Marillion

All One Tonight – Live At The Royal Albert Hall


Info
Musikrichtung: Progrock

VÖ: 27.07.2018

(earMUSIC / Edel)

Gesamtspielzeit: 149:04

Internet:

http://www.marillion.com


In der ehrwürdigen Royal Albert Hall spielt man nicht alle Tage, und so verwundert es nicht, dass Marillion ihren dortigen Gig vom 13.10.2017 aufgezeichnet und in ihrer Eigenproduktions-Release-Serie über ihr Label Racket Records mit der Katalognummer 62 veröffentlicht haben. Ausgewählte dieser Releases finden aber auch noch den Weg auf den „regulären“ Markt, und angesichts der strukturellen Bedeutung des Gigs war die Wahl genau dieses Materials mehr als nur nachvollziehbar, zumal das Haus offensichtlich ausverkauft war, wie die Fotos im Booklet unter Beweis stellen, während die im Digipack und auf den beiden CDs das leere Gegenstück zeigen und zudem ein Bild offenbar von einer Probe stammt, wo im Parkett genau ein Mensch sitzt.
Für solche speziellen Events bereiten Marillion gern spezielle Setlisten vor, und das taten sie auch diesmal. Wer den Livemitschnitt A Sunday Night Above The Rain vom Marillion-Wochenende in Port Zélande am 10.3.2013 kennt, weiß, dass sie dort ihr damals aktuelles Studioalbum Sounds That Can’t Be Made komplett aufgeführt haben – eine Maßnahme, die sich beileibe nicht jede Band erlauben kann. Als Marillion-Anhänger ist man solche Aktionen allerdings gewöhnt bzw. erwartet sie von dem eigensinnigen Quintett in gewisser Weise sogar – und dass die Briten auf ihre Achtziger-Hits „Kayleigh“ und „Lavender“ fast durchgängig zu verzichten pflegen, weiß man auch. Nun setzten sie für den Gig in der Royal Albert Hall abermals eine Komplettaufführung ihres aktuellen Studioalbums an. Selbiges trägt den schönen Titel Fuck Everyone And Run (kurz F.E.A.R.) und könnte rein theoretisch dafür sprechen, dass Marillion das musikalische Lager gewechselt und in den Punkrock übergelaufen wären – aber wer das ernstlich vermutet, glaubt wahrscheinlich auch an den Weihnachtsmann, und selbst derjenige müßte nach einem Blick auf die Tracklist ernsthafte Zweifel bekommen, stehen doch dort nur sechs Songs verzeichnet, von denen drei suitenartige die Viertelstundengrenze weit hinter sich lassen, zwei die Sechs- bzw. Siebenminutenmarke auch noch knacken und lediglich das weniger als zweiminütige „Tomorrow’s New Country“ eine punkrockkompatible Länge aufweist, sich aber als sanftes Outro entpuppt. Also nix Punkrock, statt dessen nichts entscheidend Neues im musikalischen Marillion-Kosmos, und das ist in diesem Falle auch gut so.
Einen markanten Unterschied zu 2013 gibt es allerdings: Damals hatte die Band die acht Sounds That Can’t Be Made-Songs im Set verstreut und die fünf weiteren Nummern untergemischt – diesmal wird F.E.A.R. im ersten Set am Stück gespielt, und die acht weiteren Nummern kommen dann als zweiter Set hinterher, ergänzt als letzte Zugabe noch um eine in gewissem Sinne erweiterte Reprise des Finales vom neuen „The Leavers“. Das tut dem Publikumszuspruch erwartungsgemäß ebensowenig einen Abbruch wie der Umstand, dass bei einer chronologischen Aufführung des neuen Albums mit „El Dorado“ einer der urlangen Brocken gleich am Anfang steht und man nach dem Auftrittsapplaus erstmal fast 20 Minuten warten muß, bis man wieder applaudieren darf. Zudem ist diese Nummer durchaus nicht die dynamischste des neuen Albums – aber auch das stört nicht: Marillion lassen den Song in einem für sie urtypischen Stil einfach fließen und streuen nur hier und da mal Andeutungen bombastischer Größe ein, die sie mit der einen oder anderen Verharrung zu einem durchaus abwechslungsreichen und trotz nicht überbordender Dynamikwerte alles andere als langweiligen Ganzen legieren. Das wird vom Publikum zweifelsohne goutiert, ist aber noch nichts im Vergleich zu dem, was dann in „Living In F E A R“ passiert: Drummer Ian Mosley nimmt für Marillion-Verhältnisse relativ viel Fahrt auf, und der große Refrain wird vom Auditorium nicht nur begeistert mit den beiden Füllwörtern „Yeah, Yeah“ ergänzt, sondern einige Enthusiasten singen das nach dem Ende des Songs weiter. Anfangs hört man sie kaum, aber es werden immer mehr, bis nach etlichen Durchläufen Sänger Steve Hogarth aka h dem weiteren Gesang mit der Aufforderung „Enough!