18 + 50 = 68: Das Bundesjugendorchester spielt anläßlich seines Halbjahrhundertbestehens auf der Jubiläumstour Varèse und Strauss in Leipzig




Info
Künstler: Bundesjugendorchester

Zeit: 27.04.2019

Ort: Leipzig, Gewandhaus, Großer Saal

Fotograf: Bundesjugendorchester, Selina Pfruener

Internet:
http://www.bundesjugendorchester.de

50 Jahre gibt es das Bundesjugendorchester bereits – Zeit zum Feiern, und das geschieht mit einer speziellen Jubiläumstour, auf der nicht nur die heutige Besetzung aus den hoffnungsvollsten musikalischen Talenten der Republik agiert, sondern sich unter diese auch einige Ehemalige des Orchesters mischen, was zu der Konstellation führt, dass Konzertmeisterin Carolin Grün an diesem Abend ihren 18. Geburtstag feiert (und von einigen Enthusiasten rechts oben im Publikum nach dem Konzert noch ein Happy-Birthday-Ständchen geschmettert bekommt), die Bratscherin Traute Schansker aber ihren 68., was bedeutet, dass sie im Gründungsjahr des Orchesters 18 geworden war. 142 Musikerinnen und Musiker sitzen bzw. stehen auf der Bühne, darunter immerhin gleich drei (!) Tubisten – die Publikumsplätze des Gewandhauses aber sind eher spärlich gefüllt: Unglücklicherweise spielt das Landesjugendorchester Sachsen sein aktuelles Projektkonzert am gleichen Abend im Haus Leipzig, nur zwei Steinwürfe vom Gewandhaus entfernt, und so muß der am Orchesternachwuchs interessierte Hörer wählen, welches der beiden Konzerte er besucht. Wer sich fürs Gewandhaus entscheidet, bekommt zunächst allerdings nicht die Musiker zu hören, sondern Bundesfamilienministerin Franziska Giffey, aus deren Etat das Orchester mit 1,4 Millionen Euro das Gros seiner jährlichen Förderung erhält. Giffeys Redenschreiber bringt zwar die seltsame These in Umlauf, in Leipzig hätten am 9. Oktober 1989 die Polizisten ihre Helme abgenommen und mit den Montagsdemonstranten geredet (das dürften allenfalls Einzelfälle gewesen sein, die Kommunikationsstruktur lief eher in der anderen Richtung, wie die erhaltenen, die Demonstranten zu gewaltfreier Kommunikation mit den Sicherheitskräften animierenden Aufrufe verschiedener an den Protesten beteiligter Gruppen dokumentarisch zeigen), aber die frohe Kunde ist eine andere: Nach dem Bundesjugendorchester und dem auch schon einige Jährchen alten Bundesjugendjazzorchester wird ihr Ministerium noch ein drittes Bundesauswahlensemble junger Musiker fördern, nämlich einen Bundesjugendchor, der 2020 seine Aktivitäten aufnehmen soll.

Für das Jubiläumsprogramm hat das Bundesjugendorchester zwei Riesenwerke des frühen 20. Jahrhunderts ausgewählt, die im Abstand von nur zehn Jahren entstanden sind und doch unterschiedlicher kaum sein könnten. Zunächst erklingt Amériques von Edgar Varèse, und zwar in der Urfassung von 1921 – dort besetzt der gebürtige Franzose tatsächlich die erwähnten 142 Planstellen, während eine spätere Überarbeitung mit einigen Musikern weniger auskommt. Aber
Foto: Selina Pfruener, 2018

