Schrillheit und Märchenfilm: Das Boston Symphony Orchestra beim Schostakowitsch-Festival Leipzig mit der 11. Sinfonie und dem 1. Violinkonzert




Info
Künstler: Boston Symphony Orchestra

Zeit: 16.05.2025

Ort: Leipzig, Gewandhaus, Großer Saal

Fotograf: Jens Gerber

Internet:
http://www.schostakowitsch-leipzig.de
http://www.gewandhausorchester.de
http://www.bso.org

Knapp 50 Jahre zuvor hatten Kurt Masur und das Gewandhausorchester erstmals alle 15 Sinfonien von Dmitri Schostakowitsch zyklisch aufgeführt, damals über die zwei Spielzeiten 1976/77 und 1977/78 verteilt (und folglich noch nicht im erst 1981 eröffneten aktuellen Gewandhaus-Bau, sondern in der Kongreßhalle am Leipziger Zoo) und eigentlich als Hommage an den 70. Geburtstag des Komponisten gedacht, den dieser dann aber gar nicht mehr erlebte: Schostakowitsch, gesundheitlich schon jahrzehntelang gezeichnet, starb 1975 mit 69 Jahren, und so geriet der Zyklus weiland zur posthumen Ehrung. Der anno 2025 anstehende 50. Todestag des Komponisten bildet nun aber den Hintergrund für eine noch viel umfassendere Werkschau, und zwar in Festivalfom: Innerhalb von zweieinhalb Wochen erklingen im Gewandhaus neben den 15 Sinfonien auch alle Solokonzerte sowie zahlreiche Kammermusik- und Vokalwerke.
Nun wäre dieses orchestrale Werk von lediglich einem Orchester innerhalb von zweieinhalb Wochen nur zu bewältigen, wenn man alle Arbeitszeitregelungen außer Kraft setzen würde. Aber die Lösung dieses Problems lag auf der Hand: Gewandhauskapellmeister Andris Nelsons ist bekanntlich auch Chef beim Boston Symphony Orchestra, mit dem er in den vergangenen Jahren bereits einen Schostakowitsch-Zyklus mit den Sinfonien und Solokonzerten gespielt hat (der auch in Konservenform erhältlich ist), und da seit seinem Amtsantritt 2018 die Bande zwischen Leipzig und Boston sowieso schrittweise enger geknüpft worden sind, bietet das Festival eine erstklassige Gelegenheit, diese Beziehung zu vertiefen, so dass also die US-Amerikaner einen Teil der Konzerte spielen. Aus ihrem Nachwuchsprogramm und dem des Gewandhausorchesters wird zudem noch ein Festivalorchester gebildet, das unter Leitung von Anna Rakitina überwiegend, aber nicht nur die wenig im Fokus stehenden Orchesterwerke wie etwa die 2. und die 3. Sinfonie übernimmt, aber eben auch die problemaufgeladene und häufig gespielte Fünfte.
An diesem Abend, dem zweiten des Festivals, ist nun also das Boston Symphony Orchestra an der Reihe, nachdem das Gewandhausorchester am Abend zuvor das Eröffnungskonzert bestritten hatte. Ein struktureller Unterschied fällt gleich beim Betreten des Saals auf: Die Amerikaner kommen nicht geschlossen auf die Bühne, sondern individuell – jeder spielt sich im gewünschten Umfang coram publico warm. Der Konzertmeister kommt als Letzter, und dann bewegt sich alles in den strukturell gewohnten Bahnen – oder fast alles: Das Programmheft ist zweisprachig Deutsch/Englisch, und der englische Text stellt im Teil über die Werke nicht etwa eine Übersetzung des deutschen dar, sondern der englische Musikwissenschaftler und Komponist Stephen Johnson gibt der Einführung von Gewandhaus-Dramaturgin Ann-Katrin Zimmermann einen eigenen Text hinzu, der ein wenig näher an einer klassischen Werkanalyse bleibt, während Zimmermann deutlich weiter ausschweift.