“ einen Riegel vorschiebt und Keyboarder Mark Kelly unmittelbar darauf mit dem Piano-Intro von „The Leavers“ beginnt. Zum Glück ist man weit davon entfernt, h oder der Band das als Arroganz auszulegen: h hat die Anwesenden schon nach „El Dorado“ begrüßt, man ist also gegenseitig auf „Betriebstemperatur“, und zum Mitsingen gibt es im zweiten Set noch ausreichend Gelegenheiten. „The Leavers“, der längste Song des neuen Albums, eignet sich hierfür nur bedingt, aber dafür stellt man spätestens hier zufrieden fast, dass sich h gesanglich in guter Form präsentiert, jedenfalls was seine archetypischen Mittellagen angeht – Extreme erreichen muß er im neuen Material ja kaum. Dafür entdeckt man hier songwriterische Überraschungen wie den völlig unvorbereiteten Dynamikausbruch vor Minute 12, der damit in einem markanten Gegensatz zu seinen beiden „Brüdern“ in der weiteren Spielzeit dieses Songs steht, die jeweils nach einer logisch anmutenden Hinleitung stehen und diese sozusagen krönen. Im Finale des Songs erhöht Mosley dann auch die Schlagzahl markant, freilich nicht die des in überschaubarem Midtempo verbleibenden Grundbeats, sondern die der Snare-Fills, die auch an Stellen kommen, wo man sie nicht zwingend erwarten würde. Was bei den ersten Durchläufen vielleicht noch eigentümlich anmutet, normalisiert sich im Höreindruck bald, und es muß somit kein Altfan der Band Herzrhythmusstörungen befürchten. Wen dieser Teil doch zu sehr aufgeregt haben sollte, der kann sich ja dann in den ersten zwei Minuten von „White Paper“ wieder beruhigen, das sich bis dahin als sanfte Pianoballade geriert, garniert mit ein wenig Vogelgezwitscher im Hintergrund – bis, ja, bis Mosley abermals einen nervös wirkenden Rhythmus spielt, freilich nicht für lange, denn dann entspinnt sich klassischer Midtempo-Progrock mit für Neu-Marillion-Verhältnisse relativ viel Zug zum Tor, wo nur gelegentlich Rhythmusverschiebungen und weitere Fills lauern, während man ansonsten quasi von einer Art Hit sprechen müßte, wenn es denn irgendwelche eingängigeren Passagen gäbe, was hier indes nicht der Fall ist. Den gibt es dafür mit dem ersten Teil von „The New Kings“, wo sich der in volle Worte verwandelte Albumtitel als eine Art Refrain findet, h zudem in die Nähe seiner aktuellen stimmlichen Obergrenze führend – ob der ätherische Eindruck, den die Höhenlagen hinterlassen, Absicht oder technische Notwendigkeit war, soll hier nicht weiter diskutiert werden. Kellys feister Orgelprinzipal weiß hier jedenfalls genauso zu begeistern wie die Spannungserzeugung im verschleppten Teil um Minute 5 herum und der große Bombastpart, der vor Minute 10 anhebt, von Gitarrist Steve Rothery mit einer seiner typischen sehnsuchtsvollen Leadgitarrenlinien angeführt wird und schließlich in simple Pianoklänge mündet, bei denen man einen Moment gespannt wartet, ob der scheinbare Klangtribut an das Intro von Pink Floyds „High Hopes“ noch weitergeht – er tut es nicht, sondern verschwindet so blitzartig wieder, wie er gekommen ist. Nach einigen Minuten Geplänkel ist man fast erschrocken, wenn Rothery nach Minute 13 aus dem Nichts kommend das heftigste Riff des ganzen Albums ins Rund schleudert und sich schrittweise das dramatische Finale entwickelt, h mit der Frage „Why is nothing ever true?“ in verzweifelte Sphären führend. Und was für ein ansatzloser und doch genialer Tempowechsel ist das bei 15:53! „Tomorrow’s New Country“ stellt dann wie bekundet ein sanftes Outro dar, h über Pianoakkorden zu zurückhaltenden Gitarrenklängen in ätherische Höhen entschweben lassend und irritierenderweise den hiernach zu erwartenden Applaus wegschneidend, obwohl CD 1 nur knapp über 72 Minuten dauert, also noch problemlos Platz geblieben wäre.
