Riot

Archives Volume 5: 1992-2005


Info
Musikrichtung: Metal

VÖ: 20.11.2020

(High Roller )

Gesamtspielzeit: 112:18

Internet:

http://www.areyoureadytoriot.com


Teil 5 schließt die Riot-Archiv-Serie aus dem Hause High Roller Records ab, und zwar mit einem extravoluminösen Umfang: Kamen die Teile 1 bis 4 jeweils als Doppelsilberling daher, so bringt es das Finale auf drei Scheiben, und zwar eine reine Audio-CD, eine Audio-CD mit einem zusätzlichen Datentrack und eine DVD. Da allerdings die Rückengestaltung des durchgehenden Motivs schon auf eine normale Schubergröße ausgelegt war, blieb keine Möglichkeit, eine halbwegs vernünftig strukturierte Dreifachbox unterzubringen, und so gibt es die beiden Audioteile in einem normalen ausklappbaren Doppeltray wie die Vorgänger, während die DVD in einer Papierhülle lose dem Schuber hinzugefügt wurde, ebenso wie das gestalterische Extra in Form eines Posters mit dem Cover- und Bookletrückseitenartwork – und das lohnt sich definitiv, denn hier haben wir mit Abstand die geschmackvollste Gestaltung der Serie und überhaupt ein optisches Highlight im Riot-Tonträger-Kontext vor uns: Bekanntermaßen konnte die Optik der Coverartworks bei Riot nur sehr selten mit dem zumeist hochqualitativen musikalischen Inhalt mithalten, aber das hier ist einer dieser seltenen Fälle. Und um das neue Cover wertzuschätzen, muß man nicht mal Bergsteiger sein, wenngleich das natürlich noch hilft – schließlich geht der Blick hier zum Fuji, und der gilt als einer der am edelsten geformten Berge der Welt und steht auch noch in Japan, also dem Land, wo Riot seit den Siebzigern ihre wohl treueste Anhängerschaft hatten.

