Viele Noten und ein Pseudo-Charakter: Das Gewandhausorchester spielt Mozart und Schostakowitsch




Info
Künstler: Gewandhausorchester

Zeit: 08.02.2019

Ort: Leipzig, Gewandhaus, Großer Saal

Fotograf: Nikolaj Lund

Internet:
http://www.gewandhausorchester.de

Michael Sanderling (Foto) zählt zweifellos zu den profiliertesten Schostakowitsch-Dirigenten unserer Zeit. Einerseits hat da das väterliche Schaffen Spuren hinterlassen – Kurt Sanderling war einer der wichtigsten Parteigänger Schostakowitschs, wenn es um die Popularisierung von dessen Musik in der DDR ging –, andererseits geht der Filius längst auch eigene Wege. Der Rezensent konnte sich davon im Februar 2012 bei einer Aufführung der Siebenten mit Sanderlings eigenem Orchester, der Dresdner Philharmonie, überzeugen, und mit ebenjener setzte der Dirigent im Januar 2019 sogar die extrem selten gespielte Zweite und die kaum häufiger zu hörende Dritte aufs Programm – der Rezensent brachte die Termine indes zu seinem großen Bedauern nicht im Kalender unter. In der ersten vollständigen Februarwoche nun ist Sanderling beim Gewandhausorchester zu Gast, und auch dort gibt es eine Schostakowitsch-Sinfonie zu hören, die nicht zum Standardrepertoire gehört: Zwar hat der Rezensent die Dreizehnte anderthalb Jahre zuvor beim Philharmonischen Orchester Altenburg-Gera gehört (siehe Rezension auf diesen Seiten), aber dieser zeitlich wie räumlich eher geringe Abstand geht angesichts der niedrigen Aufführungsgesamtzahl dieses Werkes schon als ein gewisses Kuriosum durch.

