Musik an sich


Reviews
Penderecki, K. (Wit)

Lukas-Passion


Info
Musikrichtung: Oratorium

VÖ: 10.11.2003

Naxos / Naxos (CD DDD (AD 2002) / Best. Nr. 8.557149)



VERSÖHNUNG UND AUFBRUCH: PENDERECKIS LUKAS-PASSION

ZWISCHEN AVANTGARDE UND POSTMODERNE

Die Uraufführung der Lukas-Passion am 30. März 1966 im Dom zu Münster ließ den 32jährigen Polen Kryzstof Penderecki (* 1933) schlagartig über die engen Szene-Grenzen der Neutöner hinaus bekannt werden. Penderecki war es gelungen, seine vor allem im Spannungsfeld von Klangfarbe und Geräusch angesiedelte Musik mit ganz unvermuteter Wirkung in den Dienst biblischer Texte und geistlicher Hymnen zu stellen.
Doch schon unter den radikalsten der vorangegangenen Werke, u. a. mit so programmatischen Titeln wie Emanationen, Fonogrammi, Polymorphia oder Fluorescences, hatte es Musik auf religiöse Texte gegeben: Aus den Psalmen Davids (1958) für Chor, Saiteninstrumente und Schlagzeug etwa, oder das dreichörige Stabat Mater von 1962.
Hier spätestens hatte der Komponist die Klangflächen- und Geräusch-Musik mit ihren neuartigen Sonoritäten verlassen. An die Stelle der Klangballungen trat wieder die melodische Linie und die durchhörbare Polyphonie, "zwölftönig" zwar, und auch Cluster nicht verschmähend, aber in Duktus und Klangwirkung immerhin so "konservativ", dass von Seiten der "harten" Avantgardisten Protest kam.
Stellt man das Werk in die Perspektive der Kompositionen Pendereckis ab den späten 1970er Jahren, so deutet sich hier schon jene postmoderne Wende zur "Neoromantik" an, in deren Umfeld dann die jüngeren Werke weitgehend angesiedelt sind. Was hier aber dann meist steril und wie ein abgenutztes Selbstzitat bewährter Effekte wirkt, geriet in der Passion noch zur großen Synthese.

VERTRAUTE MODERNE!?

Das umstrittene Stabat Mater integrierte Penderecki kurzerhand in seine Passion. Die dreichörige Anlage wurde zur Keimzelle, erweitert durch einen knabenbesetzten vierten Chor "aus der Höhe", ein Solistenterzet + Sprecher (Evangelist) und ein großes Orchester. Besetzt u. a. mit massivem Schlagwerk, Orgel, Harmonium und Saxophonen bot es dem Komponisten die Möglichkeit zu all dem, wofür er damals berühmt (und berüchtigt) war: massive Cluster, Glissandi, Schlagzeuggewitter, das Auskosten der extremen Lagen und Dynamik bei sämtlichen Instrumenten, unkonventionelle Satz- und Spielweisen, Vierteltonintervalle, geräuschhafte Wirkungen. All diese Klangformen finden auch im Vokalpart Anwendung.
Dabei stellt der Komponist hier seine Mittel stets in den Dienst einer hochexpressiven, dramatischen Textausdeutung, die vor allem in den Chören von sehr suggestiver, ja beschwörender Wirkung sein kann. Mancher Effekt streift in seiner Plakativität schon das Sensationelle, das düster-dräuende Passions-Klang-Pathos steht zumindest in der Wirkung den Gesten eines Richard Wagner oder Gustav Mahler nicht nach. Auch Assoziationen an atmosphärische Film-Musik stellen sich ein (was man freilich auch von den vorausgegangenen Werken sagen kann: Stanley Kuberick hat wohl nicht umsonst in seinem Film Shining frühere Werke Pendereckis benutzt!).
Es ist immer wieder verblüffend, wie der Komponist mit seinen Zwölftonreihen die Klangaura der Gregorianik beschwört. Oder wie sehr die Cluster und Vierteltonschritte im Stabat Mater an altslavischen Kirchengesang erinnern. Oder wie es Penderecki gelingt, den Solo-Partien selbst da einen ergreifenden Ausdruck abzugewinnen, wo die Linie mit "klassischem" Gesang vordergründig nicht mehr allzuviel zu tun hat. Ganz zu schweigen vom glissandierenden Heulen, Flüstern, Lachen und Schreien, das der Komponist für eindrucksvolle Klangtableaus bei den Massenszenen benutzt. Hier stand die Massenpsychologie des 20. Jahrhunderts hörbar Pate.

