Öz Ürügülü

Fashion And Welfare


Info
Musikrichtung: Jazz Rock / Jazz Metal

VÖ: 16.04.2016

(Eigenproduktion / Unit Records)

Gesamtspielzeit: 56:55

Internet:

http://www.oezuerueguelue.ch
http://www.unitrecords.com


Dem Volk der Eidgenossen sagt man ja eine besondere Liebe zur Tierwelt nach, die sich keineswegs auf die Gras in Milch und Fleisch umwandelnden und heute von mancherlei Erdenbewohner als violett gefärbt angesehenen Almbewohner beschränkt. Öz Ürügülü können in erstgenannter Hinsicht als typische Schweizer angesehen werden: Nicht nur, daß sie auf dem Cover ihres Zweitlings Fashion And Welfare eine Szene aus Per Anhalter durch die Galaxis (remember die Kuh, die sich im Restaurant am Ende des Universums selbst zum Verzehr anpreist?) abwandeln, sie führen auch in der Thankslist ihre Haustiere noch vor ihren Freundinnen und Familien an, nennen ihre Lieder „Rabbit“ oder „Missing Pets“ und bringen es im Opener „Tarkatan Rush“ gar fertig, das Krähen eines Hahnes als exakt eingepaßtes rhythmisches Element zu verwenden.

Die Liebe zur Schöpfung erstreckt sich freilich auch auf andere Komponenten: Botanik („Garlic Venus“), Mykologie („I Am The Fungus“) und schließlich sogar künstliche Intelligenz („Android Mustache“). Solcherartige Ausflüge kann sich das Sextett problemlos leisten, da es nicht darauf angewiesen ist, Songtitel etwa mit einem passenden Refrain zu koppeln (selbst wenn auch das keine Unmöglichkeit darstellt, wie sich der Kenner absonderlicher musikalischer Äußerungen erinnern wird, wenn er sich den Titeltrack von IFA Wartburgs Agrarwissenschaft im Dienste des Sozialismus-Album, dessen Titel zugleich den Refrain des Stückes bildete, ins Gedächtnis zurückruft). Öz Ürügülü sind eine fast lupenreine Instrumentalband und setzen die menschliche Stimme nur hier und da zu besonderen Akzentuierungen ein. Das können sie sich auch leisten, denn sie schaffen es, ihre Songs trotz deren häufiger Überlänge auch in rein instrumentaler Manier so spannend zu gestalten, daß der Hörer mit Interesse bei der Sache bleibt, weil er sonst Gefahr liefe, irgend etwas zu verpassen.

Wer sich etwa in „Rabbit“ nach den ersten zwei Minuten schon sicher gefühlt hatte, das jazzrockige, teils gar am Loungejazz kratzende Stück würde jetzt gemütlich noch zwei Minuten so weitergehen, und gedanklich abgeschaltet hat, wird plötzlich von einem Death-Metal-Ausbruch samt Grunzvocals von Gast Tom Kappeler niedergestreckt – und der wirkt trotz seines dem Songrest durchaus antagonistisch gegenüberstehenden Ausdrucks keineswegs eingeklebt, sondern hier blitzt ein songwriterischer Genius durch, wie er beispielsweise auch bei Opeth schaltet und waltet.

