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Musik an sich
 
Amüsanter Höllen-Galopp aus Lyon - OFFENBACHS ORPHÉE AUX ENFERS auf DVD
TDK mediactive DVD (AD 1997) / Best. Nr.: DV-OPOAE
Klassik / Komische Oper
Cover
 

Jaques Offenbach (1818-1880): Orphée aux Enfers (Orpheus in der Unterwelt)
Natalie Dessay (Euridice) - Yann Beuron (Orphée) - Jean-Paul Fouchecourt (Aristée / Pluton) - Laurent Naouri (Jupiter) - Martine Olmeda (L'Opinion Publique) - Steven Cole (John Styx) - Cassandre Berthon (Cupidon) - Etienne Lescroart (Mercure) - Virginie Pochon (Diane) - Lydie Pruvot (Junon) - Maryline Fallot (Vénus) - Alekta Cela (Minerve) - Sharman Plesner (Violoniste)
Chor und Orchester der Opéra National de Lyon / Grenoble Chamber Orchestra
Ballet du Grand-Théatre de Genève
Regie: Jean-Pierre Brossmann / Laurent Pelly
Leitung: Marc Minkowski

Nachdem bereits 1998 bei der EMI eine Studioversion der Lyoner Produktion von Jacques Offenbachs Opera Buffon "Orphée aux Enfers" unter Marc Minkowski erschienen ist, wird hier nun endlich auch die szenische Fassung auf DVD als Livemitschnitt nachgereicht.

Humor hat bekanntlich nur eine kurze Halbwertszeit. Die Regisseure Jean-Pierre Brossmann und Laurent Pelly zeigen hier zusammen mit Marc Minkowski, wie man Offenbachs zu Tode gespielte "Operette" auf die Bühne bringen kann: ohne die häufig nur aufgesetzte Exegese des Regietheaters, ohne die üblichen, nur unter Alkoholeinfluss erträglichen Klamauk-Effekte der Silverster-Galas, dafür aber mit Witz, Charme und vitaler Musikalität.
"Orphée" ist Opernparodie und Gesellschaftssatire in einem. Offenbach und seine Librettisten Hector Crémieux und Ludovic Halévy schlachten nicht nur die heiligen Kühe aus dem Repertoire der Grand Opera und der ehrwürdigen Tradition (allen voran Glucks "Orphée ed Euridice" von 1774), sondern nehmen auch die leichtlebige französische Gesellschaft unter Napoleon III. aufs Korn. Der mythologische Mummenschanz präsentiert eine dekadente High-Society-Götterwelt, in der Moral und Prinzipien nichts, der schöne Schein hingegen alles zählt. Denn über allem wacht die "Öffentliche Meinung". Jupiter, das Urbild aller Schwerenöter, führt daher auf dem Olymp unter der Aufsicht seiner eifersüchtigen Gattin Juno ("die Klette") ein strenges Regiment. Freilich: Bei seinen eigenen außerehelichen Abenteuern läßt er schon mal Fünfe gerade sein. Wenn nur nichts durchsickert. Auch in der lebenslustigen Unterwelt ist man um seinen Ruf besorgt: Pluto soll eine schöne Sterbliche zwecks orgiastischer Vergnügungen in den Hades entführt haben? Welch ein Skandal! (Jupiter) - Welch eine Verleumdung! (Pluto)
Dabei könnte alles so schön sein: Eurydike, Edelschickse aus Theben, wäre mit Vergnügen bereit, ihren langweiligen Ehemann Orpheus samt nerviger Violine gegen aufregende Höllenparties einzutauschen. Und der wiederum hätte nichts dagegen, die unmusikalische Nörglerin für eine (in jeder Hinsicht) begabte Schülerin in den Orkus zu schicken - wenn denn sein guter Ruf nicht auf dem Spiel stände. Da kommt ein lancierter "bedauerlicher Unfall" Eurydikes (der berühmte Schlangenbiss) ganz gelegen. Doch schafft der Auftritt der "Öffentlichen Meinung" in allen Fällen stets klare Verhältnisse: Jupiter soll ein Machtwort sprechen, Pluto Eurydike wieder rausrücken, Orpheus seine Gattin lieben und ehren und diese an den heimischen Herd zurückkehren - bis das der Tod sie endgültig scheidet.