die Erstfassung klotzt, statt zu kleckern, obwohl sie keineswegs im spätromantischen Bombast versinkt, sondern ironischen Brechungen ebenso Raum gibt wie lautmalerischen Effekten, mit denen sich der Europäer des frühen 20. Jahrhunderts das ferne Amerika, das er höchstens aus den Zeitungsspalten oder musikalisch von Dvoráks Sinfonie Aus der neuen Welt frugal kannte, vorzustellen versuchte. Unter den vierzehn (!) Schlagwerkern findet sich also z.B. einer, der eine Sirene zu bedienen hat (eine offensichtliche Rekurierrung auf den eben erst beendeten Ersten Weltkrieg, in den die Amerikaner nach Jahren des Zögerns dann doch noch eingegriffen hatten), und selbst vor einem Kazoo macht der Komponist nicht halt. Ein siebenköpfiges Fernorchester (vier Trompeter, drei Posaunisten) agiert hinter der linken Orgelemporentür, tritt zu einem späteren Zeitpunkt aber auch offen auf der Orgelempore in Erscheinung. Das etwas unter halbstündige Werk als Ganzes entpuppt sich als schräges Sammelsurium von Einfällen aller stilistischer Coleur und bildet auch damit die heterogene, aus Einwanderern vieler Länder zusammengesetzte amerikanische Gesellschaft ab. Trotz der stark besetzten Perkussion gibt es kaum Groove, selbst galoppierende Triumphpassagen bleiben episodenhaft, und Dirigent Ingo Metzmacher hat beileibe keine leichte Aufgabe, das riesige Orchester durch die nicht minder riesigen Wellenbewegungen des Stückes zu führen – aber er dirigiert sehr „rund“, fast entspannt wirkend und doch deutlich. Ob die drei völlig abstrus harmonisierten Orchesterschläge zum Schluß so geplant waren, wäre bei Gelegenheit anhand einer Vergleichsaufnahme nachzuhören, aber das Gesamtbild, so anstrengend es bisweilen auch zu hören ist, atmet in Konzeption wie Interpretation durchaus hochkarätige Luft und demonstriert einmal mehr, dass man jungen Musikern durchaus komplexe schwierige Werke zutrauen kann – eine Theorie, die bereits am 15.01.2007 Bestätigung gefunden hat, als der Rezensent das Bundesjugendorchester schon einmal erlebt hat, an gleicher Stelle übrigens: Da stand u.a. Einojuhani Rautavaaras Cantus Arcticus auf dem Programm, ein Schlüsselwerk der jüngeren Musikgeschichte, das die Musiker erstklassig wiedergaben (siehe Rezension auf www.crossover-netzwerk.de).
Foto: Selina Pfruener, 2018

