Firetower

Near Death Experience


Info
Musikrichtung: Thrash Metal

VÖ: 05.09.2018

(Metal Race )

Gesamtspielzeit: 51:59

Internet:

http://www.metalrace.com


Glasnost und Perestroika machten es in der Sowjetunion ab den späten Achtzigern auch der Metalszene etwas leichter, Aktivitäten zu entfalten, und so taten sich anno 1990 in Tscheljabinsk, unweit der Nahtstelle von Europa und Asien, fünf blutjunge Metaller zusammen – keiner war schon in der Nähe der 20 angekommen – und gründeten eine Band namens Firetower. 1991/92 kam es zu einem personellen Umbruch, als Bassist Ljonja Zadow die Band verließ. Gitarrist Dmitri Ustjuschanin wechselte an den Baß, mit Konstantin Tschernow kam ein neuer Gitarrist dazu, und als dann auch noch Sänger Jeff durch Sergej Podolij ersetzt wurde, war das Quintett beisammen, das 1993 ein Albumlänge aufweisendes Demotape namens Near Death Experiences einspielte. Dessen Titel sollte ungewollt prophetische Qualitäten zeigen, denn das war auch schon das letzte konservierte Lebenszeichen der Band, die sich einige Zeit später auflöste, 1998 nochmal für ein einzelnes Gedenkkonzert auf einem Festival zusammenkam und dann endgültig in den Äonen der Metalwelt verschwand, wobei auch über etwaige Nachfolgeprojekte der Mitglieder, die weiland unter Spitznamen arbeiteten, wenig bekannt ist und zumindest keines überregionale Popularität erreichte. Gitarrist Max Bljumental starb im Jahre 2015 und erlebte somit nicht mehr mit, dass Near Death Experiences nunmehr auch auf Silberling veröffentlicht worden ist.
Der Aufdruck unter dem Cleartray verheißt „Old School Russian Thrash Metal“ – und das irritiert gewaltig. Unter Old School Thrash versteht man allgemein sowas wie frühe Kreator oder Exodus, und es gab auch in Rußland durchaus Bands, die sich ähnlicher Stile befleißigten, etwa Mortifer, Krüger oder Shah. Mit all denen haben Firetower aber relativ wenig zu tun, eigentlich nur den Fakt, dass auch sie tatsächlich ins Thrash-Lager gehören, dort allerdings in die Schublade, die in den Spätachtzigern als Techno Thrash bezeichnet wurde und die stets von einer nur kleinen, aber geschmackssicheren Fanschar geliebt wurde, wenn man mal davon absieht, dass auch Bands wie Annihilator oder Megadeth am Rande dieser Spielart siedelten und durchaus größere Erfolge feiern konnten. Davon waren Firetower weit entfernt, und das lag durchaus nicht daran, dass sie etwa schlecht gewesen wären – sie teilten das Schicksal von verkannten Kultbands wie Dyoxen, Sacrosanct oder Realm, allesamt Kritikerlieblinge, aber für die breite Masse der seinerzeitigen Metaller einfach zu kompliziert. Will man innerhalb Rußlands einen Vergleich ziehen, so fällt einem das gleichfalls 1993 erschienene selbstbetitelte Debütalbum von Valkyria ein, und auch das blieb für die meisten Anhänger unter dem Radar, trotz durchaus prominenter Besetzung etwa mit Ex- und Heute-Wieder-Arija-Drummer Maxim Udalow. Über eine solche wiederum verfügten Firetower nicht, aber das hatte keinerlei negativen Einfluß auf das Resultat – ganz im Gegenteil: Die Instrumentalisten gehören zweifellos zur technischen Oberklasse, und auch die Songwritingfraktion evozierte reihenweise gute Ideen, die sie in für diese Thrash-Sorte typischer Manier aneinanderreihte, aber durchaus auch logische Entwicklungen und klassische Dramatisierungen zuließ, also den roten Faden keineswegs vollständig zerschnippelte, sondern problemlos auch in der Lage war, geradlinige Viererbeats