Knapp anderthalb Stunden Hochleistungssport: Igor Levit beim Gewandhausorchester mit Busonis gigantischem Klavierkonzert C-Dur




Info
Künstler: Gewandhausorchester

Zeit: 17.01.2025

Ort: Leipzig, Gewandhaus, Großer Saal

Internet:
http://www.gewandhausorchester.de

Ferruccio Busoni hat ein Problem, das er mit zahlreichen Kollegen teilt: Wenn man sich heute an ihn erinnert, dann als Klaviervirtuose – er selbst wollte aber viel lieber als Komponist wahrgenommen werden. Klar, in Pianistenkreisen kennt man auch noch diverse Kompositionen von ihm, aber alles, was er außerhalb der Tastenwelt noch so geschaffen hat, ist weitgehend im Dunkel des Vergessens verschwunden und findet sich kaum je auf den Spielplänen. Als posthumer Fluch erwies sich zudem Busonis Fähigkeit, Werke Johann Sebastian Bachs aufs moderne Klavier zu übertragen: Der „Bach-Busoni“, also die Transkription von Toccata und Fuge BWV 565 für Klavier (ob das Original wirklich vom großen Sebastian stammt, soll hier nicht diskutiert werden), ist das erste, was vielen Hörern beim Namen „Busoni“ einfällt, und obwohl es natürlich erstmal positiv ist, dass einem wenigstens das noch einfällt, so wäre der Komponist sicher glücklicher gewesen, sich mit einem komplett eigenen Werk im Gedächtnis der Hörerschaft zu verankern.

