Riot

Rock World – Rare & Unreleased 87-95


Info
Musikrichtung: Classic Rock / Metal

VÖ: 27.03.2020

(Metal Blade)

Gesamtspielzeit: 76:14

Internet:

http://www.metalblade.de
http://www.areyoureadytoriot.com


Anno 2016 erhielt Giles Lavery den Auftrag, den Nachlaß des 2012 verstorbenen Riot-Bandkopfs Mark Reale aufzuarbeiten und zu katalogisieren. Fast ein Jahr lang hörte er sich durch Berge von Tapes und sichtete haufenweise Videokassetten, bis er einen Überblick hatte, was da noch schlummerte. Und das, was er fand, entpuppte sich als zumindest partiell so interessant, dass es einer Veröffentlichung für würdig befunden wurde. Einige Teile der seit 2015 laufenden Re-Release-Serie bei Metal Blade konnten noch von den Fundstücken profitieren, aber es blieb genügend übrig, um weitere Veröffentlichungen vorzubereiten, beispielsweise eine ganze Serie mit solchem Archivmaterial bei High Roller Records (Reviews folgen) und auch die hier vorliegende, in Silberlingsform auf 2000 Exemplare limitierte 15-Track-CD bei Metal Blade (es gibt für die Fanatiker auch noch verschiedenfarbiges Vinyl).
Letztgenannte CD schummelt im Untertitel allerdings ein wenig – einer der 15 Tracks stammt nämlich nicht aus dem genannten Zeitraum, sondern ist deutlich älter: der Titeltrack. „Rockworld“ hieß, so die Liner Notes im Posterbooklet, in den späten Siebzigern eine Musikshow im Fernsehen (wir befinden uns hier noch in der Prä-MTV-Ära!), und hierfür spielten Riot einen 1:16 Minuten kurzen Themensong ein, kein Instrumental, sondern mit einer kurzen Gesangseinlage von Guy Speranza versehen, stilistisch durchaus auf einer Linie mit dem, was man 1977 auf dem Debütalbum Rock City hören konnte, allerdings hier zusätzlich durch ein hämmerndes Boogie-Piano auffallend. Ein Spieler für selbiges wird im Booklet, das alle beteiligten Musiker der 15 Songs summarisch (mit Trackzuweisungen) aufzählt, nicht aufgeführt – wenn Reale das nicht selber eingespielt haben sollte, müßte es sich also eigentlich um die Besetzung mit Steve Costello als Keyboarder handeln, die bis ins Frühjahr 1975 hinein aktiv war, als Costello durch einen zweiten Gitarristen, nämlich L.A. Kouvaris, ersetzt und zugleich Bassist Phil Feit gegen Jimmy Iommi ausgetauscht wurde. Diese These wird durch die Angabe gestützt, dass Feit sich in der genannten Musikerliste wiederfindet, und die einzige Irritation entsteht dadurch, dass für diesen Track auch noch Rick Ventura als Gitarrist angegeben ist – der stieß aber erst in der zweiten Jahreshälfte 1978 während der Arbeiten zum Zweitling Narita zur Band. Dieser Widerspruch, der dem Unterhaltungswert dieser Songminiatur keinen Abbruch tut, könnte nur in einer logischen Richtung aufgelöst werden: Die englische Wikipedia gibt zum Rezensionszeitpunkt in der Bandmitglieder-Gesamtliste an, Phil Feit habe 1979/80 kurzzeitig noch ein weiteres Mal zur Band gehört – das muß dann nach dem Ausstieg von Jimmy Iommi und vor dem Einstieg von Kip Leming (oder Lemming – die Quellen sind sich bis heute nicht über seine Schreibweise einig, wobei die Majorität zu erstgenannter Variante neigt) gewesen sein, und zu dieser Zeit war tatsächlich Rick Ventura Zweitgitarrist, so dass die Aufnahme also in dieser kurzen Periode zwischen Narita und Fire Down Under getätigt worden sein könnte. Wer dann das Piano eingespielt hat, das bleibt freilich auch im Falle des Zutreffens dieser (quellenmäßig bei Wikipedia nicht belegten) Zuweisung offen.
Ab Song 2 bewegen wir uns dann tatsächlich in der im Untertitel genannten Zeitspanne, und zwar zunächst beim Thundersteel-Meisterwerk. „Bloodstreets“ gibt es hier in einer nur geringfügig von der Albumversion abweichenden Variante, „Buried Alive (Tell Tale Heart)“ allerdings besitzt einen markanten Unterschied: Die lange instrumentale Einleitung der Albumversion steht hier nämlich nicht am Beginn des Songs, sondern fungiert als dessen Outro. Das irritiert anfangs etwas – aber vielleicht nur, weil man die Albumversion samt ihrer innewohnenden Dynamik viel tiefer verinnerlicht hat als die hier auftauchende Alternativversion, die ihr dynamisches Konzept erst langsam und schrittweise preiszugeben beginnt. Hier wird sich im Laufe der Zeit eine persönliche Präferenz bei jedem Hörer herausbilden.
