Musik an sich


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Altrömischer Choral (Pérès)

Altrömischer Choral (Chant de l'eglise de Rome)


Info
Musikrichtung: Mittelalter vokal

VÖ: 16.01.2009

(Zig Zag / harmonia mundi/ CD / DDD / 2008 / Best. Nr. ZZT081001)

Gesamtspielzeit: 79:00



ENTRÜCKT

Nur fünf Manuskripte mit dem Repertoire der päpstlichen Kapelle aus der Zeit vor der Entwicklung des Gregorianischen Chorals haben überlebt. Obwohl dieser als Fundament abendländischer Kirchenmusik gilt, ist er doch eine relativ späte Erscheinung. Er entstand im 9. Jahrhundert, als unter Karl dem Großen römische Sänger ihre für fränkische Ohren fremd klingende Kirchenmusik nach Norden brachten. Dort gab es bereits eine eigene Tradition liturgischer Musik. Aus der Verschmelzung beider Stile – führend war u. a. das Kloster Metz - entstand der franko-römische Choral, als dessen legendärer Schöpfer dann Papst Gregor der Große firmierte (der zu diesem Zeitpunkt freilich schon seit mehr als 200 Jahren tot war).
Als der päpstliche Hof im 13. Jahrhundert nach Avignon zog, ging die ältere Tradition in Rom unter. Dies auch deshalb, weil die Franziskaner bei der Einführung des Gregorianischen Chorals die Manuskripte mit den Gesängen der römischen Kirche einfach verbrannten.

Es ist den unermüdlichen theoretischen und praktischen Arbeiten von Marcel Pérès und den Sängern des Ensemble Organum zu verdanken, dass in mehreren Einspielungen diese Fundamente des christlichen Gesangs freigelegt werden konnten. Drei ältere Aufnahmen sind beim Label Harmonia Mundi France mittlerweile in der preiswerten Reihe musique d’abord erhältlich (HMA 1941218 / 1951382 / 1951604).
Jüngst ist bei Zig-Zag-Territoires eine weitere Produktion erschienen. Schöpften die Sänger bislang aus dem Manuskript Latin 5319 (Vatikanische Bibliothek), so wählten sie dieses Mal Stücke aus dem Codex Bodmer 74 aus (Sammlung Max Bodmer, Genf).
Höhepunkte aus vier Weihnachtsmessen bringen sie zu Gehör. Es ist eine Einspielung, die in keiner Sammlung fehlen sollte, weil in ihr die Geburt des Christentums und der abendländischen Kirchenmusik an der Schnittstelle von Orient und Okzident sinnfällig wird. Abgesehen davon ist die Musikalität der Interpretation mustergültig.

Die Notation der alten Gesänge ist ausgesprochen genau, besonders was die rhythmischen Werte und die Verzierungen angeht. Um daneben die vielen oft kaum lösbaren Fragen zur Ausführung befriedigend zu klären, hat sich Marcel Pérès schon in den früheren Produktionen der Mitwirkung ostkirchlicher Sänger versichert, die sich in der Tradition des Byzantinischen Gesangs auskennen. Da Rom lange Zeit unter der Herrschaft des oströmischen Kaisers in Konstantinopel stand und zudem unter dem Druck der persischen Eroberungen zahlreiche Mönche aus Byzanz nach Süditalien kamen, gab es dort einen starken Einfluss durch ein orientalisches Christentum.
Diese Prägung macht das Ensemble Organum unter anderem durch die Bevorzugung stark obertöniger Timbres deutlich. Zudem deutet die erhaltene Besetzungsliste der päpstlichen Schola auf eine improvisierte Mehrstimmigkeit hin. Das Ensemble hat sich bei den Partien der sogenannten Paraphonista („Nebenher-Sänger“) für lang ausgehalte Borduntöne, häufig in bassschwarzer Lage, entschieden. Darüber können sich die sehr melismatischen Oberstimmen frei entfalten. Mit dem Übergang von einem Modus (Tonart) zum nächsten verändern sich auch die Haltetöne, so dass es mitunter zu einfachen, aber sehr eindrucksvollen harmonischen Farbwechseln kommt.
Was den expressiven orientalisierenden Gesangsstil angeht, sind die Ausführenden seit den ersten Aufnahmen immer souveräner geworden. Die großen Melodiebögen wirken nicht einstudiert, sondern wie frei erfunden, gleichsam „vom Geist eingegeben“. Mikrointervalle sorgen für ungewöhnliche Kolorierungen. Fast kann man die fränkischen Mönche verstehen, wenn sie damit nicht viel anfangen konnten. Die Musik ist ausgefeilt, farbig und um einiges virtuoser als der Gregorianische Choral. Auch darum ist die Wirkung bei aller „objektiven“ Erhabenheit ungleich ekstatischer, ja schwärmerischer und mit jener spirituellen Erotik aufgeladen, aus der sich seit jeher mystische Erfahrungen speisen.
Gesungen wir langsam, mit schier unendlichem Atem. Diese Musik will die Zeit aufheben und die Zuhörenden in der Kontemplation entrücken und beseligen. Dies gelingt dem Ensemble Organum so bezwingend, dass sich die Frage nach der historischen Richtigkeit der Ausführungen am Ende gar nicht mehr stellt.



Georg Henkel



Trackliste
01-02 Messe de la Vigile (Ausz.)
03-07 Messe de Minuit (Ausz.)
08-09 Messe de l’aurore (Ausz.)
10-14 Messe du jour (Ausz.)
Besetzung

Lycourgos Angelopoulos, Malcom Bothwell, Jean-Christophe Candau, Jean-Etienne Langianni, Marcel Pérès (Leitung), Antoine Sicot, Frédéric Tavernier, Luc Terrieux


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