Im Idealfall wäre das wohl sein Opus 39 gewesen: das Konzert für Klavier und Orchester C-Dur BV 247, mit dem der deutsch-italienische Komponist 1904 alle Konventionen sprengte. Hatten Brahms und diverse andere Vorgänger die klassische dreisätzige Konzertform zur Viersätzigkeit erweitert, setzte Busoni noch einen fünften Satz drauf, was angesichts der inneren Architektur des Werkes durchaus folgerichtig erscheint. Damit einher geht eine monumentale Länge, und als sei das noch nicht genug, besetzt der Komponist für den fünften Satz auch noch einen Männerchor, was man in analoger Weise zwar aus der Gattung Sinfonie mittlerweile kannte und zumindest im Falle von Beethovens Neunter auch liebte – aber im Instrumentalkonzert hatte so etwas noch Seltenheitswert, und man muß schon zu heute weitestgehend vergessenen Komponisten wie Henri Herz schauen, der in seinem 6. Klavierkonzert anno 1858 so etwas schon einmal gemacht hatte.
Jedenfalls erntete Busoni seinerzeit eher gemischte Reaktionen, und das personalintensive Werk verschwand weitgehend in der Versenkung, aus der es nur ab und zu mal auftaucht. Immerhin braucht man für die Originalfassung (es gibt zudem eine 1909 erschienene, allerdings noch seltener aufgeführte Einrichtung von Egon Petri für zwei Klaviere, deren Cover hier abgebildet ist) ein großes spätromantisches Orchester, den Männerchor und einen konditionsstarken Pianisten, der knapp anderthalb Stunden Hochleistungssport meistern kann. Eine dieser raren Aufführungen gibt es nun Mitte Januar im Leipziger Gewandhaus. Igor Levit hat die Kondition (man erinnere sich an seine Gesamtaufführung von Dmitri Schostakowitschs 24 Präludien und Fugen op. 87 vor knapp drei Jahren an gleicher Stelle) und natürlich auch das Können für so einen technisch herausfordernden Brocken, große Spätromantik liegt dem Gewandhausorchester meistens, mit den Herren des MDR-Rundfunkchores sind anerkannte Profis zur Stelle, die von den Herren des GewandhausChores ergänzt werden (die ursprünglich ebenfalls angekündigten Herren des Leipziger Opernchores sind letztlich doch nicht dabei), und Dirigent Antonio Pappano ist zwar in London geboren, hat aber italienische Eltern, so dass man eine Affinität zur italienischen Tonkunst durchaus vermuten kann. Die Voraussetzungen für großartige Konzertabende sind also gegeben, und das denkt sich auch ein erklecklich großes Publikum: Solche Raritäten von heute wenig bekannten Komponisten werden (nicht nur) in Leipzig ja nicht selten mit Nichtachtung gestraft, aber das Gewandhaus-Publikum denkt diesmal offenbar genau anders herum, freut sich über die Möglichkeit, diese Rarität mal zu hören, und so sind alle drei Aufführungen (bei geringfügig verringerter Platzkapazität, da der Chor auf der Orgelempore postiert ist) ausverkauft.
Busoni hat nicht nur in der Länge der Komposition Dimensionen gesprengt, auch seine Satzbezeichnungen fallen sehr episch aus. „Prologo e introito: Allegro, dolce e solenne“ heißt etwa der erste. Im Prolog schweigt der Pianist noch – aus dem Orchester kommt eine breite Streichereinleitung, die auch breit bleibt, als die Bläser hinzutreten. Dramatik gibt es allenfalls unterschwellig, wobei festzuhalten bleibt, dass vom Sitzplatz des Rezensenten aus Pappano direkt hinter dem geöffneten Deckel des Flügels steht, seine Arbeit also nur bedingt analysiert werden kann. (Michael Oehme, der offenbar bessere Sicht zum Pult hatte, attestiert dem Dirigenten im Pizzikato-Magazin ein sehr elegantes Wirken vor allem mit der rechten Hand.) Die solenne Entwicklung, die ja schon der Satztitel fordert, hat hier aber System, denn auch das 1. Tutti bleibt harmlos, das zweite dann aber nicht mehr: Hier kommt schon etwas fiese Finsternis zum Tragen, die Levit dann sofort in seine ersten Entwicklungen übernimmt. In diesem Satz läßt seine ideelle Verzahnung mit dem Orchester hier und da noch kleine Wünsche übrig, was etwa die Dialoge mit den Holzbläsern oder auch so manche perlende Italianità angeht, wobei solche Fälle aber immer wieder von Geniestreichen abgelöst werden, wenn es etwa im Klavier förmlich spukt wie in den römischen Katakomben. Die Klangbalance mit dem Orchester gestaltet sich phasenweise ebenfalls schwierig – vor allem gegen voluminöse Streicherteppiche kann sich das Klavier akustisch kaum durchsetzen, während es sich gegen die Bläser besser behauptet. Der lange ausmäandernde Satzschluß wiederum zählt zu den Geniestreichen – die Tiefstreicher sägen, aber sie machen das so hintergründig, dass Levit vorn ist und bleibt.
