. Notiert sind die rund 40 Stücke für verschiedene Besetzungen, die vom Solo bis zum großen Orchesterwerk reichen, in Form von "Timebrackets" (Zeitklammern). Diese geben für bestimmte Töne oder Ereignisse einen möglichen frühesten Einsatzzeitpunkt und das spätest mögliche Ende an. Innerhalb dieses Rahmens entscheidet der Interpret, wann er beginnen und schließen möchte und ob er die Töne lange aushält (dann sind diese leise zu intonieren) oder innerhalb des zur Verfügung stehenden Zeitraums nur kurz anspielen möchte (dann dürfen sie auch lauter erklingen). Je nach Stück variieren diese einfachen Basisregeln.

Im Zusammenklang können sich, ganz nebenbei, auch harmonische Konstellationen ergeben. Aber ohne jemals funktional zu werden und das Stück in eine bestimmte Richtung zu entwickeln. Sehr schön kann das klingen, zart, schwebend, irisierend. Davon kann man sich auf dieser neuen Aufnahme einiger Number-Pieces überzeugen. Dabei hat der Litauische Radiochor unter der Leitung von Sigvards Klava die Besetzungsspielräume in den Vorgaben genutzt. „Five“, für fünf Ausführende, kann auf verschiedenen Instrumenten gespielt, aber ebenso gesungen werden. „Four2“ sieht ausdrücklich einen gemischten vierstimmigen Chor vor. „Four6“ ist für jegliche Art von Klängen offen, je Part werden 12 Klangformen vorher wie Vokabeln festgelegt und dann innerhalb der jeweils vorgesehenen Zeitklammer realisiert.
„Five“ und „Four2“ sehen durchgehaltene Klänge und weiche Übergänge vor. So ergeben sich lange Drones, die die harmonische Vertikale noch einmal besonders auskosten. Dank der stupenden stimmlichen Fähigkeiten und der Lust, mittels Obertöne und andere Verfeinerungen weitere Farben und Schattierungen ins Geschehen zu mischen, entstehen betörend schillernde Klangbänder, die alte und neue Vokalpolyphonie gleichermaßen transzendieren. Man ist schlicht betört!
Aber auch der Humor, das leicht Schräge hat seinen Platz, wie in Four6. Hier wählen die SängerInnen verschiedene Vokalisationen, Nonsenssilben, glissandierende Töne … und nutzen die gegebenen Zeitrahmen ebenfalls weitgehend aus, so dass sich ein kontinuierliches, exotisches Klanggeschehen ergibt, das mit etwas Fantasie an das Fieldrecording eines außerirdischen Biotops denken lässt. Dieser Eindruck stellt sich insbesondere dann ein, wenn man die Musik nicht zu laut aus einer gewissen Distanz hört.


Schließlich gibt es noch ein Werk auf dieser Platte, das nicht zur Serie der Nummern-Stücke gehört: „Hymns and Variations“ (1979). Da hat Cage zwei alte amerikanische Kirchenlieder bearbeitet, sprich: Er hat aus dem vierstimmigen harmonischen Choralsatz mit Zufallsoperationen Teile subtrahiert.
Durch die fehlenden Noten und Stimmen entsteht ein eigenartiger Effekt: Die Fragmente bewahren die Aura, den "Smell" (Cage) des Originals, der Ursprung lässt sich aber nicht mehr so einfach erkennen. Vielmehr schweben die Choralfragmente wie Teile eines großen Mobiles im Raum. Relikte des Religiösen, aber durchaus meditativ. Man spürt die Verbindungen dieser Teile mehr als das man sie wirklich hört, auch wenn Cage isolierte Töne oft verlängert hat, so dass sich drone-artige Brücken und vorrübergehende Harmonisierungen ergeben. Die führen aber nirgendwo hin.

Der Chor sorgt bei allen Werken für eine sinnlich-suggestive Qualität, die selbst Cage-Verächter in den Bann schlagen dürfte.



Georg Henkel



Trackliste
Five, Four2, Four6, Hymns & Variations
Besetzung

Latvian Radio Choir

Sigvards Klava, Leitung



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