Debussy, C. (Schvartz, H.)

Preludes Buch I & II


Info
Musikrichtung: Impressionismus Klavier

VÖ: 24.02.2021

(Mode / Klassik Center Kassel / 2 CD / 2003 / Best. Nr. mode 322/23)

Gesamtspielzeit: 95:21



KLANGWERDUNG

Ich weiß nicht, warum diese Aufnahme von Claude Debussys beiden Preludes-Büchern erst jetzt erscheint – doch was die argentinische Pianistin Haydée Schvartz und ihr Tontechniker David Walters hier an drei Tagen im Sommer 2003 eingespielt und eingefangen haben, gehört gewiss zu den herausragenden Interpretationen der beiden Zyklen.

Was macht diese Produktion so besonders? Da ist zunächst der volle, natürliche Klang des Flügels: Wie dreidimensionale Objekte schweben die Töne und Akkorde im Raum. Tief ausgehört, dabei weder schwer noch dick, sondern schlicht ungemein präsent und leuchtend, farbig und detailliert kann sich die Musik entfalten. Beste Voraussetzungen für Debussys poetische Imaginationen, deren oft vieldeutigen, archaische Klangwelten tiefe Seelenschichten anrühren können.

Sehr fern liegt bei Haydée Schvartz alles Hübsche, Salonmäßige. Sie schenkt der Musik Zeit und Raum, eine angemessene Weite und Ruhe, die Debussys fließenden Texturen Luft zum Entfaltung lässt. Tatsächlich gehen Debussys Tempobezeichnungen fast ausnahmslos auf Langsamkeit, Ruhe, mäßige Bewegtheit, was ja virtuose Verdichtungen und rasante Umschläge nicht ausschließt. Doch weil Schvartz sich immer ein klein wenig mehr Zeit lässt als viele ihrer Kolleg*innen, gibt es bei ihr um jeden Klang herum gewissermaßen ein Passepartout aus Stille. Das verleiht der Musik eine auratische Präsenz, alles ist immer hier und jetzt ganz da, momenthaft, jeder Augenblick kann ganz für sich stehen. Und zugleich bleibt alles eingewoben in einen Zusammenhang von steter Verwandlung, wechselnden Licht- und Schattenverhältnissen, farbiger dynamischer Konturierung.
Eine paradoxe Gleichzeitigkeit Bewegung und Ruhe lässt Debussys Musik schweben und zugleich außerordentlich plastisch und greifbar erscheinen. Die Zuhörenden werden tief in die eigentümlichen Zwischen- und Zwielichtwelten der „Preludes“ hineingeführt, die hier einen unwiderstehlichen hypnotischen Sog entfalten.

In den klassischen Referenzaufnahmen von Arturo Benedetti Michelangeli oder Krystian Zimmerman erleben wir eine spieltechnische Verfeinerung, die uns die Gegenstände, auf die sich Debussys nachgestellte und in Klammern gesetzten Titel beziehen, mitunter in verblüffendem Illusionismus nahe bringen. Innere Bilder äußerer Objekte oder Geschehnisse entstehen.
Bei Schvartz wirken Debussys Inspirationen dagegen häufig viel abstrakter; der Klavierklang bezieht sich weniger auf etwas außerhalb von ihm liegendes, sondern ist zunächst einmal – der Klavierklang. Die Welt als reine Resonanzerfahrung. Schvartz Einspielung bringt uns Debussy damit ganz als einen Komponisten des 20. Jahrhunderts nahe. Insbesondere Kontemplationen wie die Delphischen Tänzerinnen (I,1), die wehenden Vorhänge (I,2) oder die Fußspuren im Schnee (I,6) erscheinen plötzlich wie Vorwegnahmen des späten Morton Feldman, in dessen „Triadic Memories“ oder „Palais de Mari“ gleichsam die musikalische Essenz dieser und anderer Preludes nachklingt, dort dann völlig abstrahiert: ganz Klang, ganz Atmosphäre.

Bei allem Innensog fehlt es dieser Aufnahme jedoch nie an Binnenspannung, so dass auch die szenischen Momenten und anekdotischen Situationen, auf die „La sérenade interrompue“ (I,9), „General Levine“ (II,6) oder die „Hommage à S. Pickwick Esq. P.P.M.P.C.“ (II,9) und das berühmte „Feux d’artifice“ (II,12) anspielen, lebendig werden – freilich gilt auch hier: Da ist zunächst ein Klanggeschehen als innere Resonanz eines äußeren Ereignisses. Bekanntlich hat Debussy die Titel der Preludes diesen in Klammern nachgestellt. Um die Poesie dieser Musik zu erleben, braucht es die äußeren Ereignisse und Auslöser eigentlich nicht, diese sind vollkommen sublimiert, transformiert in den Klavierklang.

Das innere Leben der Welt, ihre Essenz - als Klang. Die Resonanz der Dinge. Ihr Klang-Sein. Das hat etwas von einer Zen-Meditation. Wie sagte der Komponist Karlheinz Stockhausen einst: „Ich werde die Klänge …“



Georg Henkel



Trackliste
CD 1 Buch 1 47:01
CD 2 Buch 2, Bonus Tracks 48:20
Besetzung

Haydée Schvartz: Klavier


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