Tristania

Widow’s Weeds

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Trotz der Vorarbeiten von Celtic Frost in den Achtzigern ist der Einsatz klassisch ausgebildeter Sängerinnen am Frontmikrofon von Metalbands ein Phänomen, das in den Neunzigern erstmals fröhliche Urständ feierte. Begnügten sich Acts wie Paradise Lost oder Anathema damit, in einzelnen Songs Sopranistinnen einzusetzen, so tauchten alsbald auch Bands auf, in denen die weiblichen Stimmen gleichberechtigte Duettpartner mit ihren männlichen Bandkollegen wurden, und noch vor Ende des Jahrzehnts wie Jahrtausends konnte man eine Band wie Nightwish bestaunen, in der der Fokus des Leadgesangs klar bei der Sopranistin lag. Der hier tippende Rezensent mochte in den Neunzigern Sopranistinnen noch nicht so richtig (sein Interesse an Klassik fokussierte sich damals in der Sinfonik, also im weitestgehend instrumentalen Sektor), und auch Nightwishs 1999er Oceanborn-Meisterwerk brauchte sicher 20 Durchläufe, bis er sich nicht nur an Tarja Turunens Stimme gewöhnt hatte, sondern diese als integralen Bestandteil der Band lieben gelernt hatte, was sozusagen sein ganz persönlicher Durchbruch auf diesem Sektor war (und dazu führte, dass er sich in der Folgezeit auch stärker die vokale Klassik erschloß).
Es gab allerdings eine Band, die für diesen Lernprozeß schon markante Vorarbeit geleistet hatte: Tristania. Deren 1997 zunächst als Eigenproduktion und dann auch noch bei Napalm Records regulär erschienene selbstbetitelte Debüt-EP ging zwar noch am Rezensenten vorbei, aber das Debüt-Fulltime-Album Widow’s Weeds aus dem Jahr 1998 nicht. Beim Hineinhören im Plattenladen (wir bewegen uns hier in einer Zeit, wo man noch nicht mit drei Mausklicks auch obskurste Bands vom anderen Ende der Welt hören konnte) erheischte schon die Hörprobe des Openers „Evenfall“ große Aufmerksamkeit, aber der Funke sprang dann in der einleitenden Struktur des folgenden „Pale Enchantress“ richtig über – beschwingter Gothic Metal mit einer schwebenden Klavierlinie, kurze Zeit später noch gekonnt mit einer Geige ergänzt, das mußte gut sein, also konnte die Hörprobe hier beendet und der Ware-Geld-Tausch angebahnt werden. Witzigerweise war die CD aber gar nicht für die eigene Sammlung bestimmt, sondern als Geburtstagsgeschenk für einen Freund gedacht, bei dem davon auszugehen war, dass sie in sein Beuteschema passen würde (was dann auch zutraf). Vor der Übergabe wurde das Werk aber noch auf eine Kassette überspielt, und die landete in der Folgezeit öfter im Tapedeck, so dass eine intensive Erschließung des Materials stattfinden konnte.
Für den erwähnten Lernprozeß sorgte nun Vibeke Stene, neben Morten Veland Co-Sängerin auf Widow’s Weeds. Die junge (und ausgesprochen hübsche) Sopranistin veredelte das Material auf ganz spezielle Weise, sang oft deutlich kräftiger als etwa ihre norwegischen Landsfrauen Liv-Kristine Espenaes oder Kari Rueslatten, wußte aber auch, wann sie besser weniger Power gab und statt dessen die Seele des Hörers streichelte. Veland setzte vorwiegend blackmetallisches Gekreisch, wenngleich in recht tiefer Lage, daneben (ein weiterer markanter Unterschied zu Theatre Of Tragedy, denn dort agierte Raymond I. Rohonyi überwiegend im tiefen deathmetallischen Bereich), und ein achtköpfiger Chor sorgt für weitere Klangvielfalt, bestehend aus je vier Damen und Herren, von denen summiert 50% auch zur festen Bandbesetzung gehören (neben Stene und Veland noch Anders H. Hidle, eigentlich Zweitgitarrist, und Kenneth Olsson, hauptamtlich am Schlagzeug). In „December Elegy“ hören wir zudem noch kurze männliche Klargesangseinwürfe, wobei es sich vermutlich gleichfalls um Veland handelt – das Booklet nennt jedenfalls den cleanen Gastsänger Osten Bergoy nur für den Song „Angellore“, wobei festzuhalten ist, dass Bergoy auch im Chor mitwirkt und im neuen Jahrtausend auch mit der Band auf Tour ging. Davon sind wir zu Widow’s Weeds-Zeiten aber noch weit entfernt – die 1998er Supporttour für Haggard bestritt noch das Stammsextett und stahl dem Headliner zumindest im Ratskeller Fraureuth (RIP!) ziemlich die Schau, was neben der Musik natürlich auch an der Sängerin lag, in die jeder Gothic-Metal-Anhänger mit Geschmack zur damaligen Zeit zumindest ein ganz klein wenig verschossen war.
