Choosing Death beleuchtet die Entwicklung von Death Metal und Grindcore aus US-amerikanischer Perspektive




Info
Autor: Albert Mudrian

Titel: Choosing Death. Die unglaubliche Geschichte von Death Metal und Grindcore geht weiter

Verlag: I.P. Verlag

ISBN: 978-3-940822-08-6

Preis: € 21,90

376 Seiten

Internet:
http://www.ip-verlag.de

Anno 2004 erschien die englischsprachige Originalfassung des Buches „Choosing Death“, in dem Albert Mudrian die Geschichte zweier der extremsten musikalischen Stilistika aufarbeitete. Deren deutsche Übersetzung ließ nicht lange auf sich warten und wurde weiland von Norbert auch auf diesen Seiten rezensiert. Ein Jahrzehnt später machte sich der Autor an eine Überarbeitung, Aktualisierung und Erweiterung des Buches – zu den zehn überarbeiteten Kapiteln des Ursprungswerks traten drei komplett neue, die Seitenzahl wuchs von 256 auf 376 an, und für das neue Coverartwork konnte kein Geringerer als Dan Seagrave gewonnen werden, dessen Bilder in den Frühneunzigern ein markantes Element in der behandelten Szene dargestellt hatten. Diese Neufassung erblickte 2015 das Licht der Welt, im Folgejahr erschien abermals eine deutsche Übersetzung, und letztgenannte hat mehr als ein halbes Jahrzehnt später nun auch den Weg in den Bücherschrank des Rezensenten gefunden, der kein Spezialist für die behandelten Genres ist, aber doch eine ganze Menge Tonträger ihnen zugehöriger Bands besitzt.
Die dreizehn Kapitel gehen weitgehend chronologisch vor, wobei sich sujetbedingt allerdings mancherlei zeitliche Verschränkung ergibt. Mudrian schöpft quellenseitig einerseits aus der Presseberichterstattung, andererseits aus etwa 200 Interviews, die er etwa für sein Decibel-Magazin führte (50 davon stammen aus der Zeit seit der Erstauflage, die anderen 150 hatten schon als Quelle für selbige dienen können) und schließlich aus dem großen Pool, den man „szeneinternes Wissen“ nennt, ohne dass man das quellenseitig in jedem Falle konkret belegen könnte – er hat die komplette Szeneentwicklung seit den frühen Neunzigern als Fan mitverfolgt und ging einen ähnlichen Weg wie viele Altersgenossen, denen Bands wie Metallica oder Testament irgendwann nicht mehr extrem genug waren und die sich daher auf die Suche nach noch härterem Stoff machten.
Ebenjene Erkundung bildet auch den Nukleus der eigentlichen Szeneentwicklung seit den frühen Achtzigern: Es ging damals tatsächlich im wesentlichen um einen „Schneller-und-härter“-Wettbewerb, um das Ausloten spieltechnischer (teils auch geschmackstechnischer) Grenzen. Das hatte Norbert in seiner Rezension der Erstfassung negativ angemerkt, aber es stellt offensichtlich nun mal die historische Realität dar. Zumindest in der Zweitfassung deutet Mudrian aber zumindest hier und da auch die weiteren Ebenen an, also etwa das aus der alten Hardcore-Bewegung erwachsene sozialpolitische Bewußtsein zumindest von Teilen der Grindcore-Szene. Im frühen Death Metal war dieses wiederum wenig ausgeprägt; auf die Lyrics differenzierteren Wert legende Formationen tauchten hier erst mit der zunehmenden Auffächerung der Szene ab den frühen Neunzigern auf, was konservative Kreise übelwollend aufnahmen, so dass das nicht positiv gemeinte Etikett „Life Metal“ für Death-Metal-Bands, die nicht über den Tod und seine Herbeiführung sangen, aufkam, sich allerdings langfristig nicht durchsetzte, da in den Mittneunzigern statt dessen der traditionelle Death Metal weitgehend von der Bildfläche verschwunden war. Traditionellen Grindcore gab es seit jeher nur als Nischenprodukt, aber diese Nischen vervielfältigten sich auch noch, teils musikalisch, teils auch lyrisch untergliedert, wenn man an Porngrind, Fungrind, Goregrind oder Elektrogrind denkt. Zum Zeitpunkt der Veröffentlichung der Erstfassung des Buches hatte der ursprüngliche Death Metal gerade erst begonnen, wieder aus seiner Gruft zu kriechen, und er hat sich seither seinen gleichberechtigten Platz neben Melodic Death, Deathcore, Doom Death und all den anderen Substilistika erworben, so dass heute eine immense Vielfalt herrscht und sich jeder Anhänger nach Gusto etwas aussuchen kann.
Mudrian stellt die Entwicklung wie erwähnt weitgehend chronologisch, aber durchaus zu inhaltlich logischen Blöcken zusammengefaßt dar, wobei die Kapitel jeweils meist zwischen 20 und 30 Seiten umfassen und mit zahlreichen historischen Fotos und Dokumenten (teils auch in historischer Reproqualität, aber die Vorlagen werden halt oft nicht mehr hergegeben haben – teils aber sind auch Bilder der Szenefrühzeit gestochen scharf) illustriert sind. Die Schilderung beginnt mit der Entwicklung von Napalm Death, die 1982 unter diesem Namen erstmals auftraten und wie viele spätere Protagonisten der Szene quasi im frühen Jugendlichenalter ihren Sound kreierten, also einer menschlichen Entwicklungsphase, in der man dem oben erwähnten „Härter-und-schneller“-Wettbewerbsgedanken mehr abgewinnen kann als dem Retten der Wale oder der Philosophie von Carl Gustav Jung, was die lyrische Ausrichtung vieler der frühen Protagonisten erklärt – und auch Metallica beispielsweise hatten erst ab Ride The Lightning angefangen, differenziertere Texte zu schreiben. Die Kapitel sind teilweise auch geographisch sortiert, also nach England, den USA und dem europäischen Festland, wo sich teils parallele, teils aber auch markant unterschiedliche Entwicklungen ergaben.
