Indische Kathedralen am Ende: Der MDR-Rundfunkchor singt beim 48. Nachtgesang Rautavaara, Schanderl und Parry




Info
Künstler: MDR-Rundfunkchor

Zeit: 25.01.2019

Ort: Leipzig, Peterskirche

Fotograf: Hannes Höchsmann

Internet:
http://www.mdr-konzerte.de

Seit geraumer Zeit lädt der MDR-Rundfunkchor ungefähr viermal im Jahr zu einer Konzertreihe namens „Nachtgesang“ ein. Der Titelbestandteil „Gesang“ bedarf sicher keiner Erläuterung, aber für die Nacht macht sich doch noch eine Präzisierung notwendig: Die Konzerte finden immer an einem Freitagabend um 22 Uhr statt, haben als Heimstatt die neogotische Peterskirche südlich des Leipziger Stadtzentrums und sind bei freiem Eintritt zugänglich, was üblicherweise zu einem sehr starken Publikumszuspruch führt. An diesem Abend ist er freilich ein wenig geringer als beim einzigen anderen Konzert dieser Reihe, das der Rezensent bisher miterlebt hat: Am 02.12.2016 waren zu Rachmaninows „Großem Morgen- und Abendlob“ so viele Menschen gekommen, dass der Kirchenraum unten voll besetzt war und die Spätkommenden wie der Rezensent auf die Emporen ausweichen mußten (siehe Review auf www.crossover-netzwerk.de). Das ist diesmal, beim 48. Nachtgesang, anders: Der Kirchenraum unten ist fast, aber nicht ganz komplett voll besetzt, und das ist auch gut so, denn die Emporen werden, so stellt sich heraus, an diesem Abend noch zu einem anderen Zweck gebraucht.

Von Einojuhani Rautavaara hatte das MDR-Sinfonieorchester vor fast exakt Jahresfrist im Gewandhaus das berühmte Konzert für Vogelstimmen und Orchester namens „Cantus Arcticus“ zu Gehör gebracht (siehe Rezension auf diesen Seiten), diesmal erklingt nun ein Chorwerk des großen finnischen Komponisten: Katedralen heißt es und soll, so die Konzertankündigung, „zum hörenden Rundgang durch einen imaginären, aber monumentalen Kirchenraum“ einladen. Das mutet seltsam an, denn die sechs Sätze, die fast alle attacca ineinander übergehen, heißen laut dem Programmheft „Die Sterne“, „Herbst“, „Strudel des Wahnsinns“, „An Nietzsches Grab“, „Bin ich ein Verbrecher?“ und schließlich „Auf den Stufen des Himalaya/Ankunft im Hades“. Die Texte finden sich dort in deutscher Übertragung, aber nicht im Original, und so kann der Hörer auch nicht feststellen, ob sich da schlicht und einfach eine falsche Textdatei ins Programmheft gemogelt hat. Der Chor singt in irgendeiner Fremdsprache, aber aufgrund der recht halligen Kirchenakustik ist es mit der Textverständlichkeit schwierig, und so kann auch von dieser Position aus keine Aufklärung erfolgen. Diese bleibt einer nachträglichen Analyse vorbehalten: Die Homepage des finnischen Notenverlags Fennaja Gehrman weist in der Objektbeschreibung zur Partitur die Information „mehrsprachig, Schwedisch, Englisch, Finnisch“ aus, und die auf einer weiteren Notenhändlerseite nachzulesende originale Werkeinführung aus dem Jahr 1983 offenbart, dass die im Programmheft abgedruckten Texte tatsächlich die richtigen sind und sich der Komponist was dabei gedacht hat, wenngleich so mancher Bezug zur titelgebenden Kathedrale etwas arg konstruiert anmutet.
Bleiben wir analytisch bei der Musik, so fällt eine recht moderne Harmoniegestaltung auf, und der Komponist läßt durchaus auch konzeptuale Gegensätze aufeinanderprallen, etwa gleich im ersten Satz, wenn der Alt eine hintergründige wellenartige Vokalise beisteuert, über die der Sopran einige gellend-glockenartige Einwürfe legt, während die Herren eine Art Choral intonieren. Besonders die Tenöre erzeugen im weiteren Verlauf des Stückes im Ohr des Hörers Klirrgeräusche, der Ausdruck wechselt insgesamt zwischen relativ wildem Vorwärtsdrängen und leicht schrägen Trauergesängen, und die Bässe müssen in einer geflüsterten Umgebung schon mal an Regionen kratzen, die sonst eher die mongolischen Obertonsänger bearbeiten. Gegen Ende kehren die Sopraneinwürfe aus der Einleitung zurück, und Dirigent Florian Helgath (Foto) schafft es, in den langsam verklingenden Schlußteil enorm viel Ruhe und richtig schöne Lautmalerei zu legen. Trotzdem wirkt das viertelstündige Stück nach einmaligem Hören relativ unzugänglich – in der Reihe hinter dem Rezensenten aber unterhalten sich nach dem Stück zwei Menschen über Rautavaara, und der eine meint, er habe mit seinem Chor schon dessen „Credo“ gesungen, und das sei „übelst schön“.

