Musik an sich


Reviews
Dall’Aquila, M. (O’Dette)

Musik für Laute


Info
Musikrichtung: Renaissance Laute

VÖ: 26.03.2010

(Harmonia Mundi / Harmonia Mundi CD / DDD / 2009 / Best. Nr. HMU 907548)

Gesamtspielzeit: 77:17



ZUKUNFTSMUSIK

Auffällig viel Hall hat diese Aufnahme mit Lautenmusik von Marco dall’Aquila (ca. 1480-1514). Für dieses kammermusikalische Repertoire stellt man sich doch eher einen intimeren klanglichen Rahmen vor als die überresonanten weiten Räume des Castello Piccolomini in Capestrano. Es handelt sich allerdings um eine Notlösung, wie der Interpret, Paul O’Dette, im Beiheft ausführt. Eigentlich sollte die Produktion am Wirkungsort des Komponisten, im Apennin-Städchen Aquila, eingespielt werden. Doch das schwere Erdbeben vom 6. April 2009 machte diese Pläne zunichte. Und auch das zunächst anvisierte Ersatzquartiert, eine mittelalterliche Kirche im 43 km entfernten Capestrano, wies noch erhebliche Schäden auf, so dass sie einer sofortigen Sanierung bedurfte. Also wich man in das Kastell aus. Immerhin, tröstet uns O’Dette, ein Bauwerk, das Marco dall’Aquila gekannt haben könnte …

Es wäre sehr schade gewesen, wenn diese originelle Musik angesichts der technischen Probleme nicht den Weg auf CD gefunden hätte. Denn anders, als die biographischen Eckdaten dall’Aquilas vermuten lassen, wirkt die Musik erstaunlich „modern“, d. h. könnte so zum Teil wenigstens auch aus dem 17. Jahrhundert stammen! Es handelt sich, wenn man so will, um Zukunftsmusik der Renaissance.
Das liegt zum einen an den weitgespannten Akkordbrechungen, mit denen der Komponist eine eindrucksvolle Klangfülle erzeugt. Genau dieses style brisé genannte Mittel aber sollten die französischen Lautenisten hundert Jahre später verwenden, was den gefühlten Stilsprung erklärt. Zum anderen ist dall’Aquilas Harmonik kühn und dynamisch: kühn, da sie gespickt ist mit ausdrucksvollen Dissonanzen, die sich ebenfalls erst später in dieser Weise „emanzipieren“. Und dynamisch, weil sie weniger statisch-modal als tonal-gerichtet wirkt. Auch dies ist ein Mittel, das um die Wende zum 17. Jahrhundert in der Musik für ungleich stärkere Affekte und inneren Drive sorgt.
Schließlich hat der Komponist in großer Zahl französische Chansons für sein Instrument bearbeitet. Das Intavolierung genannte Verfahren findet in den eher leichten, liedhaften Sätzen reichere Möglichkeiten zur spielerischen Entfaltung als bei streng gebundener polyphoner Musik.

O’Dette legt einen großen, mit 36 Stücken ausgesprochen kurzweiligen Querschnitt vor: neben rasanten Virtuosenstücken und Tänzen finden sich verhaltenere Madrigalbearbeitungen, gestaltreiche Fantasien und streng kontrapunktisch gefügte Ricercare. Was bei O’Dette wieder einmal vom ersten Ton an für die Interpretation einnimmt, ist seine Fähigkeit, sich in den Stil eines Komponisten genau einzufühlen und die gewiss minutiöse Erarbeitung des Repertoires mit seinen zahllosen Detailentscheidungen am Ende durch eine gelöst und spontan wirkende Darbietung vergessen zu machen. Ein edel gestaltetes Cover mit informativem Beiheft rundet diese Produktion angemessen ab.



Georg Henkel



Besetzung

Paul O’Dette: sechsaitige Laute nach Magno Tieffenbrucker (um 1550) & sechsaitige Alt-Laute nach italienischen Modellen.




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