Corona-Perspektiven

Es zieht sich. Wie bei einem 400m-Lauf, wo die letzten 100 Meter am anstrengendsten sind. Die Lunge brennt, die Beine kämpfen mit Bleischwere. Doch da, die Ziellinie scheint in Sichtweite. Dann hebt jemand ein Schild hoch: „Sorry, ist doch ein 1000m-Lauf. Mindestens." So fühlt es sich für die meisten wohl gerade an. Besonders aber für die Musiker, all die freien Wandervögel der Klangkunst, deren Existenz durch die fortwährenden Lockdowns akut bedroht ist. Gestern noch auf den globalen Podien unterwegs - heute reicht es kaum für ein anständiges Streaming-Konzert aus dem heimischen Wohnzimmer, das umsonst angeboten wird.

Wobei Streaming-Konzerte immerhin kleine Lichtblicke sein können. Weil man doch ganzheitlich hört, kann Musik, die man zugleich sieht, ungleich tiefer und stärker wirken. Kürzlich stieß ich noch auf die kleinen Konzerthappen, die William Christie und einige Nachwuchskünstler von Les Arts Florissants über das vergangene Jahr bis jetzt unter den Hashtags #ArtsFloSummer und #ArtsFloWinter auf dem Youtubekanal des Ensembles ins Netz gestellt haben. Aufwändig produzierte Videos, die meist auf dem Landsitz von Christie, zugleich die Stiftung für sein Lebenswerk, entstehen. Manchmal aber auch in der Philharmonie oder in Versailles. Oder an mehreren Orten gleicheitig, um daraus später verblüffende Collagen zu produzieren. Aus den Corona-Beschränkungen werden inszenatorische Tugenden: Kleine Besetzungen, großzügige räumliche Choraufstellungen, ohne Publikum, zwischen fünf und zwanzig Minuten lang. Aufgrund seiner Bekanntheit, quasifamliären Künstlernetzwerke und Sponsoren scheinen ArtsFlo etwas besser als viele andere durch die Krise zu kommen. Hallo, wir sind noch da! Das scheint die Botschaft der Stunde zu sein. Ältere Konzertmitschnitte von großzügigen musikalischen Gartenfesten mit flanierendem Publikum wirken fast schon wie aus einer vergangenen Welt.

Andernorts wird eifrig geforscht, um die Infektionsrisiken in geschlossenen Räumen abschätzen zu können. Das Fraunhofer-Institut rückte kürzlich mit einem aerosolausstoßenden Kunstkopf namens "Oleg" ins Konzerthaus Dortmund ein. Der Kopf versprühte Atemwölkchen, simulierte Ausbreitungsgeschwindigkeit und Reichweite von potenziell infektiösen Tröpfchen. Und siehe da: Dank der vertikalen Hochleistungsentlüftung wird nicht nur die Raumluft innerhalb von 20 Minuten komplett ausgetauscht, auch potenzielle Viren kämen nicht weit, Schnelltests können eine weitere Maßnahme sein. Nun sind Menschen keine Kunstköpfe, sie müssen anreisen, bewegen sich überhaupt gerne im Kollektiv und möchten sich begegnen, unterhalten, berühren ... zwanglos. Also helfen all die Forschungen nicht so viel, wenn alle grundsätzlich zu Hause bleiben sollen, weil in erster Linie Kontaktvermeidung die Infektionen verhindert. Oder wenn die Sicherheitskontrollen sich derart auswachsen, dass der Aufwand das eigentliche Ereignis überlagert.

Da bleibt manchmal nur das auf den Haushalt beschränkte Musizieren. Solo oder Duett. Oder das Tanzen vor den Boxen mit den alten und frischen digitalen Konserven. Für die musikalische Seelen-Impfung und physische Fitness. Wozu wir im Rezensionsteil wieder einiges an Empfehlungen oder Warnungen beizutragen hätten.

Auch traute Zweiergespräche sind ja unter diesen Bedingungen möglich - siehe dazu unser Titel-Interview von Wolfgang Giese mit Rob McHale.

Und zum Lesen findet man ja mal wieder mehr Zeit. Unsere Buchrezensionen beweisen es. Was trieb zum Beispiel Morton Harket, als es A-Ha nicht gab? Passen Judas Priest auf 100 Seiten? Und taugt das Buch von Pascal „Raskal“ Clair zu 40 Jahren französischer Metal-Szene?

Last not least hat Ingo zum fünften Mal eines seiner Lieblingslieder neu interpretiert.

In diesem Sinne wünsche ich allen eine anregende, vielleicht auch die Entspannung, Motivation und Abwehr stärkende MAS-Durchquerung.

Georg Henkel