Die Setlist auf besagter Tour bestand naturgemäß weitestgehend aus Widow’s Weeds-Material, und das war auch gut so, denn dieses Album hat keinen auch nur etwas schwächeren Song, sondern stellt noch heute, ein Vierteljahrhundert später, eines der besten Gothic-Metal-Alben dar, die jemals veröffentlicht wurden. Die Norweger variieren die Geschwindigkeit dabei geschickt, fahren eine immense Stimmungsvielfalt auf und wissen das Ganze doch stets zu schlüssigen Songs zu verbinden, die sie selbst in lyrisch trauerklößigsten Momenten (und davon gibt’s reichlich) noch mit Anmut, gern auch mit geradezu sinfonischer Vielfalt aufladen. Dazu tritt ein eigenartiger, aber zumindest auf diesem Album wie die sprichwörtliche Faust aufs Auge passender schneidender Leadgitarrensound, der der Musik einen gewissen schwebenden Charakter verleiht – und es hängt fast immer eine Leadlinie über den Riffs. Das Tüpfelchen aufs i setzt schließlich der einzige instrumentale Gast auf der Scheibe: Pete Johansen veredelt einzelne Passagen mit seiner Violine, und zwar so, dass es einerseits eine sinnvolle Ergänzung darstellt und man andererseits zu keiner Zeit an My Dying Bride denkt, die dieses Instrument ja im Gothic Metal eingeführt, aber zu besagter Zeit gerade mit seinem Einsatz aufgehört hatten. Gesonderte Bemerkungen über einige zusätzliche geschickt eingewobenen Effekte wie einen plätschernden Bach in „December Elegy“ erübrigen sich letztlich fast.
So haben wir hier ein 53minütiges Gesamtkunstwerk vor uns, bestehend aus Intro, Outro und sieben gleichwertigen Songs, unter denen sich allerdings einer befindet, der sozusagen gleicher ist als die anderen, nämlich das erwähnte „Angellore“, das außer im Refrain auf harsche männliche Vocals verzichtet und statt dessen Bergoys Bariton mit Stenes Sopran duettieren läßt. Olsson legt einen recht flotten Beat drunter (den er zuvor in „Midwintertears“ schon mal kurz geübt hat), und fertig ist so quasi nebenbei eine Gothic-Rock-Hymne, die in einer gerechten Welt zum Hit hätte werden und in allen angedüsterten Tanztempeln rauf und runter gespielt hätte werden müssen. In einer gerechten Welt leben wir bekanntermaßen nicht, und so bleibt dieses Stück den metallischen Gourmets vorbehalten – lange Zeit nur denjenigen, die Widow’s Weeds besaßen, denn es war das einzige Stück der Platte, das 1998 nicht im Liveset stand, und auch auf der 1999er Supporttour für Tiamat, vor der der Albumzweitling Beyond The Veil erschienen war, erklang es nicht, bis es etwas überraschend 2001 auf der ersten Headlinertour als Zugabe ausgepackt wurde und seither regelmäßig gespielt wird, übrigens auch in der Nach-Vibeke-Phase, also mit der neuen Sängerin Mariangela Demurtas. Diese reichlich sieben hochemotionalen Minuten Musik entziehen sich auch ein Vierteljahrhundert nach Erstveröffentlichung immer noch weitestgehend der rationalen Beschreibung, und so sei an dieser Stelle der Text des Refrains eingefügt:
„Angellore... revered at dusk
for thee I rose
now descend... all alone
Rise for me... soothe my heart
so wide a sea
may I overcome...“
Interessanterweise ist das auch der einzige Teil des Textes, der im Booklet abgedruckt ist – dort stehen für alle Songs generell nur Velands Textteile und einige von Stene, aber nicht die von Bergoy und auch nicht die Chorpassagen. Das war schon im Booklet der 1998er Erstveröffentlichung so, und das ist auch im vorliegenden Re-Release von Hammerheart Records so. Der kommt als Doppel-CD im Digipack, das Booklet ist aber bis auf die Einfügung von Homepage- und Facebook-URL auf der letzten Seite (wir erinnern uns, dass es Facebook 1998 noch gar nicht gab; die Homepage der Band existierte zumindest 1999 aber schon – der Rezensent erinnert sich grinsend an einen Zugriffsversuch von einem Rechner aus seiner damaligen Hochschule heraus, bei dem die Übertragungsgeschwindigkeit zwischenzeitlich auf 7 Bytes pro Sekunde sank) mit dem 1998er identisch, enthält also auch die historischen Holzschnitte von klassischen Szenen wie dem Sündenfall am Apfelbaum oder dem Sturz Luzifers aus dem Himmel.