Satz 2 namens „Pezzo giocoso: Vivacemente, ma senza fretta“ hängt attacca an, gebärdet sich relativ wild, bringt intensive Duelle zwischen Klavier und Orchester, flicht aber geschickt auch grotesk anmutende italienische Folklore ein, wobei das Orchester ein paar völlig schräge Grooves liefern darf.
Satz 3, „Pezzo serioso“, ist nochmal viergeteilt und so etwas wie das Herzstück des Werkes, wenn auch nicht das Symmetriezentrum (ein solches kann es wegen des Chorfinales nicht geben). Er hängt theoretisch nahezu attacca an Satz 2, an diesem Abend praktisch sogar komplett attacca, weil ein klingelndes Zuschauerhandy die Pause überbrückt, was Levit schulterzuckend zur Kenntnis nimmt. Auf die Konzentration der Musiker hat das keine spürbaren Auswirkungen: Pappano läßt das Orchester große fahle Flächen evozieren, und der spätere Blechchoral sowie dessen Übernahme ins Klavier genügen auch verwöhnten Ansprüchen. Der Dramatikfaktor nimmt etwas zu, auch optisch von Levit verdeutlicht, wenn er zu manchen Einzelakkorden nahezu komplett aufsteht, um von oben her die Hände auf die Tastatur fallen zu lassen. Wie Busoni den großen monströsen Ausbruch mit Gong sofort in sich zusammenfallen läßt, das verrät den eklektischen Könner ebenso wie die ewig lange und doch spannende Vorbereitung des nächsten Ausbruchs, die wie ein durch die Gegend tapsender Bär klingt. Und was der Bediener der Großen Trommel da im Schlußteil dieses Satzes macht (nämlich leise, aber durchdringend spielen), das wetzt einige kleine Scharten seiner Kollegen (das Blech versägt z.B. die Einleitung des Schlusses) locker wieder aus.
„All’Italiana (Tarantella): Vivace (in un tempo)“ steht über dem vierten Satz, und das weckt natürlich eine gewisse Erwartungshaltung. Die Musiker legen flirrend, aber kontrolliert, nicht hastig los, und in der Folge macht es mal wieder besonders Spaß, Levit nur spielen zu sehen (dazu wiederum ist der Sitzplatz des Rezensenten ideal) und zu staunen, wie er die Links-Rechts-Übergriffe meistert. Der Satz beinhaltet nur einige kurze Verharrungen, die im dynamischen Sinne prima eingesetzt werden, und hier und da könnte man einige Passagen auch in den Soundtrack eines Sandalenfilms übernehmen. Rings um die Kadenz ist dramatisch auch einiges los, und nur der Einzeltonschluß wirkt arg merkwürdig und nicht so richtig spannend.
„Cantico: Largamente“ möchte Busoni das Finale haben, also baut Pappano wieder eine große düstere spätromantische Klanglandschaft, inmitten derer plötzlich das Saallicht angeht – offenbar soll dem Publikum das Mitlesen des Textes (aus „Aladdin“ von Adam Gottlob Oehlenschläger) im Programmheft erleichtert werden. Der Chor braucht zwei Zeilen, um zu voller Sicherheit zu finden, wird allerdings in der tieferen ersten Strophe weitgehend von den tieferen Orchesterinstrumenten zugedeckt. Klangfarblich besser abheben kann er sich erst in der höheren zweiten Strophe. Der Pianist pausiert hier lange, erst während der zweiten Strophe gliedert er sich zunächst noch unauffällig ins Geschehen ein. Die beiden letzten Zeilen läßt Pappano den Chor quasi aus Stein meißeln, wobei der Pianist in der letzten Zeile tatsächlich als wichtig integriert ist – dass dann noch ein eher unentschlossener Orchester-plus-Klavier-Schluß anhängt, mutet freilich merkwürdig an, und generell wirkt der Chor angesichts seiner überschaubaren Einsätze fast verschenkt. Gegen das Finale aus etwa Mahlers Zweiter ist das hier jedenfalls auch emotional ein eher laues Lüftchen, so dass es interessant wäre, mal die vom Komponisten selbst erstellte, aber unveröffentlicht gebliebene Fassung ohne Chor zu hören. Aber angesichts der insgesamt durchaus überzeugenden 80 Minuten bleibt der Eindruck dieser Aufführung trotzdem sehr positiv, und das sieht auch das Publikum so, das in lauten und ausdauernden Jubel ausbricht und schon vor dem ersten Vorhang nahezu komplett steht. Dass der optisch gezeichnete Levit angesichts des physisch extrem fordernden Stückes auf eine Zugabe verzichtet (anderthalb Tage später hat er das Werk schließlich noch einmal vor sich, und am Vorabend hat er es auch schon gespielt), versteht wohl jeder. So haben wir also einen wertvollen nachträglichen Beitrag zum Busoni-Jahr 2024 – sein 100. Todestag am 27.7.2024 ist in der Musikwelt kaum zum Anlaß genommen worden, sich seinem Schaffen stärker zu widmen. Aber vielleicht lagert dort noch so manches andere Interessante, so dass das eingangs genannte Bild ein wenig zurechtgerückt werden könnte?


Roland Ludwig



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