Musik an sich


Reviews
Neumeier, John

Tod in Venedig (DVD)


Info
Musikrichtung: Ballett

VÖ: 16.4.2012

(Arthaus / Naxos / DVD / 2005 / Best. Nr. 101 622)

Gesamtspielzeit: 182:00

Internet:

Hamburg Ballett



BACH UND WAGNER ALS GEGENWELTEN

“Ein Totentanz” in freier Adaption der Novelle von Thomas Mann, so untertitelt der Choreograph John Neumeier seine Version von “Tod in Venedig”. Der Protagonist wird hier vom Schriftsteller zum angesehenen Choreographen, der über seinem letzten, größten Werk, einem Ballett über das Leben Friedrichs des Großen verzweifelt, von Träumen und Ahnungen getrieben eine Reise nach Venedig antritt und hier dem Charme und der Schönheit des halbwüchsigen Knaben Tadzio erliegt – statt obsessiver Arbeit treibt ihn nun eine andere Obsession um und lässt ihn auch dann noch ausharren, als in Venedig die Cholera zu wüten beginnt, an welcher Aschenbach schließlich stirbt.
Die äußeren Fakten sind in Neumeiers Version, nicht anders als beim Original, schnell erzählt, denn das wesentliche Geschehen spielt sich im Innern der Hauptfigur ab. Eine echte Herausforderung also, die Novelle zu bebildern. Als Geniestreich darf Neumeiers Einfall gelten, Aschenbachs ursprüngliche Denk- und Arbeitsweise musikalisch durch Bachs Musikalisches Opfer zu versinnbildlichen. Streng, fast unerbittlich scheint diese Musik, dabei aber doch überzeugend tanzbar. Die Bewegungen Aschenbachs und seiner Eleven wirken zunächst absichtsvoll starr, unrund und bemüht – es ist der vergebliche Versuch, der Muse einen großen künstlerischen Wurf abzuzwingen. Somit sind Verzweiflung, Erschöpfung, Flucht und Suche nach einem Ausweg vorgezeichnet. Die andere Welt, jenes merkwürdig schemenhafte Venedig und die hier tobenden Leidenschaften verknüpft Neumeier mit der Musik Wagners: dionysisch, todessehnsüchtig, dem Verfall nahe. Dadurch, dass er Klavierstücke wählt bzw. Bearbeitungen für Klavier, wird der Kontrast gemildert, Zusammenhang gestiftet und ein Abgleiten ins Schwülstige vermieden.

Für die Choreographie gibt Wagner auch in dieser Form wahrlich noch genug her: Zu seiner Musik fließen die Bewegungen der Tänzer ineinander, pulsiert das Leben, wird (flüchtige) Begegnung und Berührung möglich. Der Tod selbst, sprich die Cholera, kommt dann allerdings – interessanter Rückbezug – wieder in bach´scher Gestalt einher, diesmal aber aufgemotzt in der Gitarren-Rock-Version von Jethro Tull. Der Totentanz, dem sich keiner entziehen kann, beginnt.
Lloyd Riggins verkörpert den alternden Künstler dabei am Rande der Erschöpfung, schweißgebadet, atemlos, asthenisch und mit nie nachlassender Kraftanstrengung. Sein Idol, Tadzio, stellt mit weniger jungenhaftem als jungmännlich-athletischem Nimbus Edvin Revazov dar und symbolisiert so die Kraft, mit welcher Aschenbach letztlich nicht Schritt zu halten vermag und der er sich schließlich ergibt. Entgegen Neumeiers Darlegungen im Booklet sowie im aufschlussreichen Bonus-Dokumentarfilm liegt der Schwerpunkt dieser Inszenierung aber durchaus nicht im Mythischen, sondern häufig in der Bebilderung eines nur allzu realen Begehrens. In einigen wenigen Szenen wird dabei der Grat zum Plakativen überschritten, so etwa in der Darstellung der beiden Wegbegleiter - Otto und Jiri Bubenicek müssen hier in der Attitüde der Models aus einschlägigen Hochglanzheftchen agieren. Und auch die Schlussszene will nicht recht überzeugen: Zu einfach ist es, wenn hier noch einmal Friedrich der Große auftritt, Aschenbach die Noten zum „Musiaklischen Opfer“ in die Hände legt und diesem die Partitur sinnfällig entgleitet.

Von solchen Momenten abgesehen ist die tänzerische Umsetzung aber höchst eindrucksvoll und ausdrucksstark. Neumeier reichert dabei in gewohnter Manier das Bewegungsrepertoire des klassischen Ballets so mit Elementen des modernen Tanztheaters an, dass das Ganze sich vollkommen organisch und ästhetisch verbindet. Keine Geste die nicht durchdacht, keine Drehung die bedeutungslos wäre. Das verlangt einen aufmerksamen und sensiblen Zuschauer, der dafür jedoch mit einem Ballettabend der Extra-Klasse belohnt wird.



Sven Kerkhoff



Trackliste
Ballett: 123 Minuten
Bonus - Dokumentation „Der andere Liebestod“: 59 Minuten
Besetzung

Gustav von Aschenbach: Lloyd Riggins
Tadzio: Edvin Revazov
Assistentin/Mutter: Laura Cazzaniga
Fredrich der Große: Ivan Urban
Wayferer/Hairdresser/Gondoliere…: Jiri Bubenicek, Otto Bubenicek

Hamburg Ballet

Choreographie, Inszenierung, Licht: John Neumeier
Bühnenbild: Peter Schmidt


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