Zur zweiten CD gibt es kein Booklet, sondern nur die strukturellen Informationen auf der Rückseite des Digipacks. Es handelt sich um die oben erwähnte Debüt-EP von 1997, die es mit drei Songs und einem Intro immerhin auf etwa die Spielzeit von Reign In Blood brachte. Würde man Widow’s Weeds nicht kennen, wäre man möglicherweise geneigt, die EP-Fassungen von „Midwintertears“ und „Pale Enchantress“ noch höher einzuschätzen – so weiß man aber, dass die Band in der Lage war, gute Songs in Geniestreiche zu verwandeln, durch den ausgeprägteren Gitarrensound, durch gesteigerte Souveränität, wie man die weiblichen Vocals ins Gesamtgeschehen einbinden soll (Stene war eigentlich nur als Gast für die EP-Aufnahmen eingeladen worden, aber der restlichen Band dämmerte schnell, dass dieser Diamant zum festen Mitglied werden müsse), und nicht zuletzt durch einige kleinere Änderungen in den Songs selbst. Das betrifft Umarrangements in der hinteren Hälfte von „Midwintertears“, ganz besonders aber Johansens Violine, die auf der EP noch fehlt. „Pale Enchantress“ liefert den schlagenden Beweis, was der Einsatz eines echten Instrumentes ausmachen kann: Auf der EP simuliert Keyboarder Einar Moen in der Einleitung einen Streichersound, was ganz ordentlich klingt – auf der Albumversion spielt an dieser Stelle aber Johansen, und so wird aus einem guten Einfall ein Geniestreich. Auch Stene ist in der EP-Fassung von „Pale Enchantress“ erst kurz vor Schluß zu hören, ihre Beiträge in den ersten Minuten des Songs sind also kreative Produkte des halben Jahres, das zwischen den Aufnahmen der EP und des Albums lag. Das reichlich dreiminütige orchestrale und mit Chören ausstaffierte Intro „Sirene“ und das die EP abschließende knapp zehnminütige „Cease To Exist“ blieben zunächst in den Archiven, wobei letztgenanntes trotzdem so manche gute Idee enthält und man sich über eine Neufassung auch dieses Tracks auf Widow’s Weeds durchaus nicht gewundert hätte. Ob Teile der alten Spuren von „Midwintertears“ und „Pale Enchantress“ fürs Album wiederverwertet wurden oder auch diese beiden Songs komplett neu eingespielt wurden, können nur absolute Kenner entscheiden.
Summa summarum muß Widow’s Weeds als Meilenstein angesehen werden und gehört daher in jede vernünftige Gothic-Metal-Sammlung, egal ob nun im Original oder in der vorliegenden um die EP erweiterten Wiederveröffentlichung, die wie erwähnt einen interessanten Einblick in die frühe Genese der Band ermöglicht, an deren Ende das 1998er Meisterwerk stand, das zusammen mit dem noch einen Tick vielschichtigeren Drittling World Of Glass bis heute die Speerspitze des Schaffens von Tristania darstellt, wobei sich der Rezensent seltsamerweise bis heute noch nicht intensiv genug mit dem Zweitling Beyond The Veil auseinandergesetzt hat, um dessen Stellung im Gesamtschaffen der leider seit 2013 veröffentlichungstechnisch inaktiven und seit 2022 offiziell aufgelösten Band zu beurteilen. Aber wie auch immer: Der Status von Widow’s Weeds dürfte unangefochten bleiben – dass es in diesem Sektor NOCH besser geht, erscheint kaum vorstellbar.


Roland Ludwig


Trackliste |
CD 1 - Widow’s Weeds
1 Preludium... (01:09)
2 Evenfall (06:53)
3 Pale Enchantress (06:31)
4 December Elegy (07:31)
5 Midwintertears (08:32)
6 Angellore (07:16)
7 My Lost Lenore (06:23)
8 Wasteland’s Caress (07:40)
9 ...Postludium (01:12)
CD 2 - Tristania
1 Sirene (03:25)
2 Midwintertears (08:30)
3 Pale Enchantress (06:29)
4 Cease To Exist (09:17) |
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Besetzung |
 Morten Veland (Voc, Git)
Vibeke Stene (Voc)
Anders H. Hidle (Git)
Einar Moen (Keys)
Rune Osterhus (B)
Kenneth Olsson (Dr)

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