über geraume Zeit durchzuhalten, wenn es angebracht erschien. Dazu kommt ein prima Händchen für Details, wobei sich Ustjuschanin hervortut, wenn er etwa in „Dream Comes True Again“ bei Minute 5 soliert oder an sein Zweitinstrument, die Keyboards, wechselt, um hier und da einen Klangtupfer zu setzen, und sei es ein gongartiger Sound wie in „Great Account“, der allerdings auch von Drummer Wlad Kudrin stammen könnte. Selbige Nummer ist mit 6:25 eine der längeren des Albums, wird diesbezüglich allerdings noch von „Suicidal Tendence“ (8:25) und dem Albumcloser „Capture Of Solitude (No Way Out)“ (7:23) geschlagen, nicht jedoch im Tempo, denn die gelegentlichen blastartigen Passagen besitzen sonst auf der Scheibe ebensolchen Seltenheitswert wie eingängige Melodien. Von „Dream Comes True Again“ (5:40) abgesehen haben Firetower in den ersten Albumteil hauptsächlich kürzere Nummern gepackt, wobei sie einen eigentümlichen dramaturgischen Geschmack beweisen: Dem Intro „Towards To Reason“, in dem ein Erzähler vor einer angedüsterten, latent orchestralen Backgroundklangkulisse Bibelpassagen, und zwar aus dem Buch Hiob, rezitiert, folgt mit „Memories“ nämlich gleich noch ein Instrumentalstück von knapp vier Minuten Länge, und zwar ein klassisches Metalinstrumental mit genau dem technischen Anspruch, den man dann generell auf der Scheibe vorfindet. Interessanterweise gibt es im weiteren Verlaufe mit „Psychosis“ und „Waves Of Acheron“ noch zwei weitere Instrumentals, diese allerdings mit Akustikgitarren, atmosphärischen Keyboards und weiteren orchestralen Anhauchungen wieder etwas anders strukturiert. Von den elf Songs der CD weisen also nur sieben Gesang auf – ob die Instrumentalisten erkannt hatten, dass Podolij mit ihrem Können nicht mithalten konnte? Wir hören rauhes Thrash-Shouting, das weitgehend auf einem Ton verbleibt und Variationsbreite allenfalls gelegentlich zuläßt, damit allerdings in einer Art eigentümlichem Kontrast zu den Wundertüten steht, die die Instrumentalisten permanent hervorzaubern. Dabei sondert Podolij in „Dream Comes True Again“ auch mal einen sirenenartigen Schrei ab, der andeutet, dass er vielleicht durchaus mehr konnte, als er hier zeigt, und eine melodiehaltende Sirenenstimme wäre stilistisch im vorliegenden Kontext durchaus passend gewesen. Möglicherweise ist das aber gar nicht er selbst, sondern Tschernow oder Ustjuschanin, die für die Backing Vocals verantwortlich waren. Dieses Rätsel kann also nicht gelöst werden, und wir müssen Near Death Experiences so nehmen, wie es eben auf uns gekommen ist. Wer beispielsweise schon auf der ersten Sacrosanct-Scheibe kein Problem mit Michael Lucarellis Vocals hatte, könnte vielleicht auch die hier zu hörende „Steigerungsstufe“ vertragen. Ausgiebig Gewöhnungszeit wäre sowieso vonnöten: Die Scheibe braucht etliche Durchläufe, um über die reine Begeisterung ob der instrumentalen Glanztaten, die man schon nach dem ersten Hören empfinden kann, hinausgehend zu zünden. Aber das ist der Techno-Thrash-Anhänger ja sowieso gewohnt oder will das sogar so.