CD 2 bietet sechs musikalische Gäste auf: Wenn man schon in einem klassischen Musentempel spielt, erscheint die Einbeziehung klassischer Musiker mehr als logisch, und schon im Intro von „The Space“ hören wir das Streichquartett In Praise Of Folly, das den ganzen Set durch im Einsatz bleibt, während Hornist Sam Morris und Flötistin Emma Halnan nur sporadisch ins Geschehen eingreifen. Die Aufgabe, eine Live-Kombination von klassischen und rockenden Musikern akustisch transparent zu gestalten, gehört nicht gerade zu den leichten, aber in diesem Kontext dürfen sich Marillion bzw. speziell Michael Hunter, der nicht nur für Aufnahme und Mix, sondern auch für die Arrangements der Parts der sechs klassischen Musiker verantwortlich zeichnet, gutschreiben lassen, speziell dem Streichquartett viel akustischen Raum zu gönnen, so dass die vier Musikerinnen ihre Stärken einbringen können und nicht einfach nur hübsche Staffage darstellen. Das betrifft beileibe nicht nur die entspannteren Teile, sondern auch etwa den großen Bombastpart von „The Space“, wo die Quartettmusikerinnen fleißig mit am Sägen sind. Hier stößt h am Ende, als er versucht, die Höhen nicht ätherisch, sondern dramatisch zu gestalten, an seine aktuellen stimmlichen Grenzen, aber das stört nicht weiter – den Hörer zu Hause nicht und das lauthals jubelnde Publikum ebenfalls nicht, das sich auch begeistert äußert, als es das Keyboardintro des nächsten Songs erkennt: Es folgt der Titeltrack des 1995er Afraid Of Sunlight-Albums, geraume Zeit eher laid back, dann aber Energie fassend, nachdem das Publikum abermals Gelegenheit zum Mitsingen bekommen hat. Und diese Energie macht in Verbindung mit dem leicht orchestralen Anstrich den zweiten Teil des Songs zu einem speziellen Ereignis. Dass auch die Marillion-Musiker nur Menschen und keine Maschinen sind, demonstrieren h und Kelly beim etwas zu nervösen Einstieg in „The Great Escape“, mit dem sich die Band wieder ein Album rückwärts bewegt – der Song ist eines der Glanzlichter vom 1994er Brave-Konzeptwerk und der Ausbruch rings um Minute 2 samt verzweifeltem Geschrei von h der dramatische Gipfelpunkt der bis dahin erklungenen mehr als anderthalb Stunden Musik. Wenn man F.E.A.R. eins vorwerfen kann, dann die Abwesenheit eines solchen dramatischen Gipfelpunktes, auch wenn eine simple Wiederholung natürlich auch nicht im Sinne des Erfinders und wegen des Konzeptcharakters von Brave vielleicht auch gar nicht möglich gewesen wäre. In „The Great Escape“ setzt jedenfalls auch die Flötistin erstmals markante Akzente, und über Rotherys Gitarrenarbeit hier noch lobende Worte zu verlieren hieße das sprichwörtliche Bier nach Bayern zu exportieren. Der Jubel nach den reichlich sechs Minuten Musik ist jedenfalls der bisher lauteste des zu hörenden Mitschnitts, und h nutzt die Gelegenheit zur Vorstellung der klassischen Musiker (mit schelmischem Humor, wenn er der jungen Flötistin den nicht mehr so jungen, aber trotzdem gutaussehenden Hornisten gegenüberstellt), bevor der neben „The Space“ älteste Song des Sets erklingt: „Easter“ von hs Antrittsalbum bei Marillion, Season’s End aus dem Jahr 1989, das damit als einzige Scheibe (außer F.E.A.R. natürlich) mehr als einen Song zur Setlist beisteuern darf. Schon das sanfte Flötenintro beweist, dass die Hinzunahme dieses Instruments als Gewinn zu werten ist, und das Publikum läßt sich die Gelegenheit zu ausgiebigem Mitsingen abermals nicht entgehen, wenngleich man auch hier h wieder beim Hochgleiten an Grenzen stoßen hört. Stört das? Abermals nein! Mit „Go!“ springt die Band anschließend zehn Jahre nach vorn, bleibt aber immer noch im letzten Jahrtausend – der Song stand auf dem 1999 erschienenen marillion.com-Album und plätschert lange Zeit eher unauffällig dahin, bevor auch er an Dramatik zulegt, es aber letztlich nicht ganz in die Unverzichtbar-Kategorie schafft, glaubt man. Aber dann singen wieder ein paar Enthusiasten die „Runaway“-Passagen des dramatischeren Parts weiter, und diesmal steigen h und Kelly drauf ein und jammen noch ein Minütchen weiter – das sind die Momente, in denen auch aus scheinbarem Durchschnitt noch Großes werden kann, wenn auch nicht ganz Großes. Das nämlich bleibt „Man Of A Thousand Faces“ vorbehalten, in dem