Musik an sich


Reviews
Grisey, G. (Ensemble S)

Le Noir de l’Etoile


Info
Musikrichtung: Neue Musik Schlagzeug

VÖ: 07.11.2006

Edition Zeitklang / Klassikcenter Kassel
CD (AD 2006) / Best. Nr. EZ-20022


Gesamtspielzeit: 56:49



INTERSTELLARE RHYHTMUSMASCHINEN

Der Weltraum. Unendliche Weiten. Unendliche Stille. Im Vakuum klingt nichts. Der Mythos von der „Harmonie der Sphären“, hervorgebracht durch das Kreisen der Himmelskörper auf ihren Bahnen, hatte schon vor über 2300 Jahren bei Aristoteles keine Chance mehr: Man höre ja nichts, so der Philosoph, also gebe es das auch nicht.
Selbst wenn der Himmel für die moderne Naturwissenschaft keinesfalls voller Geigen hängt, so ist es heute dennoch möglich, dem Universum den einen oder anderen Klang im (technisch) übertragenen Sinne abzulauschen: Im weißen Rauschen aus den Radios lässt sich z. B. das Echo des Urknalls vernehmen. Mit Radioteleskopen kann man am Sternenhimmel noch ganz andere potentielle Klangquellen entdecken: Pulsare, z. B. Bei diesen Überresten von Sternenexplosionen handelt es sich um nur wenige Kilometer große, extrem verdichtet Schwerkraftmonster, auch Neutronensterne genannt, die mehr oder weniger schnell um sich selbst kreisen und in gleichmäßigen Abständen einen starken Röntgenimpuls aussenden. Diesen kann man messen und in ein komplex ratterndes und pumpendes Tonsignal übersetzen. So wird aus einem Pulsar eine interstellare Rhythmusmaschine.

Das Phänomen hat den französischen Komponist Gerard Grisey (1946-1998) zu seiner Komposition Le Noir de l’Etoile (1989/90) inspiriert. Die Besetzung sieht diverse Fellschlagzeuge vor, deren eher dumpfes Klangspektrum den vom Tonband zugespielten Klängen der Pulsare Vela (11 Umdrehungen pro Sekunde) und 0329+54 (1,4 Umdrehungen pro Sekunde) korrespondiert. Einige Gongs und Becken, die das leichte Rauschen der Tonbandeinspielungen sowie sonstige kosmische Interferenzen aufgreifen, ergänzen das Ensemble. Die Spieler/innen werden bei einer Aufführung um das Auditorium herum gruppiert, so dass die Klänge im Raum kreisen können. Durch die Doppel-Disc mit einer konventionellen Stereo-CD- und einer surroundtauglichen DVD-Seite ist es möglich, diese Raumwirkung bei einem entsprechenden Equipment auch zu Hause zu simulieren.

Die obligaten Pulsarklänge sind als nur wenige Minuten lange Zwischenspiele eingeschaltet. Den größten Teil des rund einstündigen Werkes macht Griseys Komposition aus.
Grisey lässt sich bei der kosmischen Klangerkundung Zeit. Einzelne, weit gestreute und gelassen kreisende Trommelklänge fügen sich im ersten Teil erst über mehrere Minuten zunächst zu rudimentären Mustern, verdichten sich dann langsam und kommen schließlich in Fahrt, bis sie, grundiert von dichten Wirbeln auf der Militärtrommel, eine Art Strudel bilden, bei denen man an den Schwerkraftsog des Neutronensterns denken mag – oder an ein magisches Ritual. Nahtlos überblendet das Trommelfeuer in den originalen Pulsarklang. Auf diese Weise gerät die Abbildung des astrophysikalischen Logos und seine mythische Beschwörung durch archaische Klangmittel höchst suggestiv. Auch in anderen Abschnitten des Werks brandet der zunächst kontemplative Schlagzeugpart in der Konfrontation mit den Pulsar-Samples immer wieder gewaltig auf, erreicht rauschhafte, auch bedrohliche Qualitäten, um dann wieder in weiträumige, "leere" Abschnitte zu münden.
Man muss sich schon auf die besondere, auch magisch-unheimliche Wirkung dieser grauen Klangwelten einlassen, sonst droht ein eher dröges Hörerlebnis. Aufgrund der speziellen Besetzung ist Griseys originelle Musik alles andere als lukullisch. Sie ist notwendig konzentriert auf Klangfarbe, Dichtegerade und Dynamik. Gemessen an den Dimensionen seines kosmischen Gegenstandes ist die Machart von Le Noir de l’Etoile freilich konsequent.

Großes Lob für die optimale Klangregie und die exemplarische und konzentrierte Darbietung durch das Ensemble S!



Georg Henkel



Trackliste
1Part 122:00
2Pulsar Véla02:08
3Part 211:01
4Pulsar 0329+5403:05
5Part 318:35
Besetzung

Ensemble S / Musik für heute


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