Der Re-Release enthält elf der zwölf Songs des originalen Tapes – der zwölfte, „The Great Stillness (Silence)“, wurde nicht mit übernommen, da es sich sozusagen um eine Coverversion von John Cages „4‘33“ handelte. Im Booklet finden sich die Lyrics aller Songs außer denen von „Capture Of Solitude (No Way Out)“, die laut einem dortigen Vermerk verlorengegangen seien – vielleicht nur ein Euphemismus dafür, dass schlicht und einfach kein Platz mehr vorhanden war. Der Rest des Booklets ist nämlich mit tonnenweise alten Fotos gefüllt, von denen einige noch mit kleinen Texterklärungen versehen wurden (in ähnlichem English for Runaways wie die Lyrics), wodurch dann auch kein Platz mehr für irgendwelche strukturellen Angaben blieb, also etwa zu den Aufnahmen oder einem eventuellen Remix oder Remastering, welchletzteres durchaus möglich erscheint, denn nach russischem Underground von 1993 klingen die 52 Minuten nun ganz und gar nicht. Dazu finden sich zumindest ein paar Informationen in zwei Zeitungsausschnitten, die allerdings in etwas gewöhnungsbedürftigem Kontrast abgedruckt wurden und daher schwer lesbar (und natürlich in Russisch gehalten) sind; der Sänger äußert dort übrigens, dass alle Bandmitglieder an Theosophie interessiert seien. Für die Aufnahme ist dort angegeben, dass sie innerhalb von neun Tagen im U-Sound-Studio in Tscheljabinsk durchgeführt wurde und der Toningenieur Spirodonow vorher mit Master gearbeitet habe – er brachte also Thrash-Erfahrung mit und wußte, wie sowas zu klingen hat, denn gemeint sind hier logischerweise die russischen Edel-Thrasher Master und nicht die Speckmann-Amis mit ihrem rohen Death Metal. Prominente Connections hatten Firetower also durchaus – sie spielten im April 1992 auch mal einen Gig mit Arija (damals Rußlands größte Metalband) und Korrosija Metalla (bevor diese ins nationalsozialistische Lager wechselten). Für Verwirrung sorgt eines der letzten Fotos, das die augenscheinlich noch recht jungen Jeff, Zadow und Ustjuschanin zeigt, allerdings mit zwei anderen Menschen namens Zepp und Phill, über deren konkrete Rolle sonst nichts herauszubekommen ist. Die Urbesetzung kann das nicht sein, denn die ist mit einem Bandfoto vom November 1990 vertreten, und da sind Bljumental und Kudrin schon dabei. Vielleicht gab es auch noch weitere Zwischenstufen der Besetzungsentwicklung, Wiedereinstiege oder ähnliche Situationen, oder es handelt sich tatsächlich um eine noch frühere Besetzung des Jahres 1990. Probleme hat der Re-Release auch mit der korrekten Benennung der Scheibe: Die historischen Quellen sprechen von Near Death Experiences, was das an das alte angelehnte, aber offensichtlich neu angefertigte Cover des Re-Releases übernimmt, während an den Trayseiten und unter dem Tray die Singularform zu lesen ist. Und dann wäre da noch die eingangs bereits erwähnte stilistische Unklarheit mit dem Old School Thrash, die als Neuzutat allerdings zumindest darauf hinweisen könnte, dass man auf der Scheibe keinen Ton in Richtung Biopantura hört, was ja beim Entstehungsjahr 1993 durchaus schon möglich gewesen wäre. Wie auch immer: Dem Hörgenuß tun diese editorischen Unklarheiten keinen Abbruch, und wer Techno Thrash klassischer Bauart mag, sollte hier definitiv ein Ohr riskieren und prüfen, ob er mit dem Gesang klarkommt. Wenn ja, könnte so mancher hier ein kleines Juwel entdecken.



Roland Ludwig



Trackliste
1Towards To Reason (Intro)2:24
2Memories3:44
3Dream Comes True Again5:40
4Inner Logic3:14
5Morbid Visions4:05
6Psychosis1:41
7Great Account6:25
8Suicidal Tendence8:25
9Waves Of Acheron3:49
10Beyond The Endless Dream5:03
11Capture Of Solitude (No Way Out)7:23
Besetzung

Sergej Podolij (Serge) (Voc)
Max Bljumental (Mad Max) (Git)
Konstantin Tschernow (Black Cat) (Git)
Dmitri Ustjuschanin (Dave Death) (B)
Wlad Kudrin (Crash) (Dr)



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