Die Jahreszahlen im Untertitel verraten dem Kenner bereits, dass wir uns hier in der Ära mit Mike DiMeo am Mikrofon bewegen, wenngleich 1992 auch noch Tony Moore oder Harry „Tyrant“ Conklin im Spiel gewesen sein könnten – aber auf dem Material aus diesem Jahr, das die erste Hälfte der ersten CD füllt, sind beide nicht zu hören. Den Auftakt bildet ein Rough Mix von „Black Mountain Woman“ mit abweichendem Intro – eine andere Version landete letztlich als Japan-Bonustrack auf Nightbreaker. „Sylvia“ wird gleich in zwei Varianten präsentiert, einmal hier und einmal auf CD 2 – veröffentlicht wurde damals keine der beiden, und der interessanten Melodic Rock bietenden und einen durchaus eingängigen Refrain auffahrende Song, kompositorisch ein wenig wie ein Nachfolger von „Maryanne“ anmutend, landete nur als Bonustrack auf einer inoffiziellen Livescheibe und dann offiziell auf der 2020er Rock World-Raritätensammlung von Metal Blade Records. „Magic Maker“, „Night Breaker“ und „Silent Screams“ hingegen wurden allesamt auf Nightbreaker übernommen, letzterer freilich als „Silent Scream“. Der starke Fäusteschüttel-Refrain ist hier auch in der Demofassung schon da, das Gitarrensolo aber noch nicht, während die beiden anderen Songs gleichfalls schon die finale Struktur zeigen („Magic Maker“ kommt als Rough Mix, „Night Breaker“ – tatsächlich auseinandergeschrieben, zur editorischen Frage lese man bei Interesse das zugehörige CD-Review auf diesen Seiten nach – als Demoversion). „Sailor“ hingegen blieb in den Archiven, jedenfalls bis 1999, als es auf der US-Pressung des The Brethren Of The Long House-Albums auftauchte. Die 1992er Demofassung entspricht schon weitgehend der späteren, nur fehlt hier das Akkordeon noch, und wir hören im Hauptsolo Keyboardteppiche, während es die Mandolinenpassagen auch schon hier gibt – und je öfter man die Nummer hört, umso besser weiß sie zu gefallen. „Good Lovin‘“ hingegen machte schon von Anfang an Hörspaß, und auch die hier zu hörende Alternativversion läßt die Tower Of Power Horns fleißig tröten und evoziert ein feines Stück Fusion-Metal, das zwar stilistisch nicht auf das recht erdige Nightbreaker-Album gepaßt hätte, aber rein in qualitativer Hinsicht dort definitiv nicht durchgefallen wäre, und so ist es gut, dass die Nummer sowohl auf Rock World als auch hier auf dem fünften Archiv-Teil noch den Weg ans Tageslicht gefunden hat. Datiert ist die hier zu hörende Aufnahme nicht, aber es steht stark zu vermuten, dass auch sie in die 1992er Arbeitsphase fällt.
Mit den beiden folgenden Songs springen wir ins Jahr 1994: „Brethren Of The Long House“, hier als Rough Mix, wurde letztlich zum Titeltrack des Folgealbums, und auch die Ballade „Rain“, hier als Demofassung, fand ihren Weg auf besagte Scheibe – und man nimmt sich vor, diese nochmal einzuwerfen, um zu checken, ob die Albumfassung im Intro auch so nach „Soldier Of Fortune“ klingt (man wartet förmlich darauf, dass David Coverdale zu singen beginnt). Die Hammondorgeln im Hintergrund verleihen der Nummer noch einen Extra-Touch in Richtung Siebziger, und das sehnsüchtige Feeling gibt es auch schon hier, allerdings auch einen etwas holpernden Schluß.
