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Musik an sich
 
Pianistische Labyrinthe - GYÖRGY LIGETIS KLAVIERETÜDEN (Buch 1 und 2)
Naxos DDD (AD 2001) / Best. Nr.: 8.555777
Neue Musik / Klavier
 

György Ligeti (geb. 1923): Etüden Buch 1 und 2 (Nr. 1-14a)
Idil Biret, Klavier
www.naxos.de

Anlass für die Komposition seiner Klavieretüden sei seine eigene unvollkommene Klaviertechnik gewesen, so der ungarische Komponist György Ligeti. Hört man nun die zur Behebung dieser Probleme zwischen 1985 und 1993 entstandenen Stücke, so mag man sich fragen, wie schwerwiegend Ligetis pianistisches Unvermögen tatsächlich gewesen sein mag. Oder anders: Mit simpler Fingertechnik haben diese "Übungen" nur entfernt zu tun. Ligetis hochvirtuose, hochkomplexe Klaviermusik stellt jeden Interpreten vor technische und musikalische Herausforderungen, die es in dieser Form vorher so gar nicht gegeben hat. Jenseits der Häufung manueller Schwierigkeiten ist jedes der hier versammelten 15 Stücke ein kompositorisches Labor, eine Versuchsandordung, bei der das musikalische Material auf neuartige Weise verarbeitet und zu überraschenden Lösungen geführt wird. So schaffen diese Etüden überhaupt erst jene Probleme, die sie zu beheben vorgeben. Und dies auf höchstem musikalischen Niveau.

Ligeti, der am 28 Mai dieses Jahres 80 Jahre geworden ist, stellt seine unorthodoxe Meisterschaft auch in einer klassischen Gattung wie der Klavieretüde unter Beweis. In den beiden hier einspielten Büchern (ein dritter Teil ist seit 1995 in Arbeit) zieht er, quasi miniaturisiert, eine Summe seines kompositorischen Schaffens seit den 50er Jahren. "Traditionelles" aus seiner ungarischen Frühzeit wird hier ebenso eingeschmolzen wie die avancierte Musik der 60er und 70er Jahre: die "Mikropolyphonie" der berühmten "Atmospheres" (für Orchester) mit ihren flirrenden Klangflächen, die subtilen harmonischen Schichtungen von "Lontano" (ebenfalls für Orchester), die differenzierte Vielstimmigkeit der "Melodien für Orchester", das rhythmische Gitter von "Continuum" (für Cembalo), die mechanistische Maschinen-Musik aus dem 3. Satz des "Kammerkonzerts", das Hintergründige der "Poème Symphonique für hundert Metronome" sowie die jüngsten polyrhythmischen Experimente, die von der Beschäftigung mit afrikanischer Musik angeregt sind.
Von jeher zeichnete sich Ligetis Musik durch eine geistige und künstlerische Unabhängigkeit von gängigen Schulen aus. Meines Wissens ist er einer der wenigen Komponisten, denen diese Souveränität im ideologiebefrachteten letzten Jahrhundert nicht geschadet hat - im Gegenteil. Intellektualität und Kreativität, die sich an musikalischen, literarischen, malerischen wie mathematischen und naturwissenschaftlichen Phänomenen gleichermaßen entzünden, verbinden sich bei Ligeti mit perfektem Handwerk. Ob er seine Anregungen dem Jazz, der Musikethnologie oder der Präzision mechanischer Musikinstrumente verdankt, dem Nonsense von "Alice im Wunderland", den perspektivisch vieldeutigen Vexierbildern eines Maurtis Cornelius Escher oder der Chaos-Theorie und selbstähnlichen Fraktalen: Seine Musik ist immer auch Ohren-Musik, der Sinnlichkeit, ja Eingägigkeit und eine offensive Virtuosität keineswegs fremd sind.