Kurzum: Das alles ist zwar "modern", dabei aber im Ausdruck auch wieder so vertraut und (dank der Textgebundenheit) auch wieder so unmittelbar verständlich, dass der unbefangene Hörer recht schnell in den Bann dieser Musik geraten wird.

SOUVERÄNE INTERPRETATION

Diese Neueinspielung unter Antoni Wit zeigt, wie sehr das Werk Teil des Repertoires geworden ist. Chöre und Orchester meistern die vor 30 Jahren noch ungewohnten und sperrigen Partituranweisungen mit großer Souveränität, ja geradezu Sensibiltät. Es zeigt sich auch, dass das Werk inzwischen zunehmend vom "Neoromatiker" Penderecki assimiliert wird. Oder besser: das dessen "zukunftsweisende" Seite heute deutlicher zu Tage tritt.

Hat man die (leider vergriffene) Ersteinspielung unter Henry Czyz mit der Besetzung der Uraufführung im Ohr, dann fällt die heute insgesamt weichere, biegsamere, ja geradezu empfindsamere Darstellung der Partitur auf. Es genügt, einmal den berühmten Schlussakord (auf einem kraftvollen, reinen E-Dur!), zu vergleichen: Bei Czyz klingt er trotz aller Tonalität eher harsch und etwas trüb, "im Bann der Passion", Wit läßt ihn als Vorausblick auf die Auferstehung jubilierend erstrahlen. Wo Czyz die Modernität und Härten der Klangmassierungen poinitert zur Geltung bringt, z. B. das Schlagzeug "knochentrocken" agieren und den (etwas vibratolastigen) Chor körnig deklamieren läßt, da fällt die Kantabilität, aber auch opake Flächigkeit auf, die die aktuelle Einspielung in diesem Momenten auszeichnet. Die Klangeffekte werden hier ineinandergeblendet, nicht wie bei Czyz nach dem Kontrastprinzip montiert (was sicherlich aufregender ist).
Allerdings dürfte die sehr direkte Akustik der alten Einspielung auch wesentlich "künstlicher" sein, als die der neueren, die in der Warschauer Philharmonie aufgenommen wurde und auf die panoramagleiche Raumwirkung der drei Chöre setzt (was auch zu viel Tiefen-Distanz führt, manches gerät zu leise). Die Uraufführung im Dom zu Münster, dessen Überakustik jede polyphone Festmesse zu einem harmonischen Gewoge werden läßt, wird noch einmal ganz anders geklungen haben ...
Die Solisten machen ihre Sache gut und engagiert. Allerdings sind bei Czyz Stefania Woytowicz, Andrzej Hiolski, Bernard Ladydz und der unvergleichliche Rudolf Jürgen Bartsch als Evangelist stimmlich (bzw. darstellerisch) mit den extremen Anforderungen des Werks besser zurechtgekommen (vor allem, was expansive Höhe und Tiefe mancher Partien angeht).



Georg Henkel



Besetzung

Izabella Klosinska (Sopran)
Adam Kruszewski (Bariton)
Romuald Tesarowicz (Bass)
Krzystof Kolberger (Evangelist/Sprecher)

Warschauer Knabenchor
Chor und Orchester der Warschauer National-Philharmonie

Ltg. Antoni Wit


Zurück zur Review-Übersicht