Musik an sich


Reviews
Glagolitische und Gregorianische Gesänge (Livljanic)

Die Vision des Tondal


Info
Musikrichtung: Mittelalter vokal

VÖ: 01.06.2009

(Arcana / Note 1 / CD / DDD / 2003 / Best. Nr. A 329)

Gesamtspielzeit: 73:05



VISIONÄR

Ein irischer Mönch namens Marcus verfasste im 12. Jahrhundert mit Die Vision des Tondal einen echten mittelalterlichen Mystery-Bestseller: Geführt von seinem Engel macht die Seele Tondals zwischen den Welten Erfahrungen und Entdeckung, die sie (und den Leser) schließlich geläutert in ihren Körper zurückkehren lassen. Die Seelenreise des Helden durch die jenseitige Welt mit ihren phantastischen Szenerien und Erscheinungen regte nicht nur die Fantasie der Lesenden an, sondern demonstrierte ihnen, dass die Welt einer höheren, gerechten – moralischen – Ordnung gehorchte, bei der die Bösen in die Hölle, die Guten in den Himmel kommen.

Katarina Livljanic, die Leiterin des Ensembles Dialogos, hat für eine kroatische Fassung der Tondal-Legende einen musikalischen Kontext rekonstruiert, in dem die Vision in der Art eines geistlichen Spiels für heutige Ohren aufgeführt werden kann. Hilfreich war dabei, dass die zugrundegelegte Version zwar keine Musik enthält, die Texte sich aber auf gesungene Texte der Liturgie beziehen. Livljanic hat aus diversen dalmatischen und süditalienischen Quellen passende Musik ausgewählt. Wichtig war ihr dabei, die traditionelle liturgische Zweisprachigkeit Kroatiens zur Geltung zu bringen. Die Einbeziehung gregorianischer, beneventanischer und glagolitischer Handschriften sorgt zudem für eine auch musikalische willkommene stilistische Bandbreite.

Gerade die für westeuropäische Ohren ungewohnte archaische, von herben Dissonanzen und Mikrointervallen durchsetzte Mehrstimmigkeit Dalmatiens macht diese Aufnahme zu einer echten Entdeckung. Scharfe, genussvoll ausgekostete Stimmreibungen würzen gleich das eröffnende Gospodine, smiluj se (zum Vergleich: von den zeitgenössischen Komponisten zeigt sich z. B. Arvo Pärt hörbar von dieser Praxis beeinflusst). Schwerlich zu überbieten sein dürfte dagegen die Innigkeit des mit wahrhaftigen Engelszungen gesungenen Kyrie Gospodine, pomiluj, das seinen himmlischen Wohlgeruch in ätherischen, reinen Terzen verbreitet. Geradezu unheimlich wirken dagegen die glissandierenden „Heul“-Gesänge der Marienklage Gospin plac (wobei auch hier die Reinheit Tones die Intensität der Darbietung noch einmal steigert).
Ganz anders und doch verwandt gibt sich dagegen die gregorianische Psalmvertonung Qui habitat in adiutorio altissimi, bei denen das Ensemble, wie bei anderen ursprünglich einstimmig notierten Gesängen, eine einfache, aber sehr wirkungsvolle Mehrstimmigkeit hinzuimprovisiert. Herrlich, wenn sich der leuchtende Stimmklang des Ensembles nach etwa zwei Minuten imitierend auffächert und den ehrwürdigen Text in ein vokales Labyrinth verwandelt.
Zwischen die liturgischen Gesänge sind immer wieder Abschnitte aus der Tondal-Vision eingefügt, die singend oder deklamierend vorgetragen werden. Das Ganze wirkt völlig überzeugend, wie aus einem Guss. Dies verdankt sich nicht zuletzt den exzellenten Darbietungen des Damenensembles von Dialogos, das durch seinen im wahrsten Sinne visionären Ton weit mehr bietet als musikalische Rekonstruktionen.

Eine überaus inspirierte und inspirierende Reise in unerschlossene Welten der mittelalterlichen Liturgie und Mystik, in die auch das (unter anderem) deutschsprachige Beiheft kundig einführt.



Georg Henkel



Besetzung

Dialogos

Katarina Livljanic: Sopran & Leitung



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