Musik an sich


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Bach, J. S. (Kuijken)

Messe H-Moll & Matthäus-Passion


Info
Musikrichtung: Barock Messe / Oratorium

VÖ: 29.01.2010

(Challenge Classics / Sunnymoon 2 & 3 SACD / 2008 u. 2009 / Best. Nr. CC 72316 u. CC 72357)



DURCHLICHTET

Die 1980 von Joshua Rifkin geäußerte These, dass Bach seine Vokalparts durchgängig einfach, dass heißt mit einem Ausführenden pro Partie komponiert hat und nicht für einen „richtigen“ Chor, und dass dieses solistische Konzertisten-Ensemble eher selten durch Ripieno-Stimmen verdoppelt wurde, hat selbst unter Experten für historische Aufführungspraxis polemische Ablehnung provoziert. Zumal den kleinen Sängerensembles um ein Vielfaches größere Orchester gegenübergestanden haben.
Dass sich diese Position dennoch nach und nach Gehör verschaffen konnte, verdankt sich sicherlich auch den zahlreichen Quellen, die Joshua Rifkin und – in Buchform - Andrew Parrott dazu über die Jahre zusammengetragen haben, mehr aber noch einer gewachsenen Interpretationspraxis. Besonders konsequent hat nach Andrew Parrot der Belgier Sigiswald Kuijken die Möglichkeiten der Kleinstbesetzung erkundet. Hatten mich seine ersten Kantateneinspielungen aufgrund der noch etwas konturlosen Sängerleistungen nicht besonders angesprochen, so überrascht mich nun die ganz eigene, durchaus revolutionäre Qualität, die seine Einspielung der H-Moll-Messe und der Matthäuspassion auszeichnet.

Beide Werke wurden bereits schon vorher von anderen Interpreten in der 1:1-Besetzung realisiert. Vor allem die Matthäus-Passion, dieses Opus Maximum von Bach, scheint inzwischen zur regelrechten Nagelprobe für solistische Ensembles geworden zu sein. Paul McCreesh und das Gabrieli Consort & Players versuchten in ihrer Interpretation, die Dynamik und Expressivität der Normalbesetzung zu erreichen, gleichsam als Beweis dafür, dass es so geht, ohne dass man auf liebgewordene dramatische Klangwirkungen in den Chören verzichten muss. Nun, auch Bach bevorzugte dafür schon lieber „starcke Stimmen“. Bei McCreesh wurde den zum Teil renommierten Sänger/innen zudem viel Spielraum zur individuellen Entfaltung z. B. in den Arien zugestanden. Manches an dieser mutigen Aufnahme, wie der sehr schnell genommene Eingangschor, mutet heute schon wieder etwas angestrengt expressiv an.
Die im vergangenen Jahr veröffentlichten Aufnahme des ebenfalls aus Großbritannien stammenden Dunedin Consort & Players (Leitung: John Butt) zeichnet schon eine wesentlich entspanntere Haltung aus, ohne dass es darum an Ausdruck mangeln würde.

MATTHÄUS-PASSION

Doch erst der Belgier Sigiswald Kuijken scheint sich in seiner Darstellung ganz von der Vorstellung gelöst zu haben, mit den großbesetzten Vorlagen in der Klangwirkung gleichziehen zu müssen (es geht ihm dabei nicht um richtig oder falsch, sondern um eine grundsätzlich begrüßenswerte Bandbreite der Interpretation).
La Petite Bande kommt sogar ohne Kontrabässe aus und setzt stattdessen französische basse du violon ein, eine tiefere Abart des Cello. Das Continuo erlaubt sich nicht die leiseste improvisatorische Freiheit, so streng akkordisch hat man das lange nicht mehr gehört. (Manchmal hätte ich mir da kräftigere Akzente gewünscht, McCreesh beispielsweise tat gut daran, dem 1. Chor eine richtige große Kirchenorgel mit kernigen barocken Farben zuzuordnen. Das stärkt den Ripieno-Sopran mit dem Choralpart im Eingangschor merklich, bei Kuijken ist er eher eine Nebenstimme.) Kuijken selbst spielt als Konzertmeister die 1. Violine und die Gambe, es gibt keinen Dirigenten mehr. So besteht jedes Ensemble im Grunde aus vier Solist/innen und elf Instrumentalis/innen (inkl. Orgelpositive). Für die kleineren Soli wie die Ripieno-Choräle im Eröffnung- und Schlusschor des 1. Teils oder Pilatus, Judas, Petrus usw., stehen noch ein Sopran und zwei Bässe zur Verfügung. (Bach hat diese wenig aufwendigen Rollen wohl damals einfach von Mitgliedern der Orchester singen lassen, bei denen es sich ja auch häufig um Sänger handelte.)