Mit den beiden Folgenummern erreichen wir bereits das Ende der Zeitschiene: „Knockin‘ At My Door“ und „Darker Side Of Light“ sind als 2005er Demofassungen der 2006 auf Army Of One gelandeten Songs deklariert und schieben die hier und da zu lesende Geschichte, das Album sei bereits 2003 eingespielt, aber erst drei Jahre später veröffentlicht worden, ein weiteres Stück in den Bereich des Unwahrscheinlichen. Erstgenannter Song läßt die Qualitäten der Albumfassung durchaus bereits erkennen, deren AOR-Touch aber noch stärker poliert wurde (das ist hier positiv gemeint), und zweitgenannter erinnert auch in dieser Frühform strukturell schon ein wenig an Stratovarius‘ „Kiss Of Judas“, ist hier allerdings noch deutlich länger und macht erstmal den Eindruck eines Instrumentalstücks, bevor nach etlichen Minuten dann besagter Tolkki-artiger Part um die Ecke gebogen kommt und den Song in „normale“ Bahnen lenkt. So ein bissel schade ist’s schon, dass auf dem Album letztlich „nur“ eine siebenminütige Fassung landete, während wir in der Demofassung auf über zehn Minuten kommen und trotzdem nicht zu gähnen beginnen.
Die letzten drei Tracks von CD 1 passen nicht in die Untertitelzeitspanne, wobei der erste wieder mal eine der vielen Versionen von „Killer“ ist, diesmal eine mit Joe Lynn Turner, und zwar eine, wo er im Alleingang agiert und zudem ein wenig expressiver als in anderen Fassungen. Kann man als Sammler haben, muß man aber nicht zwingend besitzen, zumal zwar die Hörner schon eingebaut sind, die Leadgitarre aber noch nicht. Die beiden anderen Songs könnten zumindest Vinylsammlern schon bekannt vorkommen – es sind alte Singletracks, wobei die Liveversion von „Warrior“ 1982 (also mit Rhett Forrester am Mikrofon) aufgenommen, aber erst 1984 als letztes Lebenszeichen der Band vor der vorübergehenden Auflösung veröffentlicht wurde (schrägerweise von ZYX Records, die überwiegend ganz andere Musik herausbrachten). Hier macht Sandy Slavin am Drumkit enorm viel Druck und zeigt, dass er durchaus geradlinig powern kann – hätte er das auf Fire Down Under doch mal getan, anstatt eher polternd zu agieren! Obwohl man eine der Gitarren eher schlecht hören kann, macht die Aufnahme dem Studiooriginal von 1977 alle Ehre und dem Hörer jede Menge Spaß. Der 1980er Mitschnitt von „Rock City“ bringt am Mikrofon hingegen noch Guy Speranza zu Gehör und stammt gemäß dessen Publikumskommunikation aus London, wo er entweder am 19. oder 20. April im Hammersmith Odeon auf der Support-Tour für Sammy Hagar aufs Band gebracht worden sein muß. Auch hier herrscht viel Spielfreude, und das Publikum zeigt sich ähnlich gut gelaunt wie der Hörer, dem, so er empfänglich für diese Sorte Musik ist, deren Qualität nicht verborgen bleiben kann. Die Nummer war damals die B-Seite der Outlaw-Single und fand sich auch auf dem allerdings erst ein knappes Jahrzehnt später erstmals offiziell veröffentlichten Riot Live-Album zusammen mit weiteren 1980er Aufnahmen aus England. Als Anhängsel gibt es nach ein paar Sekunden Pause in diesem Track als hübsches Gimmick noch den Refrain von „Silent Scream“ – und zwar a cappella, also nur DiMeos Lead- und die Backingvocals.