Das zweite Stück des Abends ist dasjenige, für das die Seitenemporen benötigt werden: Hans Schanderl wünscht sich die Umsetzung seines Stückes „Gitanjali Nr. 100“ quadrophonisch, und so vierteilt sich der Chor, allerdings nicht stimmenweise, sondern in vier kleiner besetzte, aber trotzdem alle Stimmen aufweisenden Ensembles. Eines derselben bleibt vorn im Altarraum stehen, zwei besetzen die Seitenemporen, und das vierte nimmt hinter dem Publikum Aufstellung. Der Dirigent wiederum findet seinen Platz im Mittelgang, wo ihn alle planmäßig gut sehen. Das Stück selbst dauert etwa 20 Minuten und verarbeitet einen Text von Rabindranath Tagore, der im Programmheft abermals in deutscher Übersetzung, nicht aber im Original abgedruckt ist, und die Kirchenakustik macht auch hier die Erkennung der Originalsprache zum Geduldsspiel, obwohl im Verlaufe des Werkes bisweilen sogar gesprochene Passagen hinzutreten und das aus allen vier Chören, allerdings immer nur von Einzelmitgliedern. Das Nichtverstehen des Textes tut der Wirkung aber keinen Abbruch – man weiß, dass es grundsätzlich um indische kulturelle Tradition geht, und man erahnt bisweilen auch weiter nördlich in Zentralasien angesiedelte Elemente, etwa wenn gleich mehrfach einzelne der Chöre Laute erzeugen, die an eine mongolische Pferdekopfgeige erinnern. Dynamische Bewegung gibt es lange Zeit eher wenig, so dass man geneigt wäre, das Stück, würde es instrumental dargeboten, in den Ambient-Sektor einzugliedern – erst gegen Ende kommt mehr Amplitude ins Dynamikspektrum, macht aber bald einem abermals sehr zarten und gestalterisch spannend gelingenden Finale Platz. Das gefällt dem Publikum offensichtlich, zumal der Ins-Ohr-Geh-Faktor von vornherein höhere Werte annimmt als bei Rautavaara, und auch der selbst anwesende Komponist (Jahrgang 1960) ist sichtlich zufrieden. Kleine Bemerkung am Rande: Das Werk war ein Kompositionsauftrag von Chor-Werk Ruhr, dessen künstlerischer Leiter niemand anders als Florian Helgath ist, und der hat es anno 2015 auch zur Uraufführung gebracht, in einem Konzertprogramm, das außerdem noch Mendelssohns Drei Psalmen op. 78 sowie, man lese und staune, auch das nun folgende Hauptwerk des Nachtgesangs Nr. 48 enthielt.