Nach der Pause erklingt Eine Alpensinfonie op. 64 von Richard Strauss, komponiert 1911, also gerade einmal zehn Jahre vor Vollendung der Erstfassung des Varèse-Stückes und stilistisch doch so viel weiter von diesem entfernt wirkend, wenn man von einem zentralen, im Detail indes anders behandelten Faktor absieht: der Umsetzung von Eindrücken einer realen Umgebung in Tönen, hier einem alpinen Gipfelaufstieg, bei dem die Musikwelt vor das schwierige Rätsel der Reihenfolge der Aufstiegsbestandteile gestellt wurde, da die dickichtartige Bewaldung eigentlich viel zu hoch steht, während der Heimgarten, eine der Inspirationsquellen des Komponisten, nicht vergletschert ist. Sei’s drum: Der Aufstieg beginnt nächtens im Tal bei vom Orchester gut umgesetzter Nachtstimmung, wenngleich das Fagott den Anfang versägt und auch der Tiefblechchoral wackelt. Aber die Musiker fangen sich schnell wieder, Metzmachers Hinführungsstrategie im Hellwerden gelingt gut und endet in einem triumphalen Sonnenaufgang. Von da an dominiert jugendlicher Elan – über die Mühen des Aufstiegs setzen sich die Musiker locker hinweg und eilen freudig den lichten Höhen entgegen, bekommen aber auch das Bachplätschern so gut dosiert hin, dass man eben wirklich einen friedlich dahinplätschernden Bach assoziiert und kein extremes Wildwasser mit Vernichtungspotential. Ein Fernorchester kommt auch hier zum Einsatz, der Klangeindruck ist aber ein weiter entfernter als bei Varèse, und die Kuhglocken atmen sogar extra Räumlichkeit, denn nur eines der drei Instrumente steht auf der Bühne, die beiden anderen hingegen hinten in den Rängen. Die Durchdringung des Dickichts am Gletscher läßt selbst den jugendlichen Elan ein wenig erlahmen – auch das ein brillantes Detail, bevor sich die Aussicht weitet, also die Musik dramatisiert und man letztlich mit einem breiten Grinsen am Gipfel ankommt, übrigens ohne Hurra-Effekt, denn selbst der Orgeleinsatz bleibt im Bombastfaktor zunächst überschaubar, und erst allmählich macht sich der Triumph breit, wenn man die umliegende Landschaft betrachtet und feststellt, dass die Gipfelbrotzeit schmeckt. Über den Sicherheitsaspekt, dass Strauss seinen Protagonisten das langsam heranziehende Gewitter am Gipfel oder zumindest in dessen Nähe aushalten läßt, anstatt weniger gefährliche Lagen aufzusuchen, soll hier nicht diskutiert werden (die erwähnte Heimgarten-Besteigung soll 1879 mit einer Verirrung des Komponisten einhergegangen sein, der dann prompt auch noch in ein Unwetter geriet) – dass die jugendlichen Musiker in die Darstellung des Gewitters viel Energie legen würden, konnte man sich vorher ausrechnen, und das tun sie dann auch: Zwei Windmaschinen sind im Einsatz, ihre Spieler kurbeln intensiv, und trotzdem hört man ihre Geräusche bisweilen nicht. Metzmacher schafft es
Foto: Selina Pfruener, 2018

dennoch, die Spannung des heranziehenden Unwetters kongenial zu dramatisieren, und der Choral nach dem Unwetter ist einfach nur noch als schön zu bezeichnen, zumal Horn und Trompete über der Soloorgel butterweich agieren. Die Spannung im Abstieg durchzuhalten ist keine leichte Aufgabe, aber Metzmacher und das Orchester finden auch hierfür eine gute Lösung, und die Nacht, in der unser Protagonist wieder in bewohnten Gebieten eintrifft, fällt nicht gar zu finster aus. Ein Schlußbier gönnt Strauss seinem Helden übrigens nicht, dafür werden die Beteiligten für ihre Leistung mit viel Applaus belohnt, auch die Familienministerin springt gleich nach dem Schlußton begeistert auf. Die metaphysische Deutungsebene des Werkes im Sinne Nietzsches soll hier nicht weiter erörtert werden – der Rezensent ist Bergsteiger und kein Philosoph.

Bei Jugendorchesterkonzerten ist eine Zugabe üblich – auch an diesem Abend gibt es eine, nämlich einen flotten, konventionell anmutenden Marsch mit Glocken, der aber bald vielschichtiger und zäher wird, rhythmisch immer schrägere Elemente einbaut und sich in eine gedankliche Richtung bewegt, die an Luigi Nonos 10 Märsche um den Sieg zu verfehlen erinnert. Es ist allerdings keiner von denen, sondern der Marche fatale von Helmut Lachenmann, als Klavierversion 2017 aus der Taufe gehoben und in der Orchesterfassung am 1.1.2018, also ein quasi noch brandneues Stück. Der Dirigent springt erst munter hin und her, dann verläßt er aber sein Pult und setzt sich ins Publikum, wonach das Orchester einen ziemlich schwierigen Part zu spielen hat, der einer hängenden und wieder in die vorige Rille zurückspringenden Schallplatte entspricht – das gelingt prima, und als Metzmacher wieder aufs Pult zurückkehrt, kommt noch ein kurzer Schlußgong mit extrem langem Nachhall, dessen Spannung hervorragend steht und erst nach sehr langer Zeit durch einen Fingerschnipp des Dirigenten beendet wird, wonach abermals viel Applaus zu hören ist. Auf die nächsten 50!


Roland Ludwig



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