Desmarest, H. (d’Hérin, S.)

Circé


Info
Musikrichtung: Barock / Oper

VÖ: 11.04.2023

(CVS / Note 1 / 2 CD / DDD / 2022 / CVS085)

Gesamtspielzeit: 155:16



IN LULLYS FUSSSTAPFEN

Auch sieben Jahre nach dem Tod Lullys war dessen Erbe das unbestrittene Ideal, an dem sich alle Nachfolger messen lassen mussten. Im Vergleich mit seinen immer wieder aufgeführten Opern vermochten nur wenige neue Werke das Publikum zu überzeugen, dessen Urteile oft auf „zu schlecht“, „zu ähnlich“ oder „zu anspruchsvoll“ lautete. Ein einigermaßen sicheres „Rezept“ waren Libretti, die um ambivalente starke Frauenfiguren aus der Mythologie gestrickt wurden – ebenso verführerische wie gefährliche Charaktere, die zumeist über magische Fähigkeiten verfügten, so dass sie sich nehmen konnten, was sie begehrten, bis ihnen durch einen männlichen Helden Einhalt geboten wurde. So wie die Zauberin Kirke, die durch verführerische Liebe bzw. zauberische Macht Odysseus und seine Gefährten in ihre Gewalt bringt.
Dieser Stoff hat unter anderem Henry Desmarest 1694 zu seiner Oper „Circé“ inspiriert. Das Libretto stammt, eher ungewöhnlich für diese Zeit, von einer Frau, Louise-Geneviéve Gillot de Saintonge. Sie bringt dort alles, was eine französische Barockoper ausmacht, zusammen: Schillernde Figuren, exotische Schauplätze, übernatürliche Erscheinungen und natürlich eine handfeste Lovestory mit Happy End. Das tragische Element kommt auch nicht zu kurz: Einer der Gefährten des Odysseus entleibt sich aus verschmähter Liebe auf offener Bühne. Und die böse Zauberin Kirke verliert am Ende ihren reiselustigen Helden an eine hübsche, wohl auch jüngere Rivalin – zornentbrannt lässt sie ihre Insel untergehen.

Das alles hat Desmarest in unüberhörbarer Anlehnung an das große Vorbild gekonnt in Musik gesetzt, so dass es mitunter wie von Lully selbst komponiert klingt. Das muss nicht schlecht sein, wie zum Beispiel eine aparte Schlummer-Szene oder der eine oder andere hochgespannte Monolog beweisen, in denen der Komponist auch eigene Akzente setzt. Und der damalige Erfolg zeigt, dass man offenbar die richtige Mischung hinbekommen hat.

Nun haben sich Sébastien d’Hérin und sein Ensemble „Les Nouveaus Caractères“ dieser Oper angenommen, zusammen mit einer illustren Sängerschar. Die Titelfigur wird von Véronique Gens mit der erwartbaren expressiven Energie dargestellt. Große Monologe und vor allem das Finale bieten ihr Gelegenheit, die obsessiven und zornrasenden Seiten der Kirke facettenreich darzustellen. Odysseus hat in Mathias Vidal einen nicht minder versierten und passionierten Sängerdarsteller. Bei den Damen sticht die Aeolia von Cécile Achille mit ihrem frischen, natürlichen und zugleich leidenschaftlichen Ton heraus. Weniger höhenentspannt ob einer gewisse Schärfe im Vibrato klingt hingegen Caroline Mutel als Asteria und Minerva. Während bei den tiefen Männerstimmen Romain Bockler seine Sache in ebenfalls zwei Rollen überzeugend macht, wirkt der tragische Elphenor des Nicolas Courjal trotz einer an sich schönen Bass-Stimme eher wie ein Buffo-Charakter.

Das Orchester von „Les Nouveaux Caractères“ pflegt einen nuancierten Ton, der den Continuopart reich ausleuchtet, aber insgesamt weniger konturenscharf und präsent ist als bei vergleichbaren Ensembles. Das klingt lyrisch und fein, sucht das authentische Gefühl im Affekt. Tatsächlich bietet die Partitur immer wieder Raum für die Entfaltung zärtlicher Emotionen. Doch insbesondere bei den Streichern wünscht man sich des Öfteren mehr Körper, Biss und Attacke. Der Chor, der vielfältig gefordert ist, macht seine Sache gut und überzeugt in pastoralen wie dämonischen Situationen.

Fazit: Eine bereichernde Einspielung, um die Entwicklung der Tragédie en musique am Beispiel eines begabten Komponisten in Lullys Fußstapfen zu studieren.



Georg Henkel



Besetzung

Véronique Gens, Caroline Mutel, Cécile Achille, Romain Bockler, Mathias Vidal, Nicolas Courjal

Les Noveaux Caractères

Sébastien d' Herin, Leitung


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