MDR-Sinfonieorchester und MDR-Rundfunkchor sprengen am 1. Weihnachtstag das Konzept traditioneller Weihnachtskonzerte




Info
Künstler: MDR-Sinfonieorchester, MDR-Rundfunkchor

Zeit: 25.12.2022

Ort: Leipzig, Gewandhaus, Großer Saal

Fotograf: Andreas Lander (MDR)

Internet:
http://www.mdr-konzerte.de

Howard Arman, von 1998 bis 2013 Leiter des MDR-Rundfunkchores, ist wieder mal im Lande und holt das 2021 pandemiebedingt vor leeren Rängen nur für die Sendung aufgezeichnete Weihnachtskonzert mit dem Chor und dem MDR-Sinfonieorchester nach. Nun ist der Mann einerseits Brite, also mit dem dortigen weihnachtsangehauchten Musikschaffen bestens vertraut, aber andererseits auch mit einem gepfefferten Sinn für Humor ausgestattet – man durfte also gespannt sein, ob diese Kombination auch 2022 ein einzigartiges Ergebnis zeitigen würde. Um das Urteil vorwegzunehmen: Ja, sie tut es.

Der erste Konzertteil gehört einem größeren chorsinfonischen Werk, der Kantate „Dona nobis pacem“ von Ralph Vaughan Williams, einem Komponisten, dessen „A Sea Symphony“ auf Texte von Walt Whitman Arman in seiner Amtszeit bereits aufgeführt hatte. Die Kantate enthält ebenfalls Whitman-Texte, beschränkt sich aber nicht auf solche, sondern fügt auch Bibelzitate oder Auszüge einer Rede von John Bright ein, mit der letzterer in der Mitte des 19. Jahrhunderts den Krimkrieg zu verhindern versucht hatte – vergeblich, wie wir heute wissen. Der Friedensappell im Kontext mit der Krim erhält im Jahr 2022 natürlich eine noch ausgeweitete Bedeutung, an die selbst bei der Konzipierung des Programms anno 2021 noch nicht zu denken war. Die Komposition stammt übrigens aus dem Jahr 1936 – auch ein spannendes Jahr im Hinblick auf Krieg und Frieden, wie wir im Rückblick heute wissen.
Die Kantate gliedert sich in fünf oder sechs Sätze (der fünfte wird bisweilen als geteilt betrachtet). Das eröffnende Agnus Dei stellt Sopranistin Eleanor Lyons in den Mittelpunkt, die mit einer klaren und angenehm unschrillen Stimme über Streicherflächen quasi betet, im Wort „peccata“ plötzlich aufzubrausen hat und zum Schluß in einer bedächtigen A-Cappella-Linie versinkt, nachdem der Komponist mit minimalen Mitteln schon einiges an Dramatik erzeugt hat.
„Beat! Beat! Drums“ fällt noch in die letzten Momente der Sopranlinie ein (alle Sätze gehen ineinander über) und zerstört den Frieden im Handumdrehen mit einigem militärischem Arsenal aus dem Orchester wie aus dem Chor. Eine kurze Beruhigung am Beginn von Strophe 3 bleibt episodisch, der nächste Ausbruch drängt bald herbei, der erst nach einem feisten Gongschlag zum ätherischen Frieden zurückgeführt wird und eine erste Kostprobe von Armans Können liefert, den Chor auch im wilden Schlachtgetümmel akustisch nicht ins Abseits zu stellen.
In „Word over all“ nimmt Bariton Neal Davies die Rolle eines Erzählers ein und bringt dafür auch genügend Durchsetzungskraft mit – ariose Gestaltungsfähigkeit wird ihm erst später abgefordert. Wie die Beteiligten den abrupten Stimmungswechsel vor „For my enemy“ aus dem Ärmel schütteln, stellt ihnen ein exzellentes Zeugnis aus, und Lyons steuert im Finale noch ein ätherisches „Dona nobis pacem“ bei, das der angerufene Herr prompt beantwortet, indem er seinerseits bei jemandem im Publikum anruft, der sein Mobilofon nicht ausgeschaltet hat.
„The last sunbeam“ gestaltet sich lange als instrumentaler Trauermarsch („Dirge for two Veterans“ heißt das zugehörige Whitman-Gedicht offiziell), den Arman zwar bedächtig, aber doch mit Vorwärtsdrang spielen läßt, ohne dadurch die noch bevorstehenden Steigerungsschritte zu beeinträchtigen – die zunehmende Intensität kann immer noch problemlos dargestellt werden und paart sich prächtig mit einigen choralartigen Einwürfen, während das Ende eher mit Marschelementen kokettiert, als sie konsistent zu einem solchen zusammenzufügen.
„The Angel Of Death“ läßt zunächst Davies wieder seine Erzählerrolle ausfüllen, diesmal über Schlagzeugbackground, und das Geschehen steigert sich zum kollektiven Aufschrei „Dona nobis pacem“, über dem Lyons grandios schwebt. Davies wiederum kombiniert im letzten Satz „O man greatly beloved“ geschickt deklamatorischen und ariosen Gestus, wobei auffällt, dass die hier vertonten Bibelzitate lange Zeit allesamt aus dem Alten Testament stammen, bevor als Finale einer der Evangelisten zu Wort kommt. Ab Zitat 3 übernimmt der Chor die weitere Dramatikgestaltung, die letztlich in weihnachtlich gedachtes Tongeklingel mündet (man mag es oder auch nicht), während das Finale ausgesprochen intelligente Aufgabenverschränkungen bietet und Sopran und Chor im Wechsel a cappella ins Nichts ersterben. Diesmal ruft niemand an, die Spannung steht, und das ausverkaufte Rund spendet viel Applaus, der aber in der Intensität noch Steigerungsmöglichkeiten offenbart.

