Hits und Raritäten: Hochschulsinfonieorchester und Hochschulchor der Leipziger Musikhochschule mit Beethoven und Strawinsky




Info
Künstler: Sinfonieorchester und Chor der Hochschule für Musik und Theater Leipzig

Zeit: 17.01.2020

Ort: Leipzig, Hochschule für Musik und Theater

Fotograf: Wikimedia Commons

Internet:
http://www.hmt-leipzig.de

Anno 2020 ist es 250 Jahre her, dass in Bonn am Rhein der Familie van Beethoven ein Knabe namens Ludwig geboren wurde, und die musikkulturelle Welt begeht dieses Jubiläum natürlich auf vielgestaltige Weise. Auch die Musik- und Theaterhochschule in Leipzig will da selbstredend nicht abseits stehen, zumal gerade die ein Orchesterfach Studierenden in ihrem späteren Leben und Schaffen wieder und wieder auf das Werk, speziell das sinfonische, des Bonner und späteren Wiener Klassikers stoßen werden. Ergo widmet sich gleich das erste 2020er Konzertprogramm des Hochschulsinfonieorchesters hauptsächlich Kompositionen Beethovens und bringt dabei eine Zusammenstellung zu Gehör, wie sie vom Prinzip her nicht selten, aber immer wieder reizvoll ist: Hits und Raritäten.

Mit der letzteren Kategorie geht’s los. Am 20. Februar 1790 war Kaiser Joseph II. gestorben, was den Anlaß für verschiedenste Gedenkmomente und -monumente im Heiligen Römischen Reich deutscher Nation darstellte, etwa den abgebildeten Katafalk in der Augustinerkirche in Wien. In Bonn wiederum plante die ortsansässige Lese- und Erholungsgesellschaft eine Gedenkfeier und beauftragte den noch nicht zwanzigjährigen Beethoven, ein Werk dafür zu komponieren. Die Kantate auf den Tod Kaiser Josephs II. wurde zu Lebzeiten Beethovens indes nie aufgeführt – der Komponist schaffte die Fertigstellung nicht rechtzeitig vor der Feier und überschritt zudem die Schwierigkeiten für die potentiellen Ausführenden der damaligen Zeit um ein gewisses Maß, so dass das Werk, als es dann doch fertig geworden war, in der Schublade verschwand und erst im späten 19. Jahrhundert wiederentdeckt wurde, aber auf den Konzertpodien ein seltener Gast bleiben sollte. Die siebensätzige Kantate hebt mit angedüsterten Streicherflächen an, denen sich einzelne Bläsereinwürfe hinzugesellen und die der am Pult stehende Dirigierprofessor Matthias Foremny bald zu einem klanglichen Ganzen zusammenbinden kann. Auch der hinter dem Orchester aufgereihte Hochschulchor agiert anfangs zu faserig, findet sich aber noch in der Eröffnungsnummer „Tot! Tot! Tot!“ und legt zudem schnell an Eindringlichkeit zu, wohingegen die Textverständlichkeit etwa in der Solofuge problematisch bleibt. Bariton Fredrik Essunger dominiert die erste Hälfte der Kantate, legt schon einiges Feuer ins Rezitativ „Ein Ungeheuer, sein Name Fanatismus“, stößt in der Arie „Da kam Joseph“ aber an Grenzen, was die Power in den tiefen Lagen angeht – er ist halt Bariton, kein Baß, und er hat auch keinen Resonanzraum wie Gunther Emmerlich. Dafür sprühen seine Höhen aber von Energie, und er gestaltet sie nahezu operatisch. Die bedächtige Arie mit Chor „Da stiegen die Menschen ans Licht“ bildet das zentrale Scharnier der Komposition, wonach Sopranistin Viktorija Narvidaite die Führungsrolle in der zweiten Kantatenhälfte übernimmt, was sie mit einer wirklich schönen Stimme tut, nicht zu operatisch, gut hörbar, zu interessanten Wechselwirkungen mit dem Chor fähig, in den immer ausgeprägteren ruhigen Passagen aber bisweilen zur Überdominanz neigend. In der Arie „Hier schlummert seinen stillen Frieden“ kann sie sich nicht zwischen Gestaltung und Trauergesang entscheiden, was freilich schon vom Komponisten diffizil angelegt wurde, dem man im Werk zudem gelegentlich seine Unerfahrenheit mit Chorsinfonik im allgemeinen und Gesangstessituren im speziellen anhört, denn auch der Sopran muß hier enorm weit nach unten. Die plötzliche Dramatisierung vor dem Schlußchor bleibt ein seltsames Strohfeuer, und Foremny und den Studenten gelingt ein klangschöner Schluß dieses Werkes, das seinen Exotenstatus wohl nicht verlieren wird.