CD 2 hebt mit der erwähnten zweiten Version von „Sylvia“ an, bevor sich die anderen vier Songs in den „Werkstattbereich“ begeben, teils auf 1992 bzw. 1994 datiert, teilweise ohne zeitliche Zuordnung. Hier bekommen wir also eine Sammlung von Songideen in unterschiedlichsten Ausarbeitungsstufen, allesamt noch ohne Gesang. Das als „Intro ‚Romeo‘“ bezeichnete Stück hätte man allerdings problemlos auch in dieser Form veröffentlichen können. Zwei Minuten lang gibt es eine hochinteressante Kombination aus Akustik- und Elektrogitarre über einem Keyboardteppich, teils im Stile von MSGs „Courvoisier Concerto“, danach in eine orchestrale Klanglandschaft mündend – und Riot haben dieses Stück tatsächlich auch schon live gespielt: Was wir hier hören, ist gewissermaßen eine Studiovariante von Mark Reales Solospot auf der 1992er Japan-Tour, den man auf der Live In Japan-CD und auch dem auf Archives Volume 4 zu findenden Gigmitschnitt kredenzt bekam, allerdings in beiden Fällen ohne den „Romeo“-Titel. Andere Teile sind noch nicht so weit ausgearbeitet – aber sie machen klar, wie übervoll der Songwritingbecher Reales war. In Track 3 exerziert er beispielsweise von Minute fünfeinhalb bis neuneinhalb ein kräftiges Riff im schweren Midtempo in verschiedenen Unterbaukonstellationen durch, woraus ein richtig guter Song hätte werden können – und so manche Postrocktruppe hätte diese vier Minuten gar 1:1 in eine ihrer Eigenkompositionen übernehmen können, ohne dass das irgendwie aus dem Rahmen gefallen wäre. Auch das auf 1992 datierte treibende Instrumental enthält genug Details, um schon in dieser Form über seine Spielzeit hinweg interessant zu bleiben, wenngleich man schon ahnt, dass da im Arrangement noch „Platz“ für eine Gesangslinie gelassen worden ist. Die Einleitung des 1994er Songs hingegen erinnert stark an die von „Tokyo Rose“, und man wartet an einer bestimmten Stelle eigentlich nur, dass Guy Speranza zu singen beginnt, wenngleich sich der Hauptteil des Songs dann in eine andere Richtung bewegt.
Neben den knapp 35 Minuten der Audio-CD enthält die Scheibe auch noch eine Datei mit weiteren anderthalb Stunden Spielzeit, die in musikhistorischer Hinsicht hochinteressant sind. Die Geschichte, dass Mark Reale anno 1994 mit Guy Speranza an einem Soloalbum des letzteren gearbeitet habe, ist in verschiedensten Versionen bekannt, aber alle sind sich darin einig, dass keiner genau wußte, wie weit die Arbeiten letztlich gediehen waren und ob da irgendwo etwas Veröffentlichungsreifes schlummerte. Von daher war gespannt abzuwarten, ob Giles Lavery, der übrigens in diesem letzten Archives-Teil einer der beiden für das Booklet Interviewten ist, bei seiner Katalogisierung des Tape-Lagers von Mark Reale irgendwas in dieser Richtung finden würde – und er wurde tatsächlich fündig, wenngleich nicht in der Richtung, die viele Fans insgeheim erhofft hatten: Fertige Songs hatten die beiden offenbar noch nicht, sondern die Arbeit wurde noch in einem relativ frühen Stadium abgebrochen, als Speranza das Projekt aufgab. Da sowohl er als auch Reale nicht mehr leben, kann niemand von den direkt Beteiligten mehr befragt werden, und so sind wir auf Indizien und eben solche Funde angewiesen wie das DAT-Tape vom 4.4.1994, das eine „Arbeitssitzung“ von Reale und Speranza dokumentiert: Speranza singt, Reale spielt Gitarre, und dann hört man immer wieder auch Keyboards, meist als Hammondorgelsound, wobei zu vermuten steht, dass Speranza die spielt – oder es war doch noch eine dritte Person dabei. In der ersten Stunde arbeiten die beiden an einem Song, der, falls eine bestimmte intensiv getestete Passage der Refrain hätte werden sollen, möglicherweise „Rebel“ getauft worden wäre und einen leicht bluesigen Touch besaß, was einschätzungstechnisch freilich alles andere als repräsentativ für ein hypothetisches Endergebnis wäre. In der letzten halben Stunde kommt es zu Diskussionen zwischen Reale und Speranza, was die Anhängerschaft denn von einer Speranza-Soloscheibe stilistisch erwarten würde – und es soll eine Scheibe im Stile der alten Riot-Werke werden. Hier bekommt dann jeder Anhänger derselben einen Herzinfarkt oder zumindest das große Zittern ob der Tatsache, dass dieses Projekt nie über einen gewissen noch relativ rudimentären Arbeitsstand hinausgelangt ist, es sei denn, Lavery hat noch etwas weiter Ausgearbeitetes gefunden, was dann irgendwann in Zukunft das Licht der Welt erblickt. Aber die Wahrscheinlichkeit dafür dürfte eher gering sein – seine Durcharbeitung des Reale-Archives liegt schon Jahre zurück, und wenn tatsächlich fertige Speranza-Reale-Songs gefunden worden wären, hätten diese in der Zwischenzeit sicher schon den Weg in die Öffentlichkeit gefunden, denn so einen Sensationsfund würde man nicht jahrelang auf Halde ruhen lassen.
Die angesprochene Diskussion ist auch dahingehend interessant, was Reale und Speranza dazwischen locker einjammen – da ist nämlich „Tokyo Rose“ dabei und auch eine Bridge aus „Sign Of The Crimson Storm“, was aber als eher nicht zu Speranzas Stimme passend deklariert wird. Ansonsten finden wir an „Fremdmaterial“ u.a. noch „Smokin‘ In The Boys‘ Room“, „Tears In Heaven“, das Keyboardthema von „A Whiter Shade Of Pale“ (das ist interessant, da Riot diese Nummer gerade erst für Nightbreaker gecovert hatten) und „Man On The Silver Mountain“ – und dann arbeiten die beiden noch an einer Passage über „El Dorado“, und der Rezensent überlegt hin und her, wo Mark Reale diese entweder vorher hergenommen oder aber später noch untergebracht hat ...