Auch die Soloparts der Konzerte sowie die jeweilige Kammermusik werden im Regelfall nur von einem Solisten pro Instrument bestritten – ein in einigen Fällen recht gewaltiges Pensum. Für das 1. Konzert für Violine und Orchester op. 77 (die aus politischen Gründen entstandene spätere Revision hat als op. 99 eine eigene Zahl, unterscheidet sich jedoch kaum vom Original) ist Baiba Skride im Einsatz, die gleich im eröffnenden Notturno das Kunststück fertigbringt, die wohlig warmen Tiefstreicherflächen mit einem Mix aus Fragilität und Erdung zu beantworten, der dann auch die weitere Gestaltung des Satzes bestimmt: Nicht selten scheint der Äther über die Erdung zu dominieren, aber spätestens der nächste Tuba-Einsatz bringt die Erdenschwere zurück. Skride und Nelsons, die das Werk zusammen mit dem Boston Symphony Orchestra nicht nur jüngst aufgenommen, sondern es im Vorfeld des Festivals auch noch an anderen europäischen Orten gespielt haben, arbeiten sehr intensiv miteinander, immer wieder dreht sich die Geigerin zum Dirigenten, und beide bringen es fertig, die Stimmung perfekt zwischen den genannten Welten auszutarieren. Mit drei markanten Tonartaufhellungen hat Schostakowitsch dafür prima Vorarbeit geleistet, die letzte läßt den Satz unter Harfeneinsatz zauberhaft entschweben, und der Hörer muß, nein, darf erstmal tief durchatmen, nachdem ihm die Spannung schon mal den Atem zu rauben drohte.
Das Scherzo lebt von den witzigen Dialogen zwischen der Violinistin und dem Holz, und der Hörer entdeckt ein als gliederndes Element verwendetes Motiv, das dem D-S-C-H-Monogramm-Motiv des Komponisten ziemlich ähnelt (jenes findet dann ein paar Jahre später in der 10. Sinfonie umfangreich Verwendung). Generell gerät das Material aber lange Zeit erstaunlich uneingängig, erst der für den Komponisten typische Zirkusmarsch kratzt am Hit, und man wippt quasi unterschwellig mit. Es entspinnt sich ein munteres Hin und Her, mal groovend, mal gerade nicht – aber mit Unterhaltungswert.

Da das Konzert nicht der üblichen dreisätzigen Solokonzertform schnell-langsam-schnell entspricht, sondern der viersätzigen Sinfonieform, kommt jetzt der langsame Satz – aber in origineller Ausprägung, nämlich als Passacaglia. Sowas kann man den Hörer quälend bzw. einschläfernd komponieren (siehe Brahms’ Vierte), aber auch hochspannend – Schostakowitsch zählt zur letzteren Kategorie, und die Amerikaner samt den beiden Letten an der Spitze setzen seine Vorlagen kongenial um. Nelsons läßt das einleitende, ausladende Thema groß wirken, als stamme es aus einem Monumentalfilm, und die weiteren Ausführungen kommen zurückhaltender, aber trotzdem mit enorm viel Licht im scheinbaren Dunkel und einer hochgradig edlen Stimmung, in der Skride wie selbstverständlich mittendrin ist. Die letzte Variation wird im Pizzikato nur noch dahingetupft, bewegt sich an der Grenze des nichts und zieht aus dem scheinbaren Vakuum trotzdem noch riesige Quanten von Energie, was auch auf gute Teile der sich attacca anschließenden Kadenz zutrifft. Und die Selbst-Echos in dieser sind sowieso nicht von dieser Welt und in Skrides Interpretation erst recht nicht.
Der gleichfalls attacca anhängende Schlußsatz heißt Burleske und klingt auch so: Die Einleitung mutet wieder an, als käme sie aus einem Film, diesmal aber aus einem Märchenfilm. Flott und locker geht es dahin, gefährliche Anflüge bleiben selten, und das knackige Finale wird mit sofortigen Bravi aus dem vollbesetzten Rund beantwortet. Vier Vorhänge bekommt Skride, den letzten noch bei schon wieder eingeschaltetem Saallicht – zu einer Zugabe überreden läßt sich die in ein meerblaues langes Kleid gehüllte Solistin aber nicht, was angesichts ihres in diesen zweieinhalb Wochen zu leistenden Pensums auch verständlich ist. Ihr Scherflein zu einer exzellenten Aufführung beigetragen hat sie jedenfalls, und Nelsons hat sie dank größtmöglicher Transparenz auch entsprechend schillern lassen. Nach dem Konzert geht der Rezensent zufällig ein Wegstück neben einer Konzertbesucherin, die irgendjemandem am Handy völlig begeistert von diesem Erlebnis erzählt, alle Sätze des Violinkonzertes noch einmal nacherlebend. Die im ersten Moment eigenartig wirkende neue Saalansage, in der darauf hingewiesen wird, dass man nach dem Konzert (und das meint hier: nach dem letzten Ton vor der Pause oder vor dem Ende) nicht vergessen solle, sein Handy wieder einzuschalten, da man vielleicht den Applaus oder die Saalatmosphäre mit jemandem teilen möchte, findet so eine externe Fortsetzung.

