Musik an sich


Reviews
Schostakowitsch, D. (Jansons, M.)

Lady Macbeth of Mtsensk


Info
Musikrichtung: Oper 20. Jh.

VÖ: 06.11.2006

Opus Arte / Naxos
2 DVD (AD DDD 2006) / Best. Nr. OA 0965 D


Gesamtspielzeit: 236:00



ORGASMUS UND TOTSCHLAG

Dass Opus Arte diese herausragende Amsterdamer Produktion von Dmitri Schostakowitsch Oper Lady Macbeth of Mtsensk veröffentlicht hat, kann man gar nicht genug loben.
Das Werk über eine leidenschaftliche, aber grausam unterdrückte Frau, die aus Liebe zur Mörderin ihres Mannes und Schwiegervaters wird und sich am Ende im Gefängnis erhängt, wurde 1934 zeitgleich in Moskau und Leningrad uraufgeführt. Publikum und Kritik feierten es enthusiastisch als erstes großes musikalisches Meisterwerk des neuen sozialistischen Zeitalters. Der Ruhm des Stücks lockte 1936 Stalin höchstpersönlich ins Theater. Mit fatalen Folgen: Zwei Tage, nachdem der Diktator die Vorstellung besucht hatte, erschien eine vernichtende Kritik in der Prawda: „Chaos statt Musik“.
Nicht nur Schostakowitsch dissonanzengesättigter, blitzartig zwischen Satire, Pathos, Ironie, und Tragik wechselnder Ton hatte Stalins Missfallen erregt. Noch schlimmer als die vermeintliche musikalische Willkür wog wohl die Freiheit des Geistes, die Stalin dahinter gespürt haben muss. In dem grotesken Personal und der brutalen, menschenverachtenden Gesellschaft, die der Komponist porträtiert, scheinen die Pathologien der Sowjet-Diktatur vorweggenommen.

Regisseur Martin Kušej hat das Werk in beklemmenden, manchmal fast schon unerträglich intensiven Bildern auf die Bühne gebracht. Rohe Holzbretter begrenzen den riesigen Raum, der sich nach oben ins unbestimmte Dunkel verliert: Die Welt als Gefängnis. Im Zentrum befindet sich im 1. Akt das stilisierte Schlafzimmer der Ismalova (ein luxuriöser Käfig aus Edelstahl und Glas), im 2. tafelt dort die Hochzeitsgesellschaft, im 3. fährt aus der Tiefe des Bühnenbodens das Gefängnis herauf, in dem Katerina und ihr Liebhaber enden: ein tödliches Labyrinth aus Stahlträgern, auf dessen Dach die Wachen mit ihren Hunden patrouillieren.
Ohne voyeuristische Übertreibungen, aber auch ohne falsche Zurückhaltung erzählt Kušej in diesem beklemmenden Ambiente die Geschichte Katerinas. Abgesehen von einigen Stilisierungen verzichtet der Regisseur auf jegliche Historisierung des Geschehens. Lady Macbeth of Mtsensk erweist sich als zeitlose Geschichte über die Grausamkeit und Ohnmacht des Menschen. Die Personen sind durch gegenseitige Abhängigkeiten, durch sexuelle und materielle Begierden, durch Gewalt und schließlich Verbrechen aneinandergekettet. Jeder hier ist Täter und Opfer zugleich. Einzig Katerina und in einigen Momenten auch ihr Liebhaber Sergej sind dabei keine bloßen Karikaturen. In ihrer hemmungslos ausgelebten Liebe zeigen sie sich als verletzliche Menschen. Aber einzig Katarina bewahrt sich ihre (immer auch abgründige) Menschlichkeit bis zum Schluss: Selbst im Gefängnis gibt sie ihren inzwischen untreuen Geliebten nicht auf.

Der komplexe Charakter der Katerina wird von der bemerkenswerten Eva-Maria Westbroek mit darstellerischer und stimmlicher Vehemenz verkörpert: platinblond, ein Rubensweib und Pin-up-Fantasie – und zugleich höchst verletzlich. Unmöglich, sich ihrer Bühnen-Präsenz zu entziehen. Westbroeks rückhaltloser körperlicher Einsatz wie ihre Bereitschaft zur emotionalen Entäußerung sind bewundernswert. Die sichtbare seelische Erschütterung und physische Erschöpfung am Schluss wirken nicht gespielt.
Überhaupt hat Kušej eine Sänger/innen-Riege zusammengestellt, die bis in die Nebenrollen hinein stimmliche und darstellerische Präsenz glücklich vereinigt. Vladimir Vaneev ist als schwergewichtiger, zwischen Geilheit und Gier lavierender Schwiegervater eine ideale Besetzung; Christoper Ventris bringt die widerstreitenden Charakterzüge des Sergey überzeugend zusammen: Rohheit und Sensibilität, unbezähmbarer Ehrgeiz und echte Leidenschaft. Eine schillernde Persönlichkeit. Zinovy Borisovich Ismailov hat in dem hohen, „schwächlichen“ Tenor Ludovit Ludha einen nicht minder respektablen Darsteller. Besondere Erwähnung bei den Nebenrollen verdient Carole Wilson für ihren unbedingten Einsatz als Magd Aksinya, die in Kušejs Lesart das Opfer einer Gruppenvergewaltigung wird.

Vorzüglich agiert auch der Chor. Kaum vorstellbar, dass man die komplexe Partitur präziser, differenzierter und packender interpretiert als Mariss Jansons und das Royal Concertgebouw Orchestra. Nach dem jüngst bei der EMI veröffentlichten Zyklus sämtlicher Sinfonien ist dies Jansons zweiter, hochbedeutender Beitrag zum Shostakovichs-Jahr.
Ton und Bildregie sind ausgezeichnet. Ein einstündiges interessantes Feature von Reiner E. Moritz, das nochmals die hohe Indentifikation der Sänger/innen mit ihren Rollen bezeugt, rundet die exzellente Produktion ab.



Georg Henkel



Besetzung

Eva-Maria Westbroek: Katerina
Christopher Ventris: Sergey
Vladimir Vaneev: Boris & männlicher Gefangener
Ludovit Luha: Zinovy
Carole Wilson: Aksinya & weibliche Gefangene
u. a.

Chor der Nederlandse Opera
Royal Concertgebouw Orchestra


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