Keine Ahnung, wer auf die Idee gekommen ist, vor diesem Werk Mozarts Konzert für Klavier und Orchester Es-Dur KV 482 spielen zu lassen – selbst Dramaturgin Ann-Katrin Zimmermann findet im Programmheft keine schlüssige Erklärung für diese Kombination, und wenn man mal in Schostakowitschs Memoiren schaut, kommt Mozart dort allenfalls peripher vor und scheint für den großen Russen im Gegensatz zu Bach keine zentrale Rolle gespielt zu haben. Sei’s drum – dann versucht man eben beide Teile des Konzerts getrennt voneinander zu betrachten.
Nun handelt es sich bei diesem Werk um eines derjenigen, auf die das alte Mahnwort „Zu viele Noten, Mozart, zu viele Noten!“ zuzutreffen scheint, was den Solopart angeht. Erschwerend kommt hinzu, dass der Rezensent, der schon zahlreiche Klavierkonzerte im Gewandhaus miterlebt hat, sich an keins erinnern kann, wo das Tasteninstrument derart dominant agierte, so dass etwa die Holzbläser selbst mit vereinten Kräften nur dann eine Chance haben, sich angemessen Gehör zu verschaffen, wenn Martin Helmchen am Klavier pausiert. Keine Ahnung, ob die Mischungsverhältnisse an anderen Stellen des Saals besser sind – jedenfalls greift Sanderling erst im letzten Satz entscheidend ein, und er kennt die Akustik des Großen Saals von zahlreichen Gastdirigaten und auch noch aus der Zeit, als er selbst noch als Solocellist im Gewandhausorchester spielte, eigentlich gut genug. So ist es schwer, hier einen objektiven Bewertungsmaßstab zu finden, zumal diverse weitere Probleme hinzutreten: Die Bläser brauchen in der noch klavierlosen Einleitung ein Weilchen, bis sie sich gefunden haben, Sanderling hält das Grundtempo des ersten Allegro-Satzes enorm hoch, so dass Helmchen seine vielen, vielen Noten auf noch engerer Zeitfläche unterbringen muß, und das irgendwie unruhige Publikum ist bei der Stimmungserzeugung in den zurückhaltenderen Passagen auch nicht gerade hilfreich. Klar, stimmungsmäßig überzeugt schon die breit dahinfließende Einleitung dieses Satzes, und man kann auch Helmchens flüssiges Spiel mögen und ihn dafür loben, dass er dieses auch in leiseren Passagen durchzieht und nicht dazu neigt, ebenjene zu verschleppen, zumal er auch die Kadenz ziemlich sportlich nimmt. Nur will sich in diesem ersten Satz eines nicht einstellen: das Gefühl des Miteinander-Musizierens.
Bessert sich das im Andante? Jein. Sanderling nimmt das Orchester hier enorm weit zurück, und wenn die Streicher ihre Instrumente nicht streichen, sondern streicheln, dann erzeugt das durchaus ein Wohlgefühl – solange Helmchen pausiert, denn hier reicht schon relativ wenig Lautstärke aus dem Klavier, um das Orchester mal wieder im klanglichen Nichts verschwinden zu lassen. Wenn man es aber hört, etwa in den aberwitzigen kurzen Tempoattacken, dann genügt das allerhöchsten Ansprüchen, und die kurzen Dramatisierungsschübe erzeugen den einen oder anderen wohligen Schauer.
Was passiert im abschließenden Allegro-Satz? Sanderling scheint gemerkt zu haben, dass hier etwas suboptimal läuft, und versucht zunächst etwas Schwung herauszunehmen, was ihm partiell gelingt, auch wenn Helmchen weiterhin sehr flüssig spielt und ja trotzdem mit den vielen Noten Mozarts klarkommen muß. Obwohl das Miteinander zwischen Solist und Orchester schwierig bleibt, so überzeugt das Tempofeinmanagement hier doch eher (solange man es wahrnehmen kann), das Holz wirft wunderbar gesangsartige Themen ein, und ein paar vereinzelte Momente im hinteren Teil des Satzes, beispielsweise die winzigen Verharrungen um die besagten Holzeinwürfe oder auch von allen brillant umgesetzte Verzögerung vor dem Schluß machen deutlich, was hier eigentlich für Könner auf der Bühne sitzen bzw. stehen und was uns im schwierigen Miteinander der ersten zweieinhalb Sätze entgangen sein könnte. Der Applaus fällt überraschenderweise doch recht kernig aus, und Helmchen spielt schon bei der zweiten Rückkehr eine Zugabe, auch von Mozart: das Adagio aus der mittleren F-Dur-Sonate. Auch dieses nimmt der Pianist erstaunlich zügig und spielt selbst die leisen Passagen mindestens mezzoforte, aber seltsamerweise stört das die Stimmungserzeugung hier wenig. Die Ruhe, die der Pianist gegen Ende auszustrahlen beginnt, läßt den Hörer trotzdem mit der verzweifelten Frage „Warum erst jetzt?“ zurück.