Aber wir haben den Geschehnissen vorgegriffen, denn es gibt ja noch ein zweites Werk: die 11. Sinfonie op. 103 g-Moll mit dem Untertitel „Das Jahr 1905“, also die erste russische Revolution des 20. Jahrhunderts in Töne gießend – jedenfalls gehen so die offiziellen Verlautbarungen, denen man im Falle von Schostakowitsch, dem Meister der Doppelbödigkeit, bekanntermaßen nie ohne weiteres trauen sollte, auch wenn das „Programm“ in diesem Falle tatsächlich relativ problemlos nachvollziehbar erscheint.
Hatte der Komponist das 1. Violinkonzert nach der klassischen Sinfoniesatzform geschaffen, so hat zwar auch die 11. Sinfonie vier Sätze, aber jeweils im Wechsel zwei langsame und zwei schnelle. Nelsons holt im eröffnenden Adagio „Platz vor dem Palast“ die nokturnale Klanglandschaft nicht ganz aus dem Nichts, trifft die angestrebte Stimmung aber prima. Dass der eine der Signaltrompeter bei seinem ersten Signal mal kurz wackelt, zeigt, dass auch hier nur Menschen auf der Bühne sitzen – und er wetzt die Scharte bei seinen nächsten Einsätzen auch gleich wieder aus. Manchen Hörer mag überraschen, dass das lange grüblerische Geschehen von Nelsons gar nicht so existentialistisch ausgedeutet wird, sondern durchaus basisch im besten Sinne des Wortes – dass das auch anders denkbar ist, hat er selbst vor einigen Jahren mit dem Gewandhausorchester gezeigt. Auf behutsame Dramatisierung kommt es freilich immer an, und die gibt es folglich auch an diesem Abend – hier muß rein inhaltlich Stückwerk entstehen, das letztlich wieder verschwindet.
„Der 9. Januar“ ist der Tag, an dem sich der Platz vor dem Palast mit einem Demonstrationszug füllt, der dann niedergeschossen wird. Aus den Tiefstreichern ertönt also Gewusel, und statt einer behutsamen Dramatisierung überschlagen sich hier praktisch die Ereignisse. Auffällig ist, dass Nelsons stark auf teils extrem schrille Klangwelten setzt – natürlich muß die Pikkoloflöte hier förmlich „schreien“, natürlich müssen andere Orchestergruppen gleichzuziehen versuchen, aber in dieser Intensität, die so manchen Hörer an seine Grenzen gebracht haben könnte, ist das dann doch ungewöhnlich. Die große Erschießungsszene gerät enorm eindringlich und raumgreifend, durchbricht die Schrillheits-Strategie aber für einen Moment – und dann schlägt die Musik plötzlich fast in Stille um, in Totenstille nämlich.
Das Tiefstreichergetupfe im Adagio „In memoriam“ läßt Nelsons nahe der Unhörbarkeit verharren, die Bratschen intonieren „Unsterbliche Opfer“ (im deutschen Einführungstext wieder mal mit dem wörtlich übersetzten Originaltitel „Du wurdest Opfer“ genannt, obwohl es doch einen etablierten deutschen Titel der bekannten Nachdichtung gibt) in herrlich fahler Weise, und es folgt eine weite Wanderung durch düstere Täler, in denen Nelsons viele Klänge förmlich aus den Musikern „herauszieht“ und dabei übers Podest wandert, wenn auch nicht mehr ganz so zum 90-Grad-Winkel gebogen wie früher oftmals – mitten in der Steigerung wechselt er aber plötzlich zu seiner gewohnten Position mit einer Hand am Gitter. Die Wanderung gerät indifferent, aber das soll sie auch.
Eine winzige Zäsur macht den Blech-Kampfruf am Beginn des eigentlich attacca anhängenden Finales „Sturmgeläut“ noch wirkungsvoller, und im wilden Getümmel ist auch die Schrillheits-Strategie schnell zurück. Aber Nelsons wäre nicht Nelsons, wenn er nicht ein Gespür für die Doppelbödigkeiten hätte: Schostakowitsch baut verschiedene Revolutionslieder ein, u.a. die „Warschawjanka“, und deren Tiefstreicher-Begleitung kommt an diesem Abend richtig bedrohlich rüber und führt die besungenen feindlichen Stürme vor Augen, die Melodie in den Violinen tut das aber gerade nicht. Der Dirigent kann sich so auf seine Musiker verlassen, dass er etwa einen Posaunen-Schlachtgesang gar nicht erst dirigiert und das Ergebnis trotzdem überzeugt. Natürlich ist die grelle Klangwelt bald wieder am Start, aber nach einem großen Knall kommt die Motivik des ersten Satzes plötzlich zurück. Ist alles wieder so wie vorher? Ja/Nein/Vielleicht? Das Englischhorn gibt keine wirklich Antwort und der plötzlich ausbrechende finstere Schlußkampf auch nicht – nur der gellende Gestus übernimmt schnell wieder die Regie und behält sie bis zum Ende, so dass seine starke Betonung kein Zufall gewesen sein kann, zumal die Glocken im Finale derart industrialartig klingen, dass man eher an die Einstürzenden Neubauten oder Die Krupps denkt. Einige Besucher sind jedenfalls so enthusiasmiert, dass sie gleich losklatschen wollen, obwohl Nelsons die Spannung zumindest noch zwei, drei Sekunden hält – dann aber brechen erneut Bravi los, und innerhalb von wenigen Sekunden steht nahezu das komplette Auditorium und feiert ein enorm eindrucksvolles Konzert.


Roland Ludwig



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