Billy Joel

Turnstiles (Review-Serie, Teil 5)


Info
Musikrichtung: Rock / Songwriter

VÖ: 05.11.2021 (1976)

(Columbia / Legacy / Sony)

Gesamtspielzeit: 36:23



Billy Joel-Vinyl-Review-Serie 2022, Teil 5: Turnstiles

Bereits der Vergleich der Artworks von Turnstiles und dem Vorgänger Streetlife Serenade spricht Bände. Zwar waren auch 1975 keine Surfbretter und Beach Szenarien zu sehen (Das hätte zu Billy Joels kritischem Blick auch nicht gepasst.), aber die sonnendurchflutete Straßenzeile atmet den Geist der Westküste und des Sonnenschein-Staates Kalifornien. Ganz anders das in dunklen Tönen gehaltene Cover von Turnstiles, das Billy Joel vor dem Drehkreuz in einer U-Bahn-Station zeigt. Ja, der kurzzeitige Wahl-Kalifornier ist zurück in New York. Und so spannt auch gleich die erste LP-Seite seines vierten Albums den Bogen vom „Goodbye to Hollywood“ zum „New York State of Mind“.


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Das eröffnende hymnische „Say Goodbye to Hollywood” atmet noch ganz die unbeschwerte Lebensfreude von L.A. – mit hochfliegendem Saxophon und Streichern garniert. Das hält aber nur solange wie man nicht auf den Text hört. Der glänzende Sunset Boulevard ist eine verlogene Sache. Sag „one Word out of Line“ und Du wirst merken, Du hast einmal Freude gehabt. Der brandneue Schlitten, mit dem Bobby durch die Nacht cruist, ist nur geliehen. Alles flüchtiger Glanz. Und so kann die letzte Zeile nur lauten: „I’m afraid it’s Time for Goodbye again.“

Song 2 ist Ort- und Zeitansage zugleich. Billy Joel kehrt nach New York zurück. Aber so wie er zuvor nicht im Zentrum des Molochs gelebt hat, sondern östlich von Brooklyn und Queens in Hicksville, Long Island, geht er wieder nicht in die Stadt, sondern siedelt sich zumindest vorerst nördlich von ihr in Highland Falls (in direkter Nachbarschaft der Militärakademie West Point) an. Dazu passt auch die Menschenmischung auf dem Cover, die keineswegs den multiethnischen Charakter New Yorks widerspiegelt. Die bunte Menschenmenge aus u.a. Partygängern, Studenten und einer Großmutter mit ihrem Enkel präsentiert – mit Ausnahme eines kaum sichtbar im Hintergrund stehenden Schwarzen - die weiße Mittelschicht, die in Hicksville und Highland Falls in den 70ern wohl noch die Mehrheit der Gesellschaft gestellt haben wird.

Natürlich romantisiert Billy Joel auch hier nicht, obwohl der sanfte verspielte Ton seines Pianos wieder einmal diesen Eindruck erwecken könnte. Man sagt „these are not the best of Times” beginnt er. Und er widerspricht nicht, aber dies seien nun einmal die Zeiten, die wir bekommen haben. Und das merkt man uns an. Denn „we are always what our Situations hands us”.
Und so leben wir vor uns hin, argumentieren, schließen Kompromisse und leben irgendwo zwischen Vernunft und Wahnsinn, zwischen „Sadness or Euphoria“ und erkennen, dass sich das nie ändern wird.

Und dennoch vergeht die Zeit, wie der Reggae „All you wann do is dance“ zeigt. Joel beschreibt eine Frau, die von der guten alten Zeit träumt als es die Beatles noch gab „when Tomatoes were cheaper“. Ihr entspricht die junge Frau mit den Kopfhörern auf dem LP-Cover. Du kannst dieses Leben heute nicht mehr leben, erklärt er ihr. Weil die Zeiten andere sind. Heute müsstest Du dich mit harten Drogen rumschlagen und du wurdest schon von einem Bier krank, wenn Du überhaupt mal eins getrunken hast.

Und dann kommt das - nach dem Opener – zweite Highlight von Turnstiles. Sehr ruhig, relativ lang genießt der Heimkehrer den „New York State of Mind“, in dem er sich befindet. Er braucht jetzt einfach den Alltag des Big Apple, die New York Times, die Daily News. Dabei ist es ihm egal, ob er nun im quirligen China Town oder im beschaulichen Riverside Park unterwegs ist. Er springt eben nicht in den Flieger nach Miami Beach oder Hollywood, sondern steigt in den Greyhound der Hudson River Line, der ihn wohl von dem nördlich von New York am Hudson gelegenen Highland Falls ins Stadtzentrum bringt.


Rahmenbedingungen

Billy Joel hätte bereits Streetlife Serenade gerne mit seiner Tourband aufgenommen. Die Produzenten bestanden aber auf versierten Studiomusikern. Als der für Turnstiles angeheuerte Produzent Jimmy Guerico auf die Idee kam, das Album mit der Begleitband von Elton John einzuspielen, platzte Billy Joel der Kragen. „So I kind of rebelled“, erklärt er in den Liner Notes zum aktuellen Vinyl-Boxset. Er schmiss den Produzenten raus, übertrug seiner Frau das Management und produzierte Turnstiles selbst. Was die Herren in der Chefetage bei Columbia von diesem Alleingang hielten, konnte er sich gut ausmalen. „I can imagine a little red Pencil Line going through my Name.” Was er wohl durchaus nachvollziehen konnte, denn er ist fast überzogen selbstkritisch nicht der Meinung, dass er einen besonders guten Job abgeliefert hat. Aber er hatte die Möglichkeit, Neues auszuprobieren, wie die Sirene zu Beginn von „Miami 2017“ oder das „Prelude“ zu „Angry young Man“. Und Columbia machte gute Miene zum bösen Spiel und gewährte ihm soliden Support für eine lange Tour, an deren Ende er sein Durchbruchsalbum The Stranger schreiben konnte.