Als Dmitri Schostakowitschs 13. Sinfonie b-Moll op. 13 „Babi Jar“ fast genau 24 Jahre zuvor letztmalig auf den Notenpulten des Gewandhausorchesters lag, damals dirigiert von Kurt Masur, da war auch Jewgeni Jewtuschenko anwesend, dessen Gedichte von Schostakowitsch in dieser Sinfonie in Töne gegossen wurden. Der Dichter trug im Konzert eigene Werke vor – eine Programmkombination, die anno 2019 nicht mehr möglich ist, da Jewtuschenko 2017 verstarb. So bilden seine Worte aus dem Munde von Michael Nagy und den von Pavel Brochin vorbereiteten Herren des MDR-Rundfunkchores plus einiger Verstärkungssänger die einzigen verbalen Zeugnisse dieses Programmteils. Der reichlich 40-köpfige Chor steht dabei auf der Orgelempore (gesungen wird das russische Original, und es gibt Übertitel), der eine ausdrucksstarke und recht voluminöse, wenngleich nicht an einen Wolgatreidler heranreichende Baßstimme ins Feld führende Nagy aber unten neben Dirigent Sanderling. Letzteres ergibt für den Rezensenten ein abermaliges klangliches Paradoxon: Befindet sich der Dirigent mittig auf seinem Podest, so verdeckt sein Körper den Schall aus Nagys Mund und zwingt selbigen, das Ohr des Rezensenten auf Umwegen zu erreichen – da sich der Dirigent aber auf seinem Podest recht viel bewegt, kommt es zu eigentümlichen Schwankungen in der Intensität des Gesanges, für die das Ohr einen recht langen Gewöhnungsprozeß benötigt. Aber für dieses kuriose Problem kann keiner der Beteiligten was – Sanderling kann sich ja nicht „schalldurchlässig“ machen, und wo auch immer er sich aufhält, es wird immer jemanden von den 1900 Anwesenden geben, der sich in seinem „Schallschatten“ befindet.
Also hinein ins Geschehen – und der Leser sei gewarnt: Er wird in den folgenden Zeilen sehr oft das Wort „Pseudo“ in verschiedensten Zusammensetzungen finden. Vieles ist in Schostakowitschs Musik nicht so, wie es auf den ersten Blick bzw. Höreindruck zu sein scheint, es wimmelt nur so von doppelten oder auch multiplen Böden, und dass man die Kunst des Zwischen-den-Noten-Hörens beherrscht, ist hier ganz besonders wichtig. Dazu gehört freilich eine Interpretation, die diese Mindestens-Doppelbödigkeit erkennt und erkennbar macht – und eine solche liefern Michael Sanderling, die Sänger und das Gewandhausorchester an diesem Abend ohne Zweifel ab. Das beginnt gleich im eröffnenden Adagio, das der Sinfonie ihren Titel gab, wenn das Orchester hier eine exzellente pseudo-harmlose Einleitung hinlegt, bevor der erste Gesangseinsatz kommt. Und so geht es weiter, etwa in die pseudofolkloristische Bialystok-Passage – aber wenn es darauf ankommt, kann der Komponist auch sehr ernst werden, todernst sozusagen: Die Aufforderung „Schlagt tot die Juden“ darf nicht relativiert werden, also kommt sie mit allem gebotenem Ernst und viel Dramatik von der Bühne geschallt. Von Gestaltungsextremen der Marke Andris Nelsons hält sich Sanderling allerdings fern, ohne dass man jetzt zwingend beides gegeneinander ausspielen muß: Die Verstörtheit in „Wer kommt herauf?“ etwa läßt durchaus unterschiedliche Intensitätsgrade zu. In der hinteren Satzhälfte verschwindet der Pseudo-Charakter dann sogar ganz: Die Eindringlinge werden immer eindringlicher, das Inferno rollt zäh, aber unaufhaltsam vorwärts, der Chor meißelt seine Sätze förmlich aus, die Glocke wird immer dräuender, und auch die Schlußkatastrophe gerät höchst eindringlich und real – klarer Fall: Die von den Nationalsozialisten 1941 in der Babi-Jar-Schlucht bei Kiew zusammengetriebenen Juden, an die Jewtuschenkos Gedicht erinnert, sind nicht pseudotot, sondern wirklich nicht mehr am Leben.
Als zweiten Satz nun aber ein Allegretto namens „Humor“ zu setzen geht wieder nur mit dem beschriebenen Pseudocharakter, der einem das Lachen nicht selten im Halse steckenbleiben läßt und zugleich auf die subversive Wirkung des Witzes in totalitären Regimes verweist – Jewtuschenkos Glück war, dass er das in der Chruschtschow-Tauwetterperiode veröffentlichen konnte, denn unter Breshnew wäre er dafür wahrscheinlich im Gulag gelandet und unter Stalin ohne viel Federlesen erschossen worden. (Anfrage an Sender Jerewan: Ist Leben auf dem Mars möglich? Antwort: Im Prinzip nein. Auch dort nicht.) Jedenfalls agiert das Orchester hier herrlich pseudowitzig, Konzertmeister Andreas Buschatz wird zum Pseudostehgeiger, die Vernichtung des politischen Witzes gerät nicht zu durchdringend (weil man diesen eben nicht ausrotten kann), und so bleibt der ganze Satz bis zum Ende trotz seiner durchaus ernsten Moral ganz planmäßig flatterhaft.