Offenbach lieferte zu dieser Farce eine seiner inspiriertesten Bühnenmusiken - und hatte mit dem "Orphée" prompt einen seinen größten Erfolge, der bis heute anhält. Die erste Fassung in vier Bildern von 1858 ging 228 Mal über die Bühne, dann brauchte das total erschöpfte Ensemble erst mal eine Pause. 1874 erweiterte der Komponist das Werk zu einer verspielt-romantischen Revue in zwölf Bildern. Marc Minkowski und Laurent Pelly entschieden sich jedoch mit gutem Grund für die Urfassung, ergänzt um einige unverzichtbare Hits aus der Neuauflage, die dafür an das kleinere Orchester von 1858 angepaßt wurden: "Nicht, dass die zweite Fassung musikalisch der ersteren unterlegen wäre, weit entfernt! Aber wir wollten einen bissigen, gewitzten, ‚verblüffenden und charmanten' Orpheus, wie in Jules Noriac 1858 bezeichnete; und die Fassung aus dem Jahr 1874 ist vor allem luxuriös, wunderbar, ‚weiträumig'. Wir fanden den ersten Orpheus salzig, den zweiten zwar nahrhaft, aber eher süß." (Minkowski im Booklet zur CD-Einspielung)
So gibt es hier gewissermaßen eine fiktive Idealfassung zu hören und zu sehen, die das beste der beiden musikalischen Welten verbindet.

Die neue Version ist bei der Regie, bei Minkowski, seinen Musikern und den fabelhaften Solisten in den besten Händen (bzw. Kehlen). Der Dirigent, bis zu diesem Zeitpunkt vor allem als Barock-Experte mit dem Faible für Ausgrabungen vergessener Meisterwerke bekannt, bringt Offenbachs Partitur zum Funkeln. Beschwingt und rasant, mit Biss und wachem Gespür für musikalische Gags wirbelt er mit seinen Musikern durch die Noten. Spritzige Couplets, elektrisierende Tanzeinlagen, pointierte Dramatik und ironisch gebrochenes Pathos - vielleicht kann nur ein französisches Ensemble der Musik jenen klassizistischen Esprit einhauchen, der deutschen Musikern bei Offenbach so häufig abgeht.

Und dann die Sänger/innen: Statt abgesungener Opernstimmen in Zweitverwertung gibt es hier hervorragende junge und unverbrauchte Stimmen zu hören. Einige, so Jean-Paul Fouchecourt und Laurent Naouri, haben sich als Interpreten französischer Barockopern einen Namen gemacht. Alle sind sie mit vitaler Spielfreude bei der Sache, was besonders den gesprochenen Dialogen, sonst häufig genug peinliche Durchhänger, die nötige Knackigkeit verleiht. Musik und Libretto erscheinen da endlich einmal auf gleicher Höhe. Auch ohne den Blick auf die Untertitel ist man da stets über die menschlich-göttlichen Umtriebe im Bilde.
Die Interpretenkrone gebührt allerdings Natalie Dessay. Sagenhaft, wie sie mit schier unbegrenzten vokalen Möglichkeiten ihre Eurydike gestaltet. Nicht nur, dass man hier seit langem die besten gesungenen Bühnen-Kreischer goutieren kann. Phänomenal ist vor allem die Koloraturgewandheit von der tiefsten bis zur höchste Lage. Noch in den unmöglichsten Posen schleudert Dessay ihre brillanten Spitzentöne ins Publikum, gibt bei anderer Gelegenheit mal die Kokette, mal die Launische oder Laszive und verleiht schließlich noch der Sterbe- und Klageszene Eurydikes eine unvermutete, berührende Anmut: buffoneske Romantik sozusagen. Yann Beurons höhensicherer, lyrischer und agiler Orphée bringt so viel tenoralen Schmelz in seine Rolle ein, dass man den dauernden Ehekrach wohl doch der Violine zuschreiben muss.
Das alles gibt es in gleicher Perfektion auch bei der hervorragend gelungenen Studioversion zu hören, gewinnt hier aber zusätzliche Dramatik. Dafür bietet die CD einige Änderungen in der Besetzung: Statt der bestens disponierten Martine Olmeda sorgt dort die unvergleichliche Ewa Podless mit ihrem gewaltigen Contralto-Organ als "Öffentliche Meinung" für überspannt-seriöse Stimmung (diese Stimme muss man einfach mal gehört haben!). Den "Cupido" singt in der Bühnenfassung Cassandre Berthon. Mit ihrer quirligen, sehr nuancierten Darbietung übertrifft sie Patricia Petibons Einlagen auf der CD-Version. Dagegen ist dort die hysterische Diana von Jennifer Smith, trotz der mitunter engen Stimme, der auf ihre Weise ebenfalls vorzüglichen Darbietung Virginie Pochons vorzuziehen.