Für das besagte Hauptwerk versammeln sich wieder alle Sänger im Altarraum, und diesmal gibt es auch keinerlei Unklarheiten bezüglich der Originalsprache: Charles Hubert Parrys Songs Of Farewell sind im Programmheft abermals in deutscher Übersetzung abgedruckt, aber die Satzbezeichnungen sind englisch und der Text, wie man hier problemlos schon in den jeweils ersten Zeilen versteht, auch, wenngleich die Kirchenakustik auch in diesem Falle der Textverständlichkeit so manchen Stein in den Weg rollt. Der englische Komponist hat im Herbst seines Lebens, zugleich konfrontiert mit dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges, vier Texte englischer religiöser Dichter des 16. und 17. Jahrhunderts, dazu einen aus dem 19. Jahrhundert und den Psalm 39, auch diesen in englischer Übersetzung, in Töne gefaßt, und man bemerkt schon in „My Soul, There Is A Country“, dass er mit der Choraltradition seiner Heimat eng vertraut ist, aber diese durch ein paar Anklänge an die deutsche Romantik erweitert – und er zeigt sich nicht geneigt, mit den gängigen tonalen Vorstellungen zu brechen, wenngleich er sie hier und da doch an Grenzen führt, wenn es ihm dramaturgisch notwendig erscheint. Außerdem hat er eine Neigung zu plastisch geformten Schlüssen, und das macht er gleich in diesem ersten Stück mit den drei markant abgehobenen Schlußschlagworten „dein Gott, dein Leben, dein Heil“ klar.
In „I Know My Soul Hath Power“ weiß der Komponist hingegen äußerst geschickt mit der Dynamik der aufeinanderprallenden Textzeilen zu spielen – Laut-Leise-Dynamik sollte das eine spätere musikalische Epoche nennen. Hier hängt allerdings ein zauberhaft geformter, von Helgath und dem Chor ebenso zauberhaft interpretierter Piano-Schluß an, dessen Kontrast eher in Richtung des folgenden „Never Weather-Beaten Sail“ gedacht zu sein scheint, wo der von Todessehnsucht befallene Protagonist dem Zweimeterstollen samt anschließender Erlösung förmlich mit Siebenmeilenstiefeln zustrebt.
„There Is An Old Belief“ wiederum markiert einen kleinen Bruch – es ist viel geradliniger arrangiert als die bisherigen drei Stücke, die doch etliche Wendungen enthielten. Hier hingegen entwickelt sich lange Zeit alles logisch aus einer Grundidee heraus, bis hin zur wieder mal dreigeteilten Finalstruktur, wo die Phrasen diesmal aber ganze Zeilen und nicht nur zwei Worte umfassen und sich aus der Unisono-Deklamation zudem noch einmal auffächern, bevor eine finale Emphase das wiederholte Wort „eternal“ sozusagen in den Himmel hebt.
„At The Round Earth’s Imagined Corners“ fährt textimmanent eine recht bruchgeladene apokalyptische Struktur auf, bevor es in einen weit zurückgenommenen Pianissimo-Teil umschlägt, dessen Weiterentwicklung dann wieder klaren traditionellen Prinzipien gehorcht und die Chorbässe am Ende in beachtliche Tiefen führt.
Vor „Lord, Let Me Know Mine End“, dem Psalmstück, gibt es einen Teilabgang des Chores, dessen Grund vom Sitzplatz des Rezensenten aus nicht entschlüsselbar ist, zumal die abgegangenen Sänger sehr bald zurückkehren – als Zugabe gedacht gewesen sein kann das Stück eigentlich nicht, denn es ist das längste des Parry-Zyklus‘ und irgendwie auch sein Herzstück, auch wenn es nicht in der Mitte, sondern am Ende steht. Der Komponist konzentriert sich hier darauf, eine Handlung psalmodierend voranzutreiben, was bedeutet, dass er lange mehr Wert auf Fluß als auf Dynamik legt, letztere dann aber schrittweise doch stärker gewichtet und Helgath damit noch einmal Gelegenheit gibt, sein Talent bei der Schichtung von Chormassen zu demonstrieren. Das Grundtempo bleibt aber recht zügig, und wenn es Dynamikimpulse gibt, dann setzen die interessanterweise fast immer die Männerstimmen. Der Schluß ist dann wieder Spätromantik pur: Einem Versinken ins Piano folgt ein ausgemeißeltes Unisono, dem ein abermals zauberhafter Pianissimo-Schluß die Krone aufsetzt und die Spannung enorm lange stehen läßt, was man nicht vermutet hatte – das Publikum hatte lange Zeit sehr geräuscharm ausgehalten, in den letzten Parry-Sätzen hatte die Erkältungsunruhe aber ein wenig zugenommen. Jetzt am Ende aber grätscht keiner der Hörer akustisch hinein, und herzlicher Beifall belohnt nach einer langen Spannungspause die Mitwirkenden, die ihr außerordentliches Können 75 Minuten lang unter Beweis gestellt haben. Wer das Review zeitnah nach Erscheinen liest, kann sich selber noch davon überzeugen: MDR Kultur und MDR Klassik senden den Konzertmitschnitt am 17.02.2019 um 19.30 Uhr.


Roland Ludwig



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