Die nächsten drei Nummern sind mit The Privilege Of Power verbunden. Zunächst haben wir da ein Instrumental, aus dessen Grundidee Mark Reale später „Runaway“ entwickelte, wenngleich man genau hinhören (und den „fertigen“ Song genau kennen) muß, um die Basisgedanken richtig zuordnen zu können. Das ist bei „Killer“ naturgemäß viel einfacher: In der Albumversion gab es ein Duett von Tony Moore mit Joe Lynn Turner zu hören – hier verewigt ist hingegen eine Demoversion, auf der Moore alle Gesangslinien übernimmt und die Turner so oder in ähnlicher Form vermutlich als „Arbeitsmaterial“ bekommen hat, um sich auf seine Aufnahmen vorzubereiten. Was die Version aber richtig interessant macht, ist, dass die Leadgitarre hier noch fehlt und dadurch beispielsweise die Bläsersektion klanglich eine ganz andere Rolle spielt als in der Albumfassung. Der Rezensent glaubt sich dunkel zu erinnern, dass es die reine Moore-Gesangsfassung auch noch auf irgendeiner anderen Riot-Katalogveröffentlichung zu hören gibt, aber er kann bisher noch nicht verifizieren, auf welcher und ob es sich auch da um die „leadlose“ Version handelt oder um eine vollständig instrumentierte Alternativfassung. Als letzten Song dieses Blocks hätten wir dann noch „Maryanne“ in einer Demofassung, die dem Endergebnis schon recht ähnlich ist.
Fünf weitere Songs begeben sich in die Zeit unmittelbar nach The Privilege Of Power. Mark Reale erstellte ein Drei-Track-Demo mit „Medicine Man“, „Magic Maker“ und „Faded Hero“, eingesungen von Tony Moore und laut Musikerliste noch baßseitig von Don Van Stavern eingespielt, der auf der „Privilege Of Power“-Tour dann schon durch Pete Perez ersetzt worden war (auf diesen Umstand gründet sich die Einschätzung, dass die Einspielung zeitnah nach dem Release des Privilege-Albums getätigt worden sein muß). Auffällig an diesen Songs ist, dass vor allem die ersten beiden für Moores Tessitur ziemlich tief liegen, so dass der Vokalist seine Stärken im ganz hohen Bereich außer in den Kreischpassagen am Ende von „Magic Maker“ nicht richtig ausspielen kann – einzig das geschickt mit Halbakustikelementen und Keyboards jonglierende „Faded Hero“ beläßt den Sänger in seiner Haupttrumpf-Lage. Mike Flyntz hat später behauptet, dass Reale seine Songs immer genau auf die Musiker zugeschnitten habe, die er gerade zur Verfügung hatte – das klingt in diesem Kontext hier eher seltsam. Moore war denn auch bald Geschichte, und nachdem Reale schon vor Thundersteel mal mit Harry „Tyrant“ Conklin als Riot-Sänger geliebäugelt und mit diesem sogar ein Demo aufgenommen hatte (in der Zeit, als sein Bandprojekt zwischenzeitlich Narita hieß), kam der seinerzeitige Titan-Force-Vokalist bei der Suche nach einem Moore-Nachfolger abermals in den Blick, und so entstanden „Medicine Man“ und „Magic Maker“ noch einmal als Demoaufnahmen, diesmal mit ihm als Sänger. Diese beiden Nummern haben vor noch nicht allzulanger Zeit auch als Vinyl-Single das Licht der Welt erblickt, und hier bilden sie den Abschluß von Rock World und machen deutlich, dass Conklin durchaus gut zu Riot gepaßt hätte, die sich aber letztlich für Mike DiMeo entschieden.
Zwischen diesen beiden (chronologisch nicht ganz nachvollziehbar getrennt angeordneten) Blöcken stehen noch vier weitere Nummern, diesmal aus der Ära DiMeo, wobei der Sänger selbst aber nur in zweien zu hören ist: „Sylvia“, einem eingängigen Melodic-Rock-Track, und „Good Lovin‘“, wo die Band abermals die Tower Of Power Horns einsetzt, die dieser Nummer eine Extraportion Pfiff verleihen, wobei man allerdings etliche Durchläufe braucht, um die Klasse dieses an den progressiven Eklektizismus von The Privilege Of Power anknüpfenden Songs zu erkennen. Genau aus diesem Grund wird der Song es nicht auf Nightbreaker geschafft haben: Die Scheibe