Zwar dominieren Werke Beethovens das Konzertprogramm, aber es gibt eins, das nicht von ihm stammt. Warum es ausgerechnet Igor Strawinskys Symphony In Three Movements sein mußte, kann aber auch Foremny in seiner gewohnt launigen, zwischen die beiden Werke der ersten Konzerthälfte gepackten Moderation (frei gesprochen, und zwar fast in Druckqualität – ein exzellenter Rhetoriker!) nicht schlüssig erklären. Der Chor hat hier jedenfalls nichts zu tun, bleibt aber auf der Bühne und hört sich an, was die Instrumentalisten hier zu bieten haben. Die Sinfonie als Ganzes ist ziemlich blockhaft geschichtet, Dinge passieren nacheinander, aber es wird eher selten deutlich, warum sie nacheinander passieren, auch wenn man beim genauen Hinhören schon im ersten Satz, der die Bezeichnung „Achtel = 160“ trägt, hier und da schon Entwicklungen konstatieren kann, etwa wenn das von Charlotte Steppes gespielte, in diesem Werk eine sehr herausgehobene Rolle einnehmende Klavier anfangs von den Violinen niedergesägt wird und sich erst in einer späteren scheinbaren Wiederholung Gehör verschaffen kann. Foremny hält die Energieentfaltung hier noch auf mäßigem Niveau, und der Hörer erfreut sich an diversen hübschen Einfällen des Komponisten, etwa den geschickten Offbeatstrukturen oder dem witzig knarzenden Fagott kurz vor Satzschluß.
Satz 2 bietet in abermaliger Blockstruktur für Strawinsky-Verhältnisse fast liebliche Kammermusik, wenngleich es an Kontrapunkten auch hier nicht mangelt, etwa wenn kratzbürstige Harfeneinwürfe auch noch die letzten romantischen Anwandlungen zerstören. Melodik im klassischen Sinne gibt es freilich auch so kaum, Eingängigkeit auch nicht, und ob das nun ironisch gemeint ist oder nicht, darüber darf man lange streiten.
Ein schneller Satz hängt nahezu attacca als Finale an, Foremny darf wieder Block an Block reihen und muß den Überblick behalten, was ihm auch gelingt, wobei außer dem Klavier die Harfenarbeit dominanter wird. Wieder registriert der Hörer wenig Entwicklung im hergebrachten Sinne, aber einige gute Einfälle des Komponisten, und er beginnt sich zu fragen, ob er hier vielleicht einer Persiflage lauscht, womit er sich aber wohl auf dem Holzweg befände. Die große Trommel ruft zu einer Intensitätssteigerung, es gibt anderthalb Minuten Orchesterstrukturlärm, und dann endet das Werk mit eben derselben Plötzlichkeit, wie schon mancher Gedanke zuvor verflogen ist. Dmitri Schostakowitsch hat dieses Werk übrigens sehr geschätzt, und im vollbesetzten Großen Saal der Hochschule gibt es auch reichlich Applaus.