Ansonsten liegen die Unterschiede vor allem in der Technik: Die Lyoner Rampenmikrofone haben eine beschränkte Reichweite und erweisen sich in bewegteren Bühnen-Momenten als nicht flexibel genug. Da geht schon mal die eine oder andere Note unter, oder es verschwindet ein Sänger im Orchesterklang. Dem Schwung der ganzen Produktion tut das keinen Abbruch - zu sehr profitiert Offenbachs Musik von der gelungen Szene.

Laurent Pelly und Jean-Pierre Brossmann sind hier den wohltuenden Weg der Reduktion gegangen. Für das erste Bild genügt ihnen die vollkommen leere Bühne mit ihren schwarz getünchten Wänden und der nackten Technik. Mit Rampen, Treppe und einer Hebebühne versehen und passend ausgeleuchtet wird daraus eine passable Unterwelt. Das fatale Kornfeld, in dem Eurydike ihren Geist aushaucht, wird bei Bedarf hereingerollt. Lediglich der Olymp präsentiert sich als strahlend weißer Rokoko-Bettenland-Discounter, den die Götter (vorzugsweise in Pyjamas, Negligés und diversen anderen Galanteriewaren) bevölkern. Und weil's auf einem Berggipfel kühl ist, schneit Pluto - im wahrsten Sinne - im wattierten Jäckchen auf Schneeschuhen herein, während die "Öffentliche Meinung", sonst im strengen Tweed-Kostüm, im Pelz aufläuft. Die Hölle ist dagegen nur partiell etwas heißer: Eurydike zappt sich hier, altes Hausfrauenschicksal, ebenso gelangweilt durchs Fernsehprogramm wie daheim, derweil sie von Plutos verkommenen Faktotum John Styx - ein Alkoholiker im Endstadium - belästigt wird. Erst Jupiters Annäherung in Gestalt einer drallen Fliege (bei Leda war es ja noch ein Schwan) sorgt für prickelnde Erotik und einige sehr eindeutige Spitzentöne.
Abgesehen von den amüsanten Details, sorgen Pelly und Brossmann vor allem durch ihre sorgfältige Personenführung dafür, dass sich der Witz von Musik und Libretto unverkrampft entfalten kann. So flott gespielt und getanzt hat man das Werk wohl lange nicht mehr gesehen. Eine zeitgeistige "Botschaft" wird Offenbachs Hit erst gar nicht aufgezwungen. Sicher, man kann das nicht besonders originell finden und die schärferen Aktualisierungen des Regietheaters vermissen. Doch dafür kommt hier die Komik des Originals zu um so unmittelbarerer Wirkung. Dass es damit auch noch auf dem Bildschirm klappt, liegt nicht zuletzt an der passablen Kameraführung. Champagnerlaune vor dem Fernseher? - Nun, das vielleicht nicht, aber immer noch mehr Unterhaltung, als man gemeinhin von der "Heimoper" erwarten mag.

Wem sowas gefällt: Inzwischen liegt auch "La belle Hélène" (Die schöne Helena) unter Minkowski zusätzlich zur CD-Produktion (Virgin) in einem ebenfalls vorzüglichen Mitschnitt auf DVD vor (TDK). Die antike Szenerie Homers wurde hier zu einer touristischen Event-Tour durch das schöne Griechenland verfremdet. Der Dirigent hat sich auch hier als Offenbachianer erster Güte erwiesen. Bleibt nur zu hoffen, dass weitere derart gelungene Produktionen folgen.

16 von 20 Punkte

Georg Henkel

 

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