In letzterer Herangehensweise liegt dann einer der entscheidenden Hasen im Pfeffer: „Choosing Death“ ist aus der Sicht eines US-amerikanischen Fans geschrieben, dessen Kontakte in die Alte Welt punktuell blieben, so dass zwar dortige wichtige Entwicklungen behandelt werden, aber deren Vielfalt eher spärlich beleuchtet wird. Klar, es gibt ein großes Schweden-Kapitel, es gibt Ausflüge nach Norwegen und Finnland, es gibt auch einen Blick in die Niederlande (mit Thanatos und Asphyx), in die Schweiz (mit Fear Of God), nach Polen (mit Vader) und nach Tschechien (mit Krabathor) – aber das war es dann eben auch schon. Der brodelnde Underground in vielen weiteren europäischen Ländern (einschließlich der BRD, der Sowjetunion und sogar der DDR) wird nirgends erwähnt, vom Rest der Welt ganz zu schweigen (da tauchen nur mal Sepultura am Rande auf, obwohl die weiland eher ins Thrash- als ins Death-Lager gehörten), und in der Schweiz Fear Of God zu behandeln, aber deren szeneentwicklungstechnisch viel bedeutenderen Vorgänger Messiah nicht mal zu erwähnen mutet auch merkwürdig an. Zwar versucht Mudrian einen thematischen Strich zu ziehen, indem bestimmte Urväter nur dann vorkommen, wenn sie einer der interviewten Musiker mal erwähnt, aber diese Entscheidung erscheint eher merkwürdig und führt dazu, dass die Vorreiterrollen etwa von Hellhammer/Celtic Frost in Europa oder Paul Speckmanns Projekten in den USA nur gestreift werden.
Die US-amerikanische Perspektive wird noch in einem anderen Aspekt deutlich. Mudrian geht ausführlich auf die Entwicklung von Death Metal und Grindcore zu einem Phänomen ein, das aufgrund seiner Tonträgerverkaufszahlen selbst für Majorlabels interessant war, was dann in den USA ab Ende 1993 zu einer Kooperation von Earache und Columbia Records führte, die auch in Europa ihre Spuren hinterließ. Die betreffenden Earache-Bands stellten allerdings im Weltmaßstab keineswegs die ersten Death-Metal-Formationen mit Majordeal dar: Die Franzosen Massacra waren schon 1992 bei Phonogram untergekommen und veröffentlichten die Signs Of The Decline-Scheibe, die Australier Armoured Angel brachten im gleichen Jahr beim dortigen Major Id Records die Stigmartyr-EP heraus. Lückenhaft bleibt die Schilderung auch in bezug auf die textliche Differenzierung des Death Metal, die im wesentlichen nur in den Abhandlungen über Nile gestreift wird, aber alle anderen „nichttödlichen“ Ausprägungen bis hin zum christlichen Textgut von Mortification oder den auch in den USA weitreichend bekannten Living Sacrifice (auch wenn beide nur in bestimmten Phasen ihrer Bandkarriere Death Metal spielten) komplett außen vor läßt.
Wenn man mit solchen Lücken leben kann, bekommt man mit „Choosing Death“ allerdings einen guten Einblick in die „oral history“ der extremen metallischen Spielarten, wobei die Interviewaussagen allerdings nicht explizit quellenseitig belegt sind – wissenschaftlichen Standards genügt das Buch in diesem Kontext also nicht, was es freilich auch gar nicht will. Der Erzählstil ist locker, aber nicht zu oberflächlich anmutend und wird durch die kompetente Übersetzung von Andreas Schiffmann und Mike Borrink, beide bekanntlich mit langjährigen Erfahrungen im deutschen Metal-Journalismus, befördert – man gerät schnell in einen Lesefluß und will das Buch nicht wieder aus der Hand legen. Ein paar ärgerliche Fehler sind trotzdem dringeblieben, beginnend schon damit, dass der Backcovertext aus Dan Seagrave mal eben Dean Seagrave macht. Aber die kann man ja dann in der nächsten Überarbeitung noch eliminieren. Wieviel Neues „Choosing Death“ für den jeweiligen Leser bereithält, hängt natürlich maßgeblich von dessen konkretem Vorwissen ab, aber als kompakt zusammengefaßte, wenngleich nicht allumfassende Geschichte von Death Metal und Grindcore taugt das Werk allemal. Zudem enthält es ein Vorwort von John Peel, das dieser kurz vor seinem Tod anno 2004 verfaßte – der legendäre BBC-Radiomoderator hatte in den 1980ern zahlreichen extremen Bands zu völlig unverhoffter Präsenz im (öffentlich-rechtlichen!) Äther verholfen und etliche, allen voran Napalm Death, zu Studiosessions eingeladen, was dann wiederum den Szenewerdegang maßgeblich beeinflußte. So schließt sich einer von etlichen Kreisen des Buches.


Roland Ludwig



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