Nach der Pause gibt es den Hit des Abends, nämlich Beethovens Ouvertüre zu Goethes Trauerspiel „Egmont“ op. 84. Die ist seinerzeit sogar im DDR-Schulunterricht behandelt worden, und zwar in Klassenstufe 7 – der Rezensent hat sie zwischenzeitlich nur extrem selten gehört, und doch ist so manches Motiv an diesem Abend sofort wieder präsent. Die Studenten bekommen gekonnte Einzelelementschichtungen gebacken, liebliches Holz mischt sich dazwischen, und Foremny läßt ein breites Dynamikspektrum abdecken, wobei er selbst die Tuttipassagen noch schön durchsichtig hält. In den blockartigen Strukturen findet hier mehr Entwicklung statt als im ganzen Strawinsky-Werk, auch die Eleganz paßt, und der Dirigent überrascht mit der Strategie, die fallende Quarte eher beiläufig und alles andere als scharf einzustreuen. Dafür gestaltet er den Schlußaufruhr umso energischer, hält das Tempo sehr hoch und hebt die Trompeten markant heraus, wofür er vom linken Sitznachbarn des Rezensenten nach dem Schlußton einen spontanen Bravoruf erntet.

Irgendwo auf halbem Weg zwischen Hit und Rarität sortiert sich schließlich das letzte Stück des Abends ein: die Messe C-Dur op. 86, ein aus heutiger Hörerperspektive einfach nur schönes Stück Musik, das aber ein wenig im Schatten des großen Bruders, der Missa solemnis, steht. Haupttrumpf der Aufführung dieses Abends ist, so stellt sich in der Gesamtbetrachtung heraus, der Chor, und das ahnt man schon im Kyrie, wenn man seine dortige Entspanntheit wahrnimmt, trotz der riesigen Besetzung und dem Aspekt, dass Foremny durchaus kein langsames Tempo anschlägt. Der Kontrast zwischen dem entrückten Kyrie-Ausklang und dem wild herausfahrenden Beginn des Gloria gerät naturgemäß zum größtmöglichen, aber er überzeugt nicht nur mit Größe, sondern auch mit Qualität. Diese unter Beweis zu stellen gelingt den vier Solisten erst schrittweise. Tenor Jacob Kressin agiert im Kyrie noch völlig unter dem Schirm und beginnt erst im Gloria vorsichtig Akzente zu setzen, begeht aber den grundsätzlichen Fehler, sein Notenheft viel zu hoch zu halten, wodurch seine schon per se nicht sonderlich kräftige Stimme noch zusätzlich gedämpft wird. Dafür paßt sie von der Stimmfarbe her schön zu der von Bassist Simon Hegele, der sich auch erst im Gloria langsam freizusingen beginnt – finden sich die beiden Herren auf Anweisung des Komponisten zum Duett, entsteht an diesem Abend etwas richtig Gutes, was auf die Quartettpassagen leider nur bedingt zutrifft, denn die werden mit zunehmender Spieldauer von Sopranistin Clara Barbier immer stärker dominiert, obwohl sie eigentlich eine eher „enge“ Stimme besitzt und Mezzosopranistin Elisabeth Wrede im Direktvergleich viel raumgreifender singt, aber wenig Durchsetzungsfähigkeit erzeugt. Was im Credo noch klappt, droht im Benedictus dann schon in die Sopranrichtung zu kippen. Da hebt man dann doch lieber die zahlreichen instrumentalen wie choralen Highlights hervor, die Foremny hervorzuzaubern hilft: die brillant groovenden Kontrabässe im Qui tollis, die exzellenten Schichtungen im Amen des Gloria, die angemessen schroffen fugierten Choreinsätze im Credo, die beeindruckende plötzliche Ruhe in der Zeile „et sepultus est“, die lehrbuchreife Dynamikinnengestaltung im Sanctus, das spritzige Osanna, das hin- und herfliegende Miserere im Agnus Dei oder die dort teils butterweichen Hörner ... Im Schlußteil des Agnus Dei erzeugt Foremny viel Spannung, wenngleich der letzte Schritt zur Entrückung nicht gelingt – aber das ist Jammern auf hohem Niveau: Die Schlußspannung steht, und intensiver und langanhaltender Applaus belohnt die Bühnenaktiven für eine sehr gute Wiedergabe eines interessanten Werkes.


Roland Ludwig



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