vom Gitarrenintro an durchgängig viel Leben herrscht, Kelly ein furioses Klaviersolo spielt und h das Ganze mit einem fast an Erzählen gemahnenden und doch melodisch bleibenden Gesang krönt. Und was dann ab Minute 4 passiert, ist mit Worten sowieso kaum noch zu beschreiben – Dramatik, Spannung und pure Spielfreude münden in „Yeah-Yeah“-Gesangslinien, die trotz überschaubarer Variationsbreite absolut nichts mit der Ulbrichtschen sprichwörtlichen Monotonie zu tun haben und den Energietransport auf neue Spitzenwerte treiben, zudem vom Publikum auch nach dem Songende wieder unbefugt weiterformuliert werden. So wird der Opener vom 1997er This Strange Engine-Album zu einem hochklassigen Closer des regulären Sets – aber dabei bleibt es natürlich nicht. Interessanterweise bietet der Zugabenblock die beiden einzigen Überschneidungen mit dem Set von A Sunday Night Above The Rain: Die fünf dort eingestreuten älteren Songs wurden als „rare fan favourites“ angekündigt, und der Rezensent hat Marillion zwar noch nie live gesehen und auch keine allumfassenden Recherchen bezüglich der Setlisten der Folgejahre angestellt, aber auffällig ist es schon, dass der Zehnminüter „Neverland“ auch 2016 in Berlin live gespielt wurde, noch dazu auch damals an markanter Position, nämlich als letzter Song des regulären Sets (dem danach noch ein etwas überraschender Zugabenblock aus „Ocean Cloud“, das auf der weit verbreiteten Einzel-CD-Version des Marbles-Albums gar nicht vertreten gewesen war, und Misplaced Childhood-Hits folgte). Auch in weiteren Setlisten seit 2004 tauchte die Nummer mit einer gewissen Regelmäßigkeit auf, so dass der Terminus „rare fan favourites“ zumindest in diesem Falle mit einem gewissen Augenzwinkern zu verstehen sein dürfte. In der Royal Albert Hall gibt es als erste Zugabe „Waiting To Happen“ vom 1991er Holidays In Eden-Album (2016 nicht gespielt, 2009 und 2007 auch nicht, wohl aber 2013 und damals mit beeindruckenden Publikumschören, die 2017 allerdings eher schwachbrüstig ausfallen), bevor der Zehnminüter „Neverland“ den ersten Zugabenblock abschließt und das nochmal in enorm hochklassiger Manier tut. Interessanterweise handelt es sich, vom F.E.A.R.-Material abgesehen, um die einzige Nummer aus dem neuen Jahrtausend – sie schließt das 2004er Album Marbles ab, und sie steht diversen anderen Großtaten aus dem Füllhorn des schöpferischen Quintetts nicht nach. Statt dessen schneidet Rotherys Leadgitarrenlinie hier mal wieder Herzklappen durch, Mosley und Bassist Pete Trewavas lassen die Nummer unwiderstehlich fließen, und die flirrenden Streicher fügen ein willkommenes Extra zu Kellys Kunststreichern hinzu. Dass die letzte Minute Musik ein bißchen zu nervös anmutet – geschenkt. Schließlich kommt da noch der fünfte Teil von „The Leavers“ als letzte Zugabe, diesmal aber um die sechs klassischen Musiker erweitert, Flöte und Horn nochmal speziell in den Vordergrund rückend, während Mosley die Drumfills zurückfährt. Ein grandioses Finale für einen über weite Strecken grandiosen Gig, dessen zweieinhalb Stunden Musik völlig zu Recht konserviert wurden und weite Verbreitung finden sollten.
Wer neben dem reinen auditiven auch einen visuellen Eindruck gewinnen möchte, kann auch zur gleichnamigen Doppel-DVD greifen, über die Kollege Rainer Janaschke auf diesen Seiten schon einige Worte verloren hat. Dass es eine recht aufwendige Lichtshow gegeben haben muß, lassen aber auch die Fotos im Booklet der Doppel-CD sowie deren Cover schon erahnen.



Roland Ludwig



Trackliste
CD 1
1. El Dorado (18:53)
2. Living In F E A R (7:25)
3. The Leavers (19:43)
4. White Paper (7:42)
5. The New Kings (16:48)
6. Tomorrow’s New Country (1:46)

CD 2
1. The Space (8:27)
2. Afraid Of Sunlight (7:45)
3. The Great Escape (11:11)
4. Easter (7:05)
5. Go! (9:00)
6. Man Of A Thousand Faces (9:19)
7. Waiting To Happen (6:44)
8. Neverland (11:35)
9. The Leavers: V. One Tonight (5:38)
Besetzung

Steve Hogarth (Voc)
Steve Rothery (Git)
Mark Kelly (Keys)
Pete Trewavas (B)
Ian Mosley (Dr)



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