Musik an sich


Reviews
Brouwer L. / Villa-Lobos, H. (Korhonen)

Etuden und Studien für Gitarre


Info
Musikrichtung: Gitarre

VÖ: 25.02.2004

Ondine / Note 1 (2 CD DDD (AD 2003) / Best. Nr. ODE 10283-2D)

Gesamtspielzeit: 63:00

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Ondine



DYONYSISCHE STRENGE, MEISTERLICHES SPIEL: GITARRENMUSIK VON HEITOR VILLA-LOBOS UND LEO BROUWER

Der Altmeister der Gitarrenvirtuosen hielt sich mit seinem Urteil über die ihm gewidmeten 12 Etüden von Heitor Villa-Lobos (1887-1959) nicht zurück: Diese Musik sei "schrecklich ... vulgär und närrisch"!

Herr Segovia, ich muss doch bitten! Welchem Geschmack sie auch immer gehuldigt haben mögen: Als Nicht-Fan dieses Instruments darf ich wohl sagen, dass mich diese 12 "schrecklichen" Stücke aus dem Jahre 1928 beim Hören ausnahmslos in ihren Bann gezogen haben (mein Favorit: das geradezu manisch-unheimliche Lent, Track 11).
Wenn man die akustische Gitarre vor allem mit Lagerfeuerromantik, Zeltlagern, Messdienergruppen und steuerfreien Verdienstmöglichkeiten in Einkaufspassagen verbindet, dann mag man zunächst kaum glauben, welche Klänge man diesem Allround-Instrument entlocken kann. Einmal ganz zu schweigen von der dynamischen Palette. Also: Hier klingt nichts nach biederem Zupfgeigenhansel.

Villa-Lobos verschmilzt die pulsierenden Rhythmen und die sinnlichen Melodien seiner brasilianischen Heimat mit der Kontrapunktik eines Bach, der malerischen Dramatik von Chopin und der Virtuosität Paganinis. Heraus gekommen sind phantastische Miniaturen mit überraschenden harmonischen Verwandlungen und ungewohnten Klangfarben. Schwermut und Lakonie schlagen um in dyonysischen Übermut, überhitzte Fröhlichkeit wird von strengen Strukturen gebändigt.
1950 hat sich Andrés Segovia im Vorwort zur zweiten Ausgabe schon sehr viel freundlicher über den Zyklus geäußert: Von "purer musikalischer Schönheit" und "dauerhaftem ästhetischen Wert" ist da die Rede. Eben! Vielleicht lag es an den Anpassungen, die Villa-Lobos vorgenommen hatte: die Musik klingt in der jüngeren Version weicher, traditioneller.

Timo Korhonen hat sich bewußt für die strengere, auch "modernere" Erstfassung entschieden - und spielt sie meisterlich. Die vielen Farben und Stimmungen kommen bestens zur Geltung. Korhonen eröffnet weit schwingende Klangräume, vermag aber auch, die atemlose Spannung mancher Passagen bis aufs äußerste auszureizen. Sein Instrument klingt dabei herrlich sonor. Im Künstlerporträt ist wohl nicht umsonst von Korhonens Freiheit der Interpretation, bärenhafter(!) Stärke und dem Reichtum seines Gitarrenklangs die Rede.
Mit diesem Einsatz überzeugt der Interpret auch bei den mitunter skizzenhaft kurzen, aber nicht weniger eindringlichen Estudios sencillos des afro-kubanischen Komponisten Leo Brouwer (*1939), die mehrheitlich in den Jahren 1959-61 entstanden sind. Hier werden die indigenen Einflüsse zu einem Filter, durch den hindurch der Komponist auf die Tradition westlicher Konzertmusik blickt. Im Ergebnis ist daraus eine faszinierende Melange geworden, so als hätte Bela Bartok, der große Sammler und "Verwerter" ungarischer Volksmusik, zwischendurch auch mal Urlaub auf Kuba gemacht.

Der finnische Gitarrist Korhonen, Jahrgang 1964, wollte mit dieser Aufnahme die Breite klassischer lateinamerikanischer Gitarrenmusik dokumentieren. Das ist ihm ebenso eindrucksvoll wie mitreißend gelungen - man darf auf weitere Entdeckungen dieser Art gespannt sein.



Georg Henkel



Trackliste
01-12 Heitor Villa-Lobos: 12 Etudes 34:47
12-32 Leo Brouwerer: 20 Estudios sencillos 28:13
Besetzung

Timo Korhonen, Gitarre


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