Musik an sich


Reviews
Satie, E. (Hannigan, B. - De Leuuw, R.)

Lieder - Socrate


Info
Musikrichtung: Klassische Moderne Gesang

VÖ: 08.04.2016

(Winter und Winter / Edel / CD DDD / 2015 / Best. Nr. 910 234-2 )

Gesamtspielzeit: 50:47



SINNLICHKEUSCHER SATIE

Reinbert de Leuuws Interpretationen von Erik Saties frühen esoterischen Klavierwerken genießen einen besonderen Ruf (Philips / Etcetera). Mit ihrer Ruhe und den extrem langsamen Tempi verdünnen sie den per se transparenden Klaviersatz Saties noch mehr und betonen dadurch den statischen, "gefrorenen" und "weißen" Charakter der Musik. Tatsächlich scheint De Leuuws Satie die späten Klangmusterkompositionen Morton Feldmans schon vorwegzunehmen - kein Wunder, dass sich der amerikanische Komponist immer wieder auf seinen französischen Kollegen bezog. Feldman schätze auch Saties Vokalmusik, insbesondere das zwischen 1917 und 1919 komponierte „Sinfonische Drama“ Socrate über drei Episoden aus dem Leben des Sokrates, wie sie Platon überliefert hat.
Ursprünglich für vier Singstimmen und kleines Orchester komponiert, steht die spätere Klavierfassung mit einer Sängerin auf De Leuuws jüngstem Satie-Programm im Fokus. In diesem Fall begleitet der Niederländer die für ihre herausragenden Interpretationen Neuer Musik bekannte Sopranistin Barbara Hannigan. Neben dem Socrate präsentieren die beiden noch einige frühe Melodies Saties und eine Hymne, die er für den Rosenkreuzer-Orden komponiert hat - ein in sich sehr stimmiges Programm, das einen großen Bogen über das Oeuvre Saties schlägt.

Allen Stücken gemeinsam ist der Verzicht auf romantischen Ausdruck, auf "Gestik", auf theatralische "Grimassen" und harmonsiche Farben, ja überhaupt auf größere Kontraste. Der Ton ist archaisierend, modal, der Gregorianik oder der Antike näher als der Moderne - Neo-Gregorianik, Neo-Grec. Die meist deklamatorisch gehaltene melodischen Linie steht bei den Liedern und dem Socrate im Vordergrund, das Klavier steuert lediglich eine Art Klang-Teppich aus akkordischen Blöcken und sparsamen Figuren bei, die sich nicht weiter um die Ausdeutung des Textes bemühen. Ostinate Bässe sorgen bei den größeren Abschnitten des Socrate für den nötigen Zusammenhalt.
Der Gesamteindruck ist schwerelos, luzide, luftig, klar, kühl - das ist einerseits sehr französisch und andererseits vom in chromatischen Farben schwelgenden französischen Wagnerismus wie auch vom impressionistischen Raffinement eines Debussy gleich weit entfernt.

De Leuuw bietet seinen Part wie zu erwarten denkbar abgeklärt dar. Der "Glockenton" des Flügels betont den anonymen, friesartigen Eindruck der Musik. Anders Barbara Hannigan. Ihre Interpretation differenziert zwischen den Liedern und Socrate: Erstere singt sie hochdifferenziert und betört den Hörer mit einer durchaus irritierenden Kindfrau-Stimme. Das verleiht der Musik eine paradoxe "laszive Unschuld" - Satie klingt hier sinnlich und keusch, dekadent verfeinert und rein zugleich.
In dieser Mischung liegt der Reiz, aber auch das Ungewöhnliche ihrer Interpretation. Da man bei diesem Komponisten nie weiß, ob er es ernst meint oder die hohe und erhabene Kunst lediglich ironisiert, ist das ein durchaus angemessener Ansatz. (Zum Vergleich empfehle ich eine CD mit dem Music Projects London unter Richard Bernas, Label: LTM, auf der sich die Klavierlieder und der Socrate in der Orchesterfassung befinden. Die Interpretationen sind insgesamt "schlichter", weniger vieldeutig, in ihrer puren Schönheit nicht minder überzeugend.)
Anders geht Hannigan an den Socrate heran, den Satie nachweislich nicht ironisch gemeint hat: Hier nimmt sich dei Sängerin stimmlich eher zurück, betont den still-deklamtorischen Charakter dieser "szenischen Lesung". Saties Neo-Grec-Stil kann sich in seiner ganzen hypnotischen Schönheit und Reinheit entfalten. Das Werk wirkt wie eine Fatamorgana, in der die Ruinen antiker Tempel und Skulpturen erscheinen. Doch ehe man ganz begriffen hat, was man hier eigentlich vernimmt, hört die Musik einfach auf.

Satie ist und bleibt ein rätselhafter Komponist und diese Interpretation bringt das auch klangtechnisch sehr überzeugend zum Ausdruck.



Georg Henkel



Trackliste
Trois Mélodies [1886]
1. Les Anges [á notre ami Charles Levadé] 2:47
2. Élegie [à Mademoiselle Céleste Le Prédour] 3:41
3. Sylvie [à Mademoiselle Olga Satie] 3:36

Trois Autres Mélodies [1886 – 1906]
4. Chanson [à Mademoiselle Valentine de Bret] 1:08
5. Chanson médiévale 1:24
6. Les Fleurs 1:53

7. Hymne [1891] 4:34
[Pour le »Salut Drapeau« du
»Prince de Byzance« du Sâr Péladan]

Socrate [1919]
Drame Symphonique en trois Parties avec Voix
8. Portrait de Socrate [from Plato’s Symposium] 5:49
9. Les Bords d’Illissus [from Plato’s Phaedrus] 7:30
10. Mort de Socrate [from Plato’s Phaedo] 18:25
Besetzung

Barbara Hannigan: Sopran

Reinbert de Leuuw: Klavier


 << 
Zurück zur Review-Übersicht
 >>