„Im Laden“ ist wieder ein Adagio, und somit wird schon klar, dass es sich nicht etwa um eine Geißelung des Konsumverhaltens im Zeitalter der kapitalistischen Dekadenz handelt – geschildert werden statt dessen die Mühen der sowjetischen Frauen, die Waren des täglichen Bedarfs für sich und ihre Familien zu erwerben, an denen es ja durchaus immer mal mangelte. (Anfrage an Sender Jerewan: Stammt der DDR-Bürger vom Affen ab? Antwort: Im Prinzip nein. Kein Affe kommt mit zwei Bananen pro Jahr aus.) Die Tiefstreicherflächen geraten trotz der Tatsache, dass es die Frauen förmlich zum Laden hinzieht, ultrafinster und illustrieren prächtig die Trostlosigkeit, wenn es mal wieder nicht das zu kaufen gab, was man eigentlich brauchte – da es aber durchaus andere Dinge zu kaufen gab, findet eine geschickte emotionale Differenzierung statt. Pseudocharaktere gibt es auch hier: Die brutale Steigerung zu „Schändlich ist’s“ macht einen Pseudoaktivismus klar, der Änderungen im Schicksal der geplagten Frauen verspricht, aber weiß, dass diese nicht einhaltbar sein werden, und so fällt letztlich wieder alles in die Tiefstreicherfläche zurück.
Mit „Ängste“ folgt ein weiterer langsamer Satz, allerdings ein Largo – das verrät den Pseudocharakter schon in dieser Bezeichnung, denn im Sozialismus galten die Ängste ja als praktisch überwunden. (Anfrage an Sender Jerewan: Darf man die Partei kritisieren? Antwort: Im Prinzip ja. Es lebt sich in den eigenen vier Wänden aber besser.) Folgerichtig hängt der Satz attacca am dritten und nimmt dessen Finsternis auf, getragen nicht zuletzt durch eine völlig jenseitig grollende Tuba – dass der Krankheitsstand des Publikums das letzte Quentchen Spannung torpediert, dafür kann keiner was. Auch das extrem hintergründige Gedonner der großen Trommel erzeugt spannendes Unheil, obwohl dieses dann schrittweise abgebaut zu werden scheint. Sanderling legt zum wiederholten Male brillante Steigerungsstrukturen ins Geschehen, die Glocke erzeugt böse Ironie, wenn es ums Denunziantentum geht, und der Pseudocharakter bleibt natürlich auch nicht aus: „Die Ängste sind tot“ verkündet der Chor über einem unheimlichen Pianissimo-Gedonner aus der großen Trommel, was eine hervorragende Überleitung ins pseudofriedliche und deshalb durchaus angedüstert bleibende Satzfinale ergibt.
Das abschließende Allegretto „Eine Karriere“ hängt abermals attacca an und gibt dem Pseudo-Affen jetzt richtig Zucker – dass Schostakowitsch von den typischen Karrieristen nichts, aber auch gar nichts hielt, ist allgemein bekannt, und wer es noch nicht wußte, der findet es kongenial in dieser Musik verankert. (Anfrage an Sender Jerewan: Darf ein kleiner Parteifunktionär einen großen Parteifunktionär kritisieren? Antwort: Im Prinzip ja. Aber nur einmal.) Da erzeugen die Flöten Pseudolockerheit, da breiten sich pseudofriedliche Klangflächen aus, da erklingt pseudowitzige Pseudokammermusik, da verkünden ironische Zupfpassagen das Schicksal von Galilei, da spielt das Fagott als sowieso gern für humoristische Zwecke eingesetztes Instrument eine zentrale Rolle, da bleibt der Ausbruch zu „Eroberer der Stratosphäre“ auf halbem Wege stecken, da kombiniert das Satzfinale pseudofriedliche, pseudowitzige, pseudofinstere Elemente, da mixt sich Pseudokammermusik mit Pseudoharfengoldigkeit, und die Glocke ist natürlich auch wieder da und dräut dem Karrieristen unterschwellig Unheil. Das alles setzen Sanderling, die Sänger und das Orchester kongenial um, trotz einer Husterinvasion steht auch die Spannung am Schluß enorm lange, und sehr viel Nicht-Pseudo-, sondern echter und ehrlich gemeinter Applaus belohnt die Mitwirkenden für eine sehr starke Aufführung eines hochinteressanten Stückes, welche die kleinen Schwächen in der ersten Programmhälfte locker wettmacht.


Roland Ludwig



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