Musik an sich


Reviews
Debussy, C. (Cambreling)

Le Martyre de Saint-Sébastien


Info
Musikrichtung: Impressionismus Ensemble

VÖ: 28.11.2008

(Glor / Sono / CD / DDD + Bono-DVD / 2005 / Best. Nr. GC08181)

Gesamtspielzeit: 77:08



FARBIGES GOLD

Das Martyrium des Heiligen Sebastian, der als christlicher Hauptmann im Dienst des römischen Kaisers wegen seiner Glaubenstreue von seinen eigenen Bogenschützen mit zahllosen Pfeilen durchbohrt wurde, gehört zu den Heiligenlegenden, die Künstler aller Jahrhunderte inspiriert hat. Religiöse Hingabe vermischte sich in den Darstellungen oft mit subtiler, nicht nur sakraler Erotik: ein edler Jüngling, meist von zerbrechlicher Schönheit, gefesselt an einen Baumstamm, gemartert von zahllosen Pfeilen, die tief in sein Fleisch eingedrungen sind … Ein Stoff, aus dem die heiligen und unheiligen Träume sind. Auch ein Bühnenstoff?
Jedem Katholiken, der 1911 diesem entwürdigenden Spektakel im Théatre du Châtelet beiwohnen würde, drohte der Pariser Bischof Léon-Adolphe Amette die Exkommunikation an. Nicht nur, dass die Vita des Sebastian an einem weltlichen Ort als weltliches Schauspiel dramatisiert, choreographiert, gesungen und musiziert werden sollte. Die Hauptrolle würde überdies eine Frau übernehmen. Dass diese Frau zudem eine Jüdin war, machte in den Augen des Oberhirten das Maß sakrilegischer Verirrung voll.

Geschrieben hatte das Theaterstück Le Matyre de Saint-Sébastien Gabriele D’Annunzio. Claude Debussy hatte er für die Bühnenmusik gewonnen, auch wenn der für D’Annunzio nicht die erste Wahl war. In nur zwei Monaten schuf der Komponist eine Folge von instrumentalen und vokalen Einlagen zu D’Annunzios Drama. Das Ergebnis: Außergewöhnlich inspirierte, herrlich sinnenverwirrende Musik zu einem schon damals kaum erträglichen, da überlangen symbolistischen Schwulststück. Leider hat Debussy den Plan zu einer Oper über den Stoff nicht mehr realisiert, so dass der Sébastien nur als Hybride aus Theaterstück, Ballet, Kantate und Oratorium vorliegt. Bei modernen Aufführungen wird D’Annunzios Text in der Regel durch kurze gesprochene Überleitungen ersetzt.
Das Werk steht eher selten auf dem Spielplan und auch die Gesamt-Aufnahmen sind spärlich. Unter Sylvain Cambreling hat das SWR Sinfonieorchester Baden-Baden und Freiburg eine neue, nahezu vollständige Fassung vorgelegt, die vor allem im Instrumentalen schwer zu übertreffen sein dürfte. Cambreling begreift das Werk mit Recht als zukunftsweisende Klangfarben- und Klangraumusik, deren überreiche Möglichkeiten noch 1983 in Olivier Messiaens Franziskus-Oper nachklingen.
Debussys geradezu unheimliche Orchestrierungskunst wird vom SWR Orchester in weit schwingende, organisch (ver)fließende Klänge überführt, ohne die Rauigkeiten und unruhig gärenden Momente zu unterschlagen. Längst nicht so verspielt wie in La mer oder den Images, gibt sich die Musik im Ganzen statischer, opaker, mystisch-dunkel. Die Klänge sind wie Sonnenlicht, das durch atmosphärische Erscheinungen diffus gebrochen wird, um dann für Augenblicke gleißend hell hervorzubrechen.

Ob man in der Komposition nun den himmlischen Goldglanz byzantinischer Ikonen oder das verführerische Irisieren einer neuheidnischen Kunstreligion entdecken möchte, ist für die ästhetische Wirkung nebensächlich. Schon die ersten Takte ziehen den Hörer in jene phantastische Klangfarben-Welt, die Debussy bereits im Pelleas entstehen ließ und nun weiter vertieft. Mehr als hier kann man das „Material“ wohl kaum transzendieren.
Schwerelose, quasi-instrumentale Soli aus hohen Frauenstimmen oder entrückte Chorpartien sind mit sicherem Gespür in den orchestralen Satz hineingewoben. Heidi Grant Murphy, Dagmar Pechová und Natalie Stutzmann singen ihre Partien ausdrucksvoll, wenngleich ein wenig zu opernhaft (so z. B. das Duett der Zwillinge zu Beginn). Herausragend das Collegium Vocale Gent mit seiner suggestiven, ätherischen Tongebung.
Dörte Lyssewski deklamiert die Worte des Sebastian mit visionärer Eindringlichkeit, dabei angemessen unpathetisch. Auch die deutschen Zwischentexte sind ihr anvertraut. Sie stammen vom Schriftsteller Martin Mosebach und beleuchten in kurzen Schlaglichtern die Episoden des Heiligenlebens, arbeiten aber auch den zentralen religiösen Konflikt – Monotheismus gegen Polytheismus – nachvollziehbar heraus. Vom überbordenden Symbolismus der mit theatralischen Effekten gespickten Vorlage bleibt freilich so gut wie gar nichts. Mit klarem, manchmal beobachtend-distanzierten Ton setzt Lyssewski einen feinen Kontrapunkt zur orchestralen und vokalen Ekstase der Musik. Im etwas unübersichtlichen Beiheft werden die gesungenen französischen Texte D’Annunzios leider nicht übersetzt.

Die Bonus-DVD ist eher ein allgemeines Portrait zu den Produktionen des noch jungen Labels Glor, Schwerpunkt bildet die Arbeit der EuropaCHorAkademie.



Georg Henkel



Besetzung

Heidi Grant Murphy: Sopran
Dagmar Pechová: Mezzosopran
Natalie Stutzmann: Alt

Dörte Lyssewski: Sprecherin

Collegium Vocale Gent

SWR Sinfonieorchester Baden-Baden und Freiburg

Leitung: Sylvain Cambreling


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