Die zweite Programmhälfte spannt sich zwischen Ernst und Humor, wobei Arman alle Arrangements selbst geschrieben hat. Los geht’s mit der Christmas Ouverture von Samuel Coleridge-Taylor, einem prima Mix aus Lässigkeit und ein wenig choralhafter Schwere (obwohl hier gar niemand singt), in dem diverse Weihnachtslieder verarbeitet sind und das Bombastfinale „Hark! The Herald Angels sing“ verarbeitet. „Arrangements vom Fast-Seriösen bis zum Geschmacklosen“ verspricht Arman, der ab hier auch als Conférencier agiert und sich „Hark!“ gleich nochmal widmet, diesmal aber dem Mendelssohn-Stück, das nach einem Orgelvorspiel einen bläsergrundierten Männerchor in Strophe 1, eine Fassung für Frauenchor plus Orgel in Strophe 2 und eine chorsinfonische Fassung mit oberstimmendominiertem Chor in Strophe 3 bietet. Rossinis Nuit de Noël „Calme et sans voile descend la nuit“ kommt als Pastorale mit coolen Fagottläufen daher, das gern Händel zugeschriebene, aber von Lowell Mason stammende „Joy To The World“ hören wir in knapper, aber fast cineastisch-breitwandiger Fassung, während „Resonet in laudibus“ aka „Joseph, lieber Joseph mein“ als klassischer Chorsatz (mit ein paar zusätzlichen Wiederholungen) beginnt, aber ab Strophe 2 erst harmonisch und dann auch strukturell aus dem Gängigen auszubrechen beginnt, ehe ein Ausklang in eternaler Brillanz anhängt. Das katalanische Weihnachtslied „Lo Desembre congelat“ gebärdet sich anfangs als Call-and-Response-Struktur ohne Orchester, aber dieses greift bald ins Geschehen ein, ein angejazztes Klavier sorgt für Unruhe, und Bongotrommeln geben dem Ganzen ein wohl südamerikanisch gedachtes Kolorit – ein eher undurchsichtiger Mix, aber witzig.
Auf Witz kommt es bei Howard Armans eigenem Firnschneewalzer auch an – er läßt das Publikum mitzählen, wie viele Stücke mit Schnee im Titel er dort verarbeitet hat. Fünf sind es, und das Spektrum umfaßt deutschsprachige wie „Leise rieselt der Schnee“, aber auch anglophone wie „Let It Snow“ und gipfelt tatsächlich im Schneewalzer, der in einigen Orchestergruppen auch noch optisch untermauert wird, indem Skisprung oder auch Abfahrtslauf Andeutung finden. „Era Rodolfo un Reno“ wiederum kommt als herrlich pseudospanische Fassung rüber: Die Orgel liefert Krummhörner (oder ein ähnlich gefärbtes Register), und dann kommt erst pseudospanische Alte Musik mit Kammerbesetzung, später dann pseudospanische romantische Orchestermusik mit Kastagnetten. In der Ansage zuvor hatte Arman, nachdem er die Zahl der im Firnschneewalzer verarbeiteten Themen aufgelöst hatte, folgenden Satz hinzugesetzt: „Wenn Sie jetzt mehr als ein Lied hören, kann ich Ihnen auch nicht helfen – es gibt nur eins!“ Entweder er oder aber einer seiner Orchestermusiker treibt freilich Schabernack mit dem Publikum, denn kurz vorm Ende kommt aus der Bläserecke die Melodie von „Kling, Glöckchen, klingelingeling“ ...
Für solche Scherze liebt man die Humoristen da auf der Bühne – und verzeiht ihnen auch, dass die jazzig gedachten Versionen von „Winter Wonderland“ und „Have Yourself A Merry Little Christmas“ zwar gut gespielt sind, aber ein bißchen arg hüftsteif rüberkommen, vor allem was den Leadgesang angeht, während das kurze Umschalten in zirkusartige Klänge im erstgenannten so schräg anmutet, dass es schon wieder Charme hat. Guten Teilen des Publikums gefällt offenbar aber auch das, und es fällt nicht schwer, eine Zugabe zu erklatschen. Arman: „Viele von Ihnen sind wahrscheinlich hier, um das Kalenderlied zu singen.“ Er könne es aber nicht verantworten, dass das ohne Warmsingen geschähe – also gibt es erst noch „O du fröhliche“, das einem beim gemeinsamen Singen mit knapp 2000 anderen Menschen und feistem Orgelprinzipal schon den einen oder anderen angenehmen Schauer über den Rücken jagt. Das Kalenderlied von Franz Grothe dagegen „definiert die Grenzen des schlechten Geschmacks neu“, meint der Dirigent verschmitzt, aber auch Trash kann ja in gewisser Dosis kultverdächtig sein, und das ist die Version hier zweifellos, leadgesungen von Chor-Tenor Andreas Fischer (Foto) – und das Publikum darf nach entsprechender Übung die jeweilige Refrainwiederholung singen, deren Text der Rezensent dem Leser nicht vorenthalten will: „Kalender, Kalender, du bist ja schon so dünn!/Jetzt ist es bis Weihnachten nicht mehr lange hünn.“ So jedenfalls die bewußte Aussprache Armans, der hinzusetzt: „Schauen Sie mich nicht so an, ich hab’ den Text nicht geschrieben.“ Das Ganze wird also zum großen Spaß mit recht naturalistischer Schneeflockendarstellung in Strophe 3 und einem A-Cappella-Chorfinale auf „hin – hin – hin“, wonach wieder allgemeiner Jubel ausbricht. Frohe Weihnachten!

PS: Zum Rezensionszeitpunkt kann das Konzert nachgehört werden.


Roland Ludwig



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