Musik an sich


Reviews
Gluck, Ch. W. (Carydis)

Alceste (Französische Fassung)


Info
Musikrichtung: Barockoper

VÖ: 19.12.2006

Arthaus Musik / Naxos
DVD(AD live 2006) / Best. Nr. 101 251


Gesamtspielzeit: 165:00



ENTFREMDUNGSRITUALE

König Admeto, Herrscher über Phärea in Thessalien, liegt im Sterben. Findet sich niemand, der statt seiner in den Tod geht, wird es keine Rettung für ihn geben. Alcestis, seine Frau, ist bereit, ihr Leben hinzugeben. Im Geheimen teilt sie den Göttern ihren Entschluss mit. Der Plan kann jedoch nicht verborgen bleiben. An den Pforten zur Unterwelt versucht Admeto, sie zurückzuhalten - ohne sie kann und will auch er nicht leben. Doch es bedarf eines Superhelden vom Schlage des Herkules, um Alkestis vor den Göttern des Hades zu retten. Happy End und großes Finale.

Wie man sieht, hat der barocke deus ex machina selbst bei Christoph Willibald Glucks Reformoper Alceste noch lange nicht ausgedient. Bei der Stuttgarter Inszenierung 2006 haben die Regisseure Jossi Wieler und Sergio Morabito den auch musikalisch etwas hemdsärmeligen Auftritt des Halbgottes am Ende ironisiert. Als eine Mischung aus amerikanischem Serienhelden und Fantomas schickt er die Dämonen auf die Matte. Nach all den gegenseitigen Liebesschwüren, Rettungstaten und -fantasien der beiden Protagonisten wirkt das derart aufgesetzt, dass danach an ein jubelndes Beisammensein nicht zu denken ist. Reichlich frustriert und beklommen sitzen Admeto und Alkestis beim Schlussballett nebeneinander. Die Krise hat das Ehepaar einander nicht näher gebracht, sondern Entfremdung und Langeweile lediglich überlagert. Alkestis musste erkennen, dass sie durchaus das Format hat, ihren Mann zu retten. Aber umgekehrt? Ihr dankbares Lächeln gilt dem taffen Helden, Admetos zaghaft ausgestreckte Hand bleibt unbeachtet.

Auch sonst bietet die Stuttgarter Inszenierung nur wenige emotional gesicherte Rückzugsräume. Im neonkalten Mehrzweckhallen-Ambiente ist das Drama angesiedelt. Die Unterweltgottheiten agieren hinter dunklem Glas in einer Art Regieraum. Die Versammlung der Pheräer in knielangem Rock, züchtiger Bluse und Geschäftsanzug erinnert an eine evangelikale Gemeinde aus den 60er Jahren. Auch der Hohepriester vermag in dieser Umgebung keine pastorale Wärme zu verbreiten. Als inspiriertes Medium verkündet er nur den gnadenlosen Willen der Götter, um wenig später als Thanatos höchstpersönlich Alkestis zum Eintritt in die ewige Dunkelheit aufzufordern. Das ganze Ambiente atmet geistige Enge, Klerikalität, Sektierertum. Kein Wunder, dass in diesem Eisschrank spießbürgerlicher Wohlanständigkeit der raubeinige und patente Herkules das Herz der Königin höher schlagen lässt.
Musikalisch ist dagegen vieles sehr unmittelbar und emotional. Gluck zelebriert gleichsam eine Liturgie des Tragischen, deren Hohepriesterin Alkestis ist. Die französische Fassung der Oper aus dem Jahr 1776 fokussiert derart auf die heroische Gattin, dass nahezu alle übrigen Akteur/innen zu Nebenpersonen degradiert werden. Dirigent Constantinos Carydis betont bei aller Wucht, die dieser Musik innewohnt, lyrische Farben und klangliche Transparenz. Das Orchester begleitet und kommentiert nobel und geschmeidig, es donnert nicht und spitzt auch nicht zu. Diesem Ansatz ist auch der sehr stark beanspruchte Chor verpflichtet, durch den die Oper fast zu einem Oratorium wird. Den dunklen, „schmutzigen“ und theatralischen Ton, den die historische Aufführungspraxis - z. B. Marc Minkowski - favorisiert, hört man nicht. Langweilig klingt dieser Gluck trotzdem nicht. Die verführerische tragisch-elegische Stimmung, die der Komponist mit häufig sehr einfachen Mitteln erzeugt, nimmt den Hörer unbedingt gefangen.

Gesungen wird über weite Strecken sehr gut. Die formidable Catherine Naglestad benötigt eine gewisse Zeit, bis die stimmliche Glut ganz entfacht ist. Dann aber gerät ihre nicht nur vokal, sondern auch darstellerisch sehr nuancierte, überzeugende Interpretation sehr bewegend. Vor allem im zweiten Teil hat sie Gelegenheit, ein komplexes Rollenprofil zu entwickeln. Donald Kaasch als Admeto hat mit der hohen Lage seiner Tenor-Partie manchmal zu kämpfen. Hier erweist sich der tiefere Stimmton historischer Instrumente als Vorteil. Dennoch weiß Kaasch, aus den Grenzen Gewinn für die ambivalente Rolle eines am Ende seltsam gebrochen wirkenden Herrschers zu ziehen. Die Sänger/innen der wesentlich kleiner disponierten übrigen Rollen ergänzen das Herrscherpaar musikalisch auf Augenhöhe.



Georg Henkel



Besetzung

Donal Kaasch - Admète
Catherine Nablestad - Alceste
Bernhard Schneider - Évandre
Catriona Smith - Chorführerin
Johan Rydh - Hohepriester / Thanatos
Michael Ebbecke - Hercules
Motti Kastón - Apollo
u. a.

Chor der Staatsoper Stuttgart
Orchster der Staatsoper Stuttgart
Ltg. Constantinos Carydis

Regie: Jossi Wieler & Sergio Morabito


 << 
Zurück zur Review-Übersicht
 >>