Dafür sind die Etüden ein eindrückliches Beispiel: Wer denkt nicht gleich bei den ersten Takten von Nr. 1 (Désordre) an die Synkopen der Jazz-Musik? Bei Ligeti ist der "Swing" freilich das Ergebnis genau kalkulierter, uhrwerkartig ineinandergreifender polyrhythmischer Strukturen. Für den Hörer entsteht so eine fiktive Musik, an der mehr als nur zwei Hände beteiligt zu sein scheinen. Nr. 2, "Corde à vide", klingt dagegen wie eine traumentrückte Debussy-Satie-Paraphrase, deren Harmonik wild zu wuchern beginnt. Ähnlich zart, dabei sublim glühend der pianistische "Himmelsbogen" von "Arc-en-ciel" (Nr. 5), suggestiv die unablässig fallenden Skalen von "Vertige" (Nr. 9), erregend die wirbelnden Stufen der "Teufelstreppe" (Nr. 13). So bildkräftig, plastisch, ja physisch diese Musik auf der einen Seite daherkommt, so subtil gestaltet sich ihr verwickeltes Innenleben. Mitunter denkt man an das organische Wachstum von Zellhaufen oder bizarre Kristalisationsprozesse. Aus einfachen Ausgangskonstellationen entwickeln sich immer kompliziertere Gestalten. Um ein Höchstmaß an "Werktreue" sicher zu stellen, hat Ligeti zu allen Stücken detaillierte Spielanweisungen (z. B. "Presto possilbe, sempre molto ritmico" zu Nr. 3, "Touches bloquées") und sogar sekundengenaue Spieldauern notiert.

In diesem Fall macht sich die renommierte, aus Ankara stammende Pianstin Idil Biret auf zu klavieristischen Grenzerkundungen. Das Terrain ist freilich gut bestellt: Vor ihr haben sich schon Pierre-Laurent Aimard (Sony Ligeti-Edition Vol. 3) Frederic Ullen (BIS) und Toros Can (L'Empreinte Digitale) Ligetis Exerzitien unterzogen. Dabei markiert Aimard eher die "romantische", Can die "strukturelle" Position. Während sich Birets Vorgänger den ligetischen Spielanweisungen weitgehend präzise unterwerfen, nimmt sich Biret Freiheiten bezüglich der Tempi heraus. Das bedeutet, sie spielt einige Stücke langsamer, als vom Komponisten gewünscht. Angesichts der fingerbrecherischen Akrobatik und des dichten Satzes von "Coloana infinita" (Nr. 14), deren zweite Fassung (Nr. 14a) Ligeti von vornherein für ein walzenbetriebenes Automatenklavier (Player-Piano) konzipiert hat, mag das wohl verständlich sein. Jedoch will sich in Birets Fassung der beabsichtigte himmelstürmende, klaviatursprengende Effekt nicht so recht einstellen. Man mag als Hörer die Architektur des Stücks zwar besser verfolgen können, doch fehlt der Moment akustischer Täuschung. Damit geht auch der Zauber verloren, der sich bei der Überwindung manueller und mechanischer Grenzen einstellt.
Am überzeugendsten ist Biret in den ruhig ausschwingenden Etüden wie "Ar-en-ciel". Diese bestechen nicht nur durch große Klarheit, sondern die Pianistin gewinnt ihnen durch ihr feinsinniges, gelöstes Spiel "romantische" Nuancen ab, die man solch neuer Musik vielleicht gar nicht zugetraut hätte. Poetisch-sensible Klangformung und brillante Pianistik halten sich dabei die Waage, die musikalische Traditionen, an die Ligeti anknüpft, sind dabei unter den Händen der Chopin-Interpretin stets gegenwärtig. Etwas weniger Strenge, dafür mehr Sinn für das Skurrile und Humoristische hätten hingegen "Der Zauberlehrling" oder auch "Galamb Borong" (das auf deutsch nicht umsonst "Nonsense-Balinesisch" bedeutet) vertragen können.

Fazit: Eine insgesamt gelungene Einspielung, die die Repertoiretauglichkeit von Ligetis Etuden eindrücklich bestätigt. Diese Stücke sind keineswegs nur avanciertes Rätselwerk für Kenner, sondern entpuppen sich als spielbare und hörbare, ja im besten Sinne unterhaltsame und berührende Klaviermusik. Eine angesichts des guten Preis-Leistungs-Verhältnis von Naxos auch für Einsteiger lohnende Aufnahme.

16 von 20 Punkte

Georg Henkel

 

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