Trotz zweier Gitarristen stellen die Metalpassagen in den knapp 57 Minuten nicht den Löwenanteil der Musik, auch wenn man wie eben beschrieben immer der Möglichkeit gewahr bleiben muß, dass Angi Gwerder und Philippe Hubler die große Riffaxt zu schwingen beginnen. Aber der Jazz bildet ein stetes Gegengewicht, verkörpert in Saxer/Baßklarinettist David Weber und partiell auch Keyboarder, ähem, Pianist Pete Amberg. Dazu kommt eine äußerst abwechslungsreiche, aber nie in Selbstverliebtheit ausartende Rhythmusarbeit von Basser Damian Gwerder und Drummer Beny Süess – fertig ist erstmal eine ideenreiche, spielfreudige und spannende Grundmixtur, die in der Studiofassung hier und da noch einen Tick stärker mit elektronischen Elementen spielt („Garlic Venus“), was in der Livefassung deutlich schwächer ausgeprägt war. Als sei das alles noch nicht genug, addieren Öz Ürügülü auch noch asiatische Klangelemente, beispielsweise in „I Am The Fungus“, der also offenbar nicht in den heimischen Wäldern wächst – und sie tun das, obwohl ihr Bandname nur einen pseudotürkischen Charakter aufweist (er klingt so, hat aber keine Bedeutung in der türkischen oder einer artverwandten Sprache und ist auch kein schwyzerdütsches Codewort) und das Bandlogo passenderweise in einer entsprechenden nahöstliche Assoziationen hervorrufenden Schrifttype gehalten ist. Sitar und Saz kommen zum Einsatz, ansonsten bleibt es bei der typischen Rockinstrumentierung plus eben Sax und Baßklarinette, jedenfalls was das feste Bandsextett angeht. Weil das den Kreativköpfen aber immer noch nicht reichte, haben sie für fünf Songs noch eine Gastviolinistin verpflichtet, und in „Tarkatan Rush“ erklingt eine Mundharmonika, passend zum country- bzw. allgemein americanalastigen Anstrich dieser Nummer, die gleich als Opener den einen oder anderen Hörer vielleicht abschrecken könnte, aber andererseits auch die Spreu vom Weizen trennt:

Wer sich vom dort zu hörenden Mix (es sei nochmals an den Hahn erinnert) überfordert fühlt, obwohl es hier durchaus schon ein paar ziemlich eingängige musikalische Themen gibt, wird mit dem Rest des Albums kaum glücklicher werden und bei der Suche nach den weiteren eingängigen Themen („RDA“ beispielsweise hat auch noch eins, und wenn dann nach fünfeinhalb Minuten Pete Amberg die Hammondorgel anwirft, stehen Deep Purple vor dem geistigen Ohr des Hörers oder aber Ian Gillans frühe Soloausflüge, wenn es dann wieder etwas jazziger zugeht) vermutlich schon relativ früh kapitulieren.

Übrigens besitzen Öz Ürügülü eine spezielle Vorliebe für Glocken – nein, keine Kuhglocken, sondern „richtige“, die in mehreren Songs als strukturgliederndes Element fungieren und in „Garlic Venus“ an der betreffenden Stelle einen ganz leichten Anklang gen Mussorgkis großes Tor von Kiew hervorrufen. So entdeckt man quasi bei jedem Hören immer wieder etwas Neues, ohne aber nach den ersten paar Durchläufen das unangenehme Gefühl der Überforderung bekämpfen zu müssen.

Dass die Schweizer das Material auch live hervorragend darbieten können (selbst in der Lage, kurzfristig ihren Tastendrücker gegen Samples austauschen zu müssen), haben sie am 21. März 2017 im Kulturbahnhof Jena eindrucksvoll unter Beweis gestellt (siehe Livereview), wo sieben der acht Songs von Fashion And Welfare in der Setlist standen – einzig die Abschlußballade „Missing Pets“ erklang nicht, bildet nach dem zuvor gehörten Komplexmaterial aber einen willkommenen entspannteren Ausklang, denkt man, bis man unter der Oberfläche auch hier so manchen etwas komplexeren Einfall entdeckt, wenngleich der vordergründig ruhige Charakter erhalten bleibt und man irgendwie, wenn auch nirgendwo konkret festzumachen, an Marillion denkt. Der im Livereview bereits geäußerte Vergleich mit den absonderlicheren Elementen von Toxic Smile zu RetroTox Forte-Zeiten bleibt auch anhand des Studiomaterials erhalten, und die Einschätzung, daß wir hier eine sehr fähige Band mit einer sehr erfreulichen Veröffentlichung vor uns haben, kann ohne Einschränkung von der Live- auch auf die Studiosituation übertragen werden.



Roland Ludwig



Trackliste
1Tarkatan Rush 6:02
2 Android Mustache 5:25
3 Odd Waltz 6:38
4 Rabbit 351
5 I Am The Fungus 10:06
6 RDA 7:00
7 Garlic Venus 9:30
8 Missing Pets 8:17
Besetzung

Angi Gwerder (g, Sitar, Saz, voc)
Philippe Hubler (g, Sitar, voc)
Beny Süess (dr, perc)
Damian Gwerder (b)
Pete Amberg (key)
David Weber (sax, bassclar)



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