Mozart, W. A. (Jacobs)

Le Nozze di Figaro


Info
Musikrichtung: Oper

VÖ: 15.04.2004

harmonia mundi / Helikon
3 SACD hybrid (AD 2003) / Best. Nr. 801818.20


Gesamtspielzeit: 172:00



BUFFO-THRILLER: RENÉ JACOBS «REVOLUTIONÄRER» FIGARO

Man weiß nicht, was man an dieser Neueinspielung des Figaro mehr bewundern soll: das in allen Klang-Farben leuchtende Mozart-Feuerwerk, das Concerto Köln hier abbrennt oder die überbordende Spielfreude des durchweg guten Solisten-Ensembles oder die Fähigkeit des Dirigenten René Jacobs, jenseits der tradierten Rollen-Klischees die „vorrevolutionäre“ Erlebnisperspektive der Figuren konsequent zum dramatischen Motor des Geschehens zu machen. Wie auch immer: Von allen bisherigen „Originalklang“-Einspielungen - Jacobs selbst spricht hier differenzierter von einem „neoklassischen“ Interpretationsansatz - ist diese wohl am überzeugendsten geraten.

ZWISCHEN VERNUNFT UND EROS

Man hört - nein: man sieht sie hier förmlich vor sich: junge Menschen an der Schwelle zu einem neuen Zeitalter. Die Standesschranken sind durchlässig geworden, die alte Ordnung gerät ins Wanken: Adelige verheiraten und verbünden sich mit Nichtadeligen. Bürgerliche emanzipieren sich dagegen mit Witz und List von überkommenen Ansprüchen der Feudalherren, die das Rad gerne noch mal zurückdrehen wollen - und sei es nur für eine Liebesnacht mit der Verlobten des Kammerdieners. Aber auch pubertierende Jungs wissen einfach nicht, wohin mit der Liebe: Gräfin, Zofe, Gärtnertochter - jede steht mal ganz oben auf der Liste, keine wäre gänzlich abgeneigt.
Seliges Rokoko! Amor und Eros sind die wahren evolutionären und revolutionären Kräfte des Menschengeschlechts! Freilich zu ihren eigenen, unberechenbaren Bedingungen: Sie (und nicht etwa Bürgervernunft und Fürstenstolz) machen Geschichte, verwirren die wohlgesponnenen Intrigen und verleihen dem Geschehen immer wieder eine überraschende Wendung, wobei es im Strudel der Leidenschaften auch schon mal auf Leben und Tod gehen kann.
Dass im Figaro die Gefühle also eher auf großer Flamme bis zum Tragödiensiedepunkt aufgekocht werden, sollte da eigentlich nicht verwundern. Und doch wird dieser brodelnde Topf nur allzu häufig durch einen allzu gefälligen, harmlosen Zugriff auf Boulevardkomödien-Temperatur abgekühlt. Da treffen dann aufeinander der gockelhafte gräfliche Schwerenöter, seine verblühende Gattin, ihre solide Zofe Susanna, der lustige Figaro und ein niedlicher Cherubino, ganz zu schweigen von den Knallchargen Don Curzio und Antonio …

NEOKLASSISCH VS. POSTROMANTISCH

Jacobs und seine Sänger enthalten sich wie Mozart solch platter Typisierungen, nehmen statt dessen die starken Gefühle und Motive der Figuren ebenso ernst wie ihre unangenehmen Seiten oder Schrulligkeiten. Die Unbedingtheit, mit der hier Drama in und als Musik inszeniert wird, mag denjenigen Hörer, der den weitschwingenden, üppigen und fließenden Mozart der „postromantischen“ Tradition im Ohr hat, zunächst irritieren. Es stimmt schon: Bei Jacobs „neoklassischer“ Interpretation gibt es wenig Süße, kaum Behaglichkeit. Sein Mozart „hebt“ nicht ab, sondern bleibt auf dem Boden dramatischer Tatsachen - selbst da, wo der Dirigent den Turbo einlegt: Da knistert es vor Spannung, aber es fließt nicht immer. Dafür kann man hier hören, dass Mozarts Ahne Monteverdi heißt: Jacobs Figaro gibt sich im Orchestralen kantig und transparent, stimmliche dagegen sprachnah, schlank und biegsam, ohne vokales Make-up.