Turnstiles kommt im aktuellen Boxset wie die Vorgängeralben in der Ausstattung der Erstveröffentlichung. Die Veränderungen zu den Vorgängern sind gering, aber bezeichnend. Wieder steckt das Innencover in einem einfachen Steckcover. Allerdings ist es dieses Mal keine Innenhülle mit Labelaussparungen, sondern bedrucktes Hochglanz-Papier, auf deren einer Seite erstmals die Texte zu den Songs abgedruckt sind, die im Boxset so doppelt vorhanden sind.


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Die zweite LP-Seite beginnt, wie die erste endete, mit dem sehr ruhigen „James“. Es muss sich hier nicht um eine konkrete Person handeln. Es kann auch ein Typus sein, wie er auf dem Cover im Hintergrund zu sehen ist. Ein korrekt gekleideter junger Mann mit Akten oder Studienmaterial vollgepackt, der mit aller Kraft an seiner Karriere arbeitet. Joel beneidet ihn keine Sekunde lang. Ich bin raus gekommen. Du hast Erwartungen erfüllt. Alles ist prima und gut organisiert und alle sind zufrieden mit Dir. Aber Du lebst nur den Traum, den andere davon träumen, wie Du sein sollst. Und er gibt ihm einen guten Rat: „Do what’s good for you, or you’re not good for anybody.”
Das Ganze kommt sehr ruhig, sehr melancholisch daher – zum Teil nur von dem E-Piano begleitet. Highlight Nummer 3 dieses Albums.

Das sofort getoppt wird. Es gibt einen totalen Stimmungsumschwung. Mit dem furiosen „Prelude“ stürmt Joel in einen Country Rocker, der an „The Ballad of Billy the Kid” vom Klassiker Piano Man erinnert. Und der „Angry young Man” folgt in gewisser Weise auch den Spuren des Outlaws Billy the Kid. Er ist genau das Gegenteil von „James“, steht auf dem Cover direkt neben ihm im Hintergrund. Aber er steckt genau wie James in einer Sackgasse.

Er ist der ewige Rebell, der es sich in seiner Märtyrerrolle bequem gemacht hat. „He’s proud of … the Battles he‘s lost. … And he likes to be known as the angry young Man”.
Von sich selbst sagt Billy Joel, auch er sei durch die Zeit des rechtschaffenen Zorns hindurch gegangen. Er habe auch an Kämpfe geglaubt, habe aber mittlerweile erkannt „that just Surviving was a noble Fight“.
Eine der ganz starken Nummern im rockigen Teil des Billy Joel-Katalogs.

Die blasseste Nummer auf der zweiten Seite ist „I’ve loved these Days“, das nicht nur musikalisch noch einmal auf den Glanz des Openers zurückgreift, auch wenn es etwas ruhiger ist.
Die Glitzerwelt, die er hier beschreibt, erinnert an die Beschreibung von „Say Goodbye to Hollywood“, aber man dürfte sie auch auf dem Broadway, in Vegas oder Miami finden – geprägt von Champagner, Kokain und Kronleuchtern.
Billy Joel verteufelt als das nicht. „I’ve loved these Days”. Aber „we know it’s all a passing phase”. Für ihn ist sie vorbei, aber er blickt nicht ungern auf sie zurück.

Das Gericht, das Billy Joel über Hollywood hat ergehen lassen, erreicht am Ende von Turnstiles auch New York in einem Stück, das nur scheinbar eine apokalyptische SF-Geschichte ist. In dem dramatischten Epos, das Joel seit „Captain Jack“ geschrieben hat, beschreibt er eine Gesellschaft, die nur um sich selbst kreist und nicht bemerkt, wie nebenan schon alles zusammenbricht. Musikalisch ein weiteres Highlight.

Fazit

Mit fünf absoluten Highlights und drei Stücken eines starken Beiblatts gehört Turnstiles zu den stärksten Alben Billy Joels. Es fällt nur minimal gegenüber dem noch etwas unmittelbareren Piano Man ab.
Das hatten mittlerweile auch die Kollegen bemerkt. So kann Peter Gambaccini in seiner Billy Joel-Biographie nach der Besprechung von Turnstiles ein ganzes Kapitel einschieben, in dem er über Cover-Versionen von Turnstiles-Songs spricht.
Eine deutsche Cover-Versionen kannte Gambaccini nicht. Der zwielichtige Songschreiber Dieter Dehm hatte unter dem Pseudonym Lerryn auf seinem Album Abweichend 1981 aus „James“ „Gerd“ gemacht und ein deutliches Statement für die Akzeptanz von Homosexuellen abgegeben.



Norbert von Fransecky



Trackliste
Seite 1
1 Say Goodbye to Hollywood (4:36)
2 Summer, Highland Falls (3:17)
3 All you wanna do is dance (3:39)
4 New York State of Mind (6:00)

Seite 2
1 James (3:53)
2 Prelude / Angry young Man (5:13)
3 I've loved these Days (4:33)
4 Miami 2017 (seen the Lights go out on Broadway) (5:12)
Besetzung

Billy Joel (Keys, Voc)
Doug Stegmeyer (B)
Liberty deVitto (Dr)

Howie Emerson (Git)
Russell Javors (Git)
James Smith (Ac. Git)

Mingo Lewis (Perc)
Richard Cannata (Sax)



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