sollte weniger experimentell ausfallen als ihr Vorgänger. „Sylvia“ hätte da zumindest stilistisch problemlos gepaßt, aber auch dieser Song schaffte es nicht aufs Endprodukt und fand zwischenzeitlich lediglich als Bonustrack eines inoffiziellen Live-Releases ans Licht der Welt. Aus den Nightbreaker-Sessions stammt letztlich auch ein Instrumental namens „Creep“, das aber nicht weiterentwickelt wurde (der Titel stammt aus einem kurzen Verbaleinwurf nach dem Ende des Songs, der vermutlich von Reale selbst stammt), ebensowenig ein unbetiteltes, in seinem Hauptgedanken ein ganz klein wenig an Accepts „Man Enough To Cry“ erinnerndes Instrumental aus den Session zum The Brethren Of The Long House-Album, das den zeitlichen Schlußpunkt der Spannweite des hier vorliegenden Materials markiert, bevor auf der CD wie erwähnt die beiden Conklin-Nummern den Abschluß bilden.
Was nach Durchhören der 76 Minuten auffällt: Der Compiler hat keine einzige Speednummer berücksichtigt – von den letzten Takten des unbetitelten Instrumentals abgesehen bewegt sich alles in Midtempolagen, und das, obwohl wir uns mit dem Material hier genau in jener Periode befinden, wo Riot sich am weitesten in den Bereich des melodischen Speed Metal vorwagten und mit Thundersteel eine fast reine Speedscheibe vorlegten, von der hier auf Rock World ausgerechnet die beiden zurückhaltendsten Nummern in Alternativfassungen vertreten sind. Gab es schlicht und einfach kein reizvolles speediges Outtake-Material, oder ist die Auswahl Absicht? Erstgenannte Option wird sich prüfen lassen, wenn die Reihe an die Aufarbeitung der High-Roller-Raritätenserie (die gleichfalls von Giles Lavery koordiniert wurde) kommt. Bis dahin bleibt zu klären, wer sich den Digipack von Rock World ins Regal stellen sollte. Da die Überschneidungen zu anderen Releases marginal zu sein scheinen, macht der Riot-Sammler hiermit definitiv nichts falsch, aber auch der „normale“ Riot-Anhänger darf durchaus ein Ohr in die Mark-Reale-Werkstatt riskieren, zumal Patrick W. Engel ein angesichts der sehr unterschiedlichen Quellen höchst schwierig herzustellendes homogenes Klangbild gezaubert hat („mastered and partially restored“, umschreibt das Backcover seine Rolle). Der Einsteiger sollte hingegen erstmal die Highlights unter den regulären Studioalben (also allen voran die erwähnten Thundersteel und The Privilege Of Power – Vorsicht hingegen beim allgemein völlig überbewerteten Fire Down Under!) erwerben. Bleibt abschließend die editorische Unklarheit zu erwähnen, dass die eingangs erwähnte Fernsehsendung „Rockworld“ geheißen haben soll (nicht zu verwechseln natürlich mit einer gleichnamigen britischen Sendung aus dem frühen 21. Jahrhundert) und daher auch der Riot-Themensong so heißt, der CD-Titel aber die Getrenntschreibung wählt. Ach ja, und die Riot-„Tradition“ der etwas, ähem, seltsamen Coverartworks erfährt hier eine weitere Fortsetzung ...
Tragisches Detail am Rande: Der eingangs erwähnte L.A. Kouvaris, der erst 2019 mit Rick Ventura und drei weiteren Musikern eine Band namens Riot Act gegründet hatte, mit dieser hauptsächlich alte Riot-Nummern der ersten drei Alben spielte und gerade dabei war, diese Band popularitätstechnisch auf ein höheres Level zu hieven, ist einen Tag nach der Europa-Veröffentlichung von Rock World am Covid-19-Virus gestorben. RIP!



Roland Ludwig



Trackliste
1Rockworld Theme1:16
2 Bloodstreets (Alternate Version)4:43
3 Buried Alive (Tell Tale Heart) [Alternate Version]7:25
4 Runaway (Instrumental Early Idea Demo)5:04
5 Killer (Tony Moore Vocals)3:40
6 Maryanne (Rough Mix)5:30
7 Medicine Man (Tony Moore Vocals)5:45
8 Magic Maker (Tony Moore Vocals)6:00
9 Faded Hero (Tony Moore Vocals)5:37
10 Sylvia (Outtake)6:19
11 Good Lovin (Outtake)5:04
12 Creep (Instrumental Outtake)4:18
13 Instrumental 1994 (Brethren Outtake)4:49
14 Medicine Man (Tyrant Sessions)5:42
15 Magic Maker (Tyrant Sessions)6:52
Besetzung

Mark Reale (Git)
und viele weitere Musiker



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