Das Ergebnis frappiert: Feiner, lichter, im spirituellen Sinn gelassener habe ich die Matthäuspassion noch nie gehört. Welch eine Ruhe des Musizierens! Kann man die Choräle konzentrierter und klangschöner darbieten? Die Hauptsolisten singen ihre Arien ohne jeden Nachdruck, ganz unangestrengt mit frischen, jungen Stimmen und sehr diskreten Verzierungen im Dacapo – es fällt angesichts der geschlossenen Leistung schwer, Einzelne hervorzuheben. (Ich tue es trotzdem: Mit verinnerlichter Rhetorik realisiert Christoph Genz die Evangelistenpartie (kaum ist ein stärkerer Kontrast zur erregten Deklamation von Mark Padmore bei McCreesh denkbar!); auch der uneitle, geradlinige Jesus von Jan Van der Crabben überzeugt rundum, gerade weil er jedes pastorales Pathos vermeidet. Gerlinde Sämann (Sopran I) und Petra Niskaiová (Alt I) gestalten die Arien „Aus Liebe“ und „Erbarme dich meiner“ betörend.) Der Verzicht auf das inzwischen wieder weithin üblich Durchschnitts-Vibrato zugunsten einer angenehm belebenden ‚Bebung‘ ist eine Wohltat, weil die Stimmen in ihrer natürlichen Schönheit zur Geltung kommen und ein vollkommen homogenes Ensemble bilden. (Dass nicht alle Ausführenden Muttersprachler sind, bemerkt man eigentlich nur bei den kleinen Partien ein wenig. Insgesamt ist die Textverständlichkeit vorbildlich und übertrifft noch die der beiden Vergleichseinspielungen.)
Der klassisch ausgewogene Barockstil, den der reife Bach mit dieser Passion komponiert und über die Jahre durch Überarbeitungen vervollkommnet hat, kommt in dieser verfeinerten Version ganz zu sich. Man muss freilich bereit sein, sich auf diese verwandelte Hörperspektive einzulassen. Ich weiß, dass ich in anderen Zusammenhängen einen solch keuschen Ansatz schon mal als „nazarenerisch“ (im Sinne des 19. Jahrhundert), neutral oder gar fad bezeichnet habe. Doch hier: Ich bin vollkommen überzeugt und höre diese fast schon zu bekannte Musik wieder einmal tief bewegt! Eben weil nichts an eine Oper, wenig auch an ein Oratorium in der Tradition Händels gemahnt, der innere Spannungsbogen gleichwohl nicht abreist.

MESSE H-MOLL

Im vergangenen Jahr hat Kuijken bereits eine H-Moll-Messe auf vergleichbarem Niveau vorgelegt. Mit weitgehend denselben Solist/innen hat er dieses späte Sammelwerk, das im Grunde aus vier selbständigen Teilen besteht, die sich zu einer katholischen Missa fügen lassen, ebenso transparent aufgenommen. Während Andrew Parrott (Virgin) oder Konrad Junghänel (Harmonia Mundi) im vollen Tutti mit Pauken und Trompeten Ripieni zur Verstärkung einsetzen (eine vollkommen stimmige Lösung), hält Kuijken ganz die einmal eingeschlagenen Richtung bei: Die Besetzung orientiert sich am Minimum (zwischen 5 und 8 Stimmen), das Orchester besteht aus sieben Streichern (2x2 Violinen, Viola, Schultercello & Violone) und sechs Holzbläsern plus Orgel, dazu treten gegebenenfalls drei Trompeten und Pauken sowie einmal, im „Quoniam tu solus sanctus“ des Gloria, ein Horn (und erfreulicherweise klingt diese sperrige Arie hier so, dass sie dem Hörer nicht in Anspannung ob möglicher falscher Töne versetzt).
Dieser Interpretation geht die Erhabenheit, die andere, auch historisch informierte Einspielungen kultivieren (z. B. Thomas Hengelbrock im gravitätisch breit genommenenen „Kyrie“ (Sony/DHM)), weitgehend ab.
Die Darstellung des reich differenzierten Kontrapunkts durch köstlich ausgeführte vokale und instrumentale Linien (z. B. „Cum sancto spirito“ oder „Confitebor“) lassen auch dieses Musterbeispiel polyphoner Vokalmusik ungewohnt durchlichtet wirken, ohne dass die erschütternden Momente („Crucifixus“) darüber verloren gingen. Bachs Orchestrierungskunst zeigt sich vor allem in den Sätzen mit Blechbläsern und Pauke, wo sich die Konzertisten in der Regel ebenbürtig behaupten. Extreme Tempi und pointierte Artikulation, in größer besetzten Versionen sonst ein probates Mittel zur Binnengliederung und Affektverstärkung, findet man nicht. Und der Grundpuls ist eher ein wenig höher, so dass die Messe bei Kuijken gerade einmal 102 Minuten dauert, ohne gleich gehetzt zu wirken.
Es ist der kunstvolle Satz selbst, der hier zum Ausdrucksträger wird und durch seine internen Bewegungen für Spannungsmomente sorgt. In starker Besetzung würde das vielleicht sogar flach wirken, aber unter diesen Bedingungen wirkt es lebendig. Einzige Inkonsequenz ist die italienisierende Aussprache des Lateins mit weichen C-Lauten.
Diese Art zu musizieren hat, wie in der Passion, manchmal etwas anrührend Ungeschütztes. Es ist ein ganz anderer Bach, der – gerade oder weil er historisch korrekt besetzt ist - eigentümlich zeitlos und entrückt wirkt.

Da dem Ensemble trotz seiner wegweisenden Arbeit substanzielle Subventionen durch den Belgischen Staat stark beschnitten wurden, hat La Petite Bande eine Stiftung eingerichtet. Eine Online-Spendenmöglichkeit findet man auf der Homepage des Ensembles: http://www.lapetitebande.be/



Georg Henkel



Besetzung

Gerlinde Sämann, Marie Kuijken: Sopran
Petra Noskaiová, Patrizia Hardt: Alt
Christoph Genz, Bernhard Hunziker: Tenor
Jan Van der Crabben, Marcus Niedermeyr: Bass
u. a.

La Petit Bande

Sigiswald Kuijken: Konzertmeister (Violine, Gambe)



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