STARKE DARSTELLER (FAST) OHNE TADEL: DIE SÄNGER

Und siehe da: Der Graf bekommt durch die überragende Sängerdarstellung von Simon Keenlyside ein attraktiv-bedrohliches Sexappeal und eine ebensolche Aggressivität, die aus dem berühmten Finale des 2. Aktes geradezu einen Thriller macht und eine erfolgreiche Verführung Susannas wahrscheinlich werden lässt. Véronique Gens präsentiert eine (stimmlich nicht immer ganz ausgewogene) jugendliche Gräfin, die ihre Herkunft aus dem Bürgerstand keinesfalls verleugnet und ihren pathetischen Gefühlen etwas eigentümlich Gebrochenes verleiht. Lorenzo Regazzos gar nicht so gutmütiger Figaro besticht durch vokale Schlagfertigkeit, während seine Verlobte Susanna mit Patrizia Ciofi ebenso wissend wie sinnlich daherkommt.
Dem Cherubino gibt Angelika Kirchschlager eine gehörige Dosis vokale Hysterie mit auf den Weg erotischer Irrungen und Wirrungen. Leider ist ihr Timbre nicht androgyn genug, um sich von Gens und Ciofi im erforderlichen Maße absetzen zu können. Kobie van Rensburg macht aus Basilio und Don Curzio prägnante Charakterstudien, gleiches gilt für den Bartolo und Antonio von Antonio Abete. Mit Marie McLaughlin gibt es mal eine ausgesprochen junge Marcellina zu hören - die Charakterisierung geht hier mehr über die Darstellung und absichtlich „zopfige“ Musik. Auch die kindfrauliche Barbarina der Nuria Rial fügt sich bestens ein.

BRILLIANT: CONCERTO KÖLN

Dem runden, samtigen Verschmelzungs-Klang moderner Instrumente setzt Concerto Köln den angerauten, körperhaften Klang von Darmsaiten und Naturhörnern und die warmen Farben der klar konturierten Holzbläser entgegen. So werden zahllose Details der dichten Musik hörbar gemacht, ohne gleich wieder wie „ausgestellt“ zu wirken. Zudem laden Registerkontraste, dramatisch zugespitzten Tempi und eine explosive Dynamik Mozarts Orchestersprache mit ungewohnten Akzenten auf. Dass dies auf „unvollkommenen“ alten Instrumenten so tadellos gelingt, spricht für das Niveau, das hier inzwischen erreicht ist. Jacobs hat schon recht: Die Instrumente unserer Zeit - das sind mehr und mehr die der Alten Musik.
Unerhörten Spielwitz bietet Nicolau de Figueiredo am Hammerklavier mit seinen phantasievollen Improvisationen. Getreu dem Mozartschen Vorbild sorgt er dafür, dass die oft wie lästige Unterbrechungen behandelten Rezitative auf der Höhe der übrigen Musik erscheinen. Da vergehen die knapp drei Stunden wie im Fluge.

Nachdem René Jacobs bereits 1999 mit Cosí fan tutte für Aufsehen gesorgt hat, legt er hier seinen zweiten Mozart-Streich vor. Es ist bei diesem Künstler immer wieder beeindruckend, wie er jedes Werk ganz neu erarbeitet und sich nicht wie mancher Kollege mit vorgefertigten Stilschablonen zufrieden gibt. Sein Figaro gerät daher auch kontrastschärfer, extrovertierter als Cosí, wo sich das Drama mehr in der Seele der Figuren abspielt. Das herbstliche Licht dort ist hier kräftigen Sommerfarben gewichen (die sich, auch Dank des luziden SACD-Klangbilds, ausgesprochen klar und präsent abzeichnen).
Was allerdings geblieben ist, ist die Risikofreude (z. B. bei den Verzierungen, über deren Sinn und Unsinn man schon hin und wieder streiten kann), die Lust am „texttreuen Ausfabulieren“ der Partitur und das Vermögen, die medialen Grenzen der Tonkonserve zu sprengen: Dieser Figaro platzt gleichsam mit der Ouvertüre aus den Lautsprechern und wirbelt auch den Hörer gehörig durcheinander.
Bleibt nur zu hoffen, dass wir bis zum Don Giovanni (ein erster Aufführungszyklus ist für 2006 geplant) nicht wieder ganz so lange warten müssen …



Georg Henkel



Besetzung

Simon Keenlyside, Graf
Véronique Gens, Gräfin
Patrizia Ciofi, Susanna
Lorenzo Regazzos, Figaro
Angelika Kirchschlager, Cherubino
Kobie van Rensburg, Basilio/Don Curzio
Antonio Abete, Bartolo/Antonio
Marie McLaughlin, Marcellina
Nuria Rial, Barbarina

Collegium Vocale Gent

Nicolau de Figueiredo, Hammerklavier

Concerto Köln

Ltg. René Jacobs


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