Die DVD enthält einen knapp zweistündigen Livemitschnitt aus Riots japanischem „Wohnzimmer“, also dem Club Citta in Tokio bzw. Kawasaki, wo die Formation anno 1996 gleich an drei aufeinanderfolgenden Abenden gastierte, nämlich vom 12. bis zum 14. April. Das Material scheint komplett von einem der Abende zu stammen, und es kann nicht der 14. sein, da Mike DiMeo die Anwesenden mit „See you tomorrow“ verabschiedet – Genaueres können nur Dabeigewesene sagen. Jedenfalls war es die Tour zum The Brethren Of The Long House-Album, dessen Cover denn auch als Backdrop Verwendung findet – und da Riot oft dazu neigten, sehr viel Material ihres jeweiligen aktuellen Albums auch live zu spielen, überrascht nicht, dass sie das auch diesmal taten: Bis auf den Bonustrack „Sailor“, die Ballade „Rain“, den Gary-Moore-Coversong „Out In The Fields“ und – doch eine Überraschung – den Titeltrack wird das Album komplett durchgespielt, sogar ungefähr in der gegebenen Reihenfolge. Lediglich „Rolling Thunder“ und „Wounded Heart“ tauschen die Plätze, Gleiches gilt für „Santa Maria“ und „Blood Of The English“, und „Ghost Dance“ rückt zwei Positionen nach hinten – die Grundstruktur aber bleibt unangetastet, also auch mit „Last Of The Mohicans“ in der Kurzfassung als Intro und der Langfassung im Finalteil.
Das Intro kommt zunächst vom Band, aber der Drummer übernimmt bald live, bevor auch die beiden Gitarristen hinzustoßen – und irgendwann wird dann auch so viel Licht, dass man auf der Bühne etwas erkennt: Gefilmt wurde mit drei Kameras, die eine von hinten, die zweite von schräg rechts oben und die dritte von schräg links oben, und vor allem die erste hat Schwierigkeiten, bei geringer Bühnenbeleuchtung noch etwas Sichtbares einzufangen. Das kennt man freilich schon von den diversen anderen Citta-Mitschnitten und kann damit umgehen, zumal der Ton für die Mitschnittverhältnisse relativ gut ist – als Running Gag ist nur Pete Perez am Baß lange Zeit nur diffus zu hören und lediglich dann deutlicher wahrnehmbar, wenn sich Reale und Flyntz zu Doppelsoli treffen. Das tun sie freilich recht häufig, so gleich im Opener „Glory Calling“, der mit ekstatischer Spielfreude klarmacht, dass wir uns auf ein großartiges Konzerterlebnis freuen dürfen – und ein solches erleben wir dann auch. Der erwähnte Drummer ist, wie der Kenner der Bandgeschichte weiß, nicht Bobby Jarzombek, sondern John Macaluso, der bedarfsweise auch geradlinig nach vorn powern kann, aber einen etwas anderen Stil als Jarzombek spielt und auch, wie man anhand einiger Großeinstellungen von ihm gut erkennt, optisch ganz anders als dieser rüberkommt, ohne dass man freilich sagen müßte, er passe nicht zur Band – ganz im Gegenteil: Er wirkt zusammenspieltechnisch bestens integriert. Was er wie auch Jarzombek nicht tut, ist, Backing Vocals beizusteuern – das bleibt der Job der drei Saitenspieler. DiMeo wiederum kommt in vielleicht geplanter Übereinstimmung mit dem Sujet des Albums, das sich bekanntlich um die First Nations des nordamerikanischen Kontinents dreht, mit einem Irokesenschnitt daher – der Rezensent hat die Band einen reichlichen Monat später in Leipzig gesehen, kann sich allerdings nicht mehr erinnern, ob der Sänger die Frisur auch dann noch trug. Die Wahrscheinlichkeit dafür ist gering, denn beim zur gleichen Tour (mit Whiplash und Skyclad, welchletztere damals gerade das soeben von Norbert abgefeierte und zu Recht mit Vollpunktzahl belegte Irrational Anthems-Meisterwerk draußen hatten) gehörenden Gig in Berlin trug er einen „normalen“ Kurzhaarschnitt, wie ein bei Youtube zu findender Mitschnitt beweist. DiMeo hat die japanische Publikumsmenge jedenfalls problemlos im Griff, schon in „Soldier“ (schönes Wechselsolo!) läßt er das titelgebende Wort oft vom Auditorium singen, und dieses ist offenbar auch mit dem in Japan bereits im Herbst 1995 erschienenen neuen Album bestens vertraut, wenn man den Jubel auch bei der Ansage neuer Songs wie „Rolling Thunder“ als Maßstab nimmt. Nicht immer klappt alles hundertprozentig – so holpert der Übergang ins Doppelsolo von „Blood Of The English“ ein wenig, später in „Thundersteel“ liegt Reale im Solo mal meilenweit daneben, und auch DiMeo braucht ein paar Nummern, um stimmlich auf Betriebstemperatur zu kommen -, aber das macht dann den unverfälschten Liveeindruck aus und beeinträchtigt trotzdem nicht das Urteil, es hier mit großen Könnern zu tun zu haben. Am Anfang von „Narita“ stehen ein paar seltsam anmutende zusammenhanglose Baßlicks, und bei einem Blick auf setlist.fm stellt man fest, dass zwischen „Blood Of The English“ und „Narita“ am 13.4. noch „Flight Of The Warrior“ gespielt worden sein soll – es könnte also sein, dass das rausgeschnitten worden ist. „Narita“ gibt es dann wieder in Medleyform mit „Tokyo Rose“ und diesmal noch „Outlaw“ als Drittem im Bunde, bevor ein Akustikblock eingeschoben wird, zunächst ein klassisches Gitarreninstrumental und dann „Santa Maria“ mit DiMeo am Keyboard, wobei Macaluso nach seinem Einsatz zunächst etwas vorschmeckt, bevor der Soundmensch wieder eine gute Balance findet, in der dann auch der Baß etwas besser eingepaßt ist, was für das schöne Dreifachsolo im Hauptthema des folgenden Klopfers „Destiny“ natürlich hochgradig nutzbringend ist. Spielfreude ist hier abermals Trumpf, ebenso im gleich auf dem Fuße folgenden Speedie „Nightbreaker“, bevor ein Soloblock eingelegt wird: Flyntz agiert auch tatsächlich komplett allein, Reale zunächst auch, bevor die anderen Instrumentalisten einsteigen und ein episch-breites, mit zahlreichen Dualsoli ausgestattetes Stück erschaffen, das später in flottes Midtempo hochschaltet, folkige und barocke Melodik koppelt und „Greensleeves“ verarbeitet. Hier liegt ein diffuser Keyboardteppich drunter, aber es ist nicht sichtbar, ob jemand (es bliebe nur DiMeo übrig) den live spielt oder er vom Band kommt. Zum musicalartigen „Shenandoah“ betritt der Vokalist wieder die Bühne, und auch hier gibt es einen Keyboardteppich, so dass er also zumindest für diesen nicht verantwortlich zeichnet, da er weder an einem Keyboard sitzt noch ein Keytar umhängen hat. Damit wird der letzte große Block neuer Songs eingeläutet, und der Soundmensch rückt ab hier die Backing Vocals etwas zu stark in den Vordergrund, was vor allem in „Holy Land“ negativ auffällt, wenn sie nicht ganz paßgenau sitzen. In diesem Song gibt es zudem einen Defekt an Flyntz‘ Gitarre, aber der kann in Windeseile behoben werden, wenngleich die Rückkopplungen in „Ghost Dance“ vielleicht noch eine Spätfolge darstellen. Für sein Solo bleibt Macaluso hinter seinem Kit, spielt also nicht einen zweiten Teil an einem kleinen Kit vorn auf der Bühne, wie Jarzombek das mehrfach tat. Im Übergang zur Langfassung von „Last Of The Mohicans“ soliert dann auch noch Perez und macht das richtig gut, bevor die anderen wieder dazustoßen. Ab hier schaltet der Lichtmensch häufig eine Art Suchscheinwerfer dazu, von denen es zwei Stück gibt, die kreuz und quer durch die Publikumsreihen leuchten. Der Hauptset endet wie gewohnt mit „Thundersteel“, und zumindest an diesem Abend hat DiMeo große Probleme mit der Nummer, die etwas außerhalb seiner Tessitur liegt: Will er nach oben, wirkt das arg gequält. Vielleicht hatte er auch schon bei „Flight Of The Warrior“ Schwierigkeiten, und die stellen den Grund dar, weshalb das Stück rausgeschnitten worden ist – das waren jedenfalls die einzigen beiden Songs aus der Tony-Moore-Ära im Set, und das könnte schon seine Gründe haben, wenngleich zwei Jahre später dann auch „Bloodstreets“ in den Set zurückkehrte, das allerdings zu den stimmlich ungewöhnlicheren Songs der Moore-Ära gehörte (zwei Jahre zuvor wiederum hatte man noch „Johnny‘s Back“ gespielt). Der grundsätzlich positiven Stimmung tut die schwierige gesangliche Umsetzung allerdings ebensowenig Abbruch wie der erwähnte Patzer von Reale im letzten Solo.
Die beiden Zugabenblöcke entpuppen sich als nahezu durchgehende Speedorgie, wobei in „Silent Scream“ der Fäustereck-Refrain nicht ganz so markant von der Bühne kommt wie erhofft, aber dafür im Publikum umso intensiver befolgt wird. Danach entledigt sich DiMeo seiner Lederjacke, die er den ganzen bisherigen Gig über getragen hat, und agiert fortan im weißen Unterhemd – Sinn für Mode hatten Riot bekanntlich noch nie (man erinnert sich mit Grausen an das Backcoverfoto von The Privilege Of Power). Das tut seiner Gesangsleistung aber natürlich keinen Abbruch: „Burn“, das auf Nightbreaker gecovert worden war, liegt ihm stimmlich ebenso gut wie das Material aus der Guy-Speranza-Ära, von dem „Warrior“ und „Road Racin‘“ den zweiten Zugabenblock stellen und vom Publikum entsprechend bejubelt werden, obwohl es hier keine Mitsingspielchen gibt. Ab „Burn“ beginnt der Cutter übrigens teilweise sehr schnelle Schnitte zwischen den drei Kameras einzubauen, an die man sich erst gewöhnen muß, und die vorlauten Backing Vocals stellen auch noch einen kleinen Wermutstropfen her, der aber im Füllhorn der Glücksmomente keinen Schaden anrichten kann und das auch im Publikum nicht tut: Bei der Verabschiedung bekommt die Band noch ein großes Banner überreicht und hält dieses hoch – nur leider kann man auf die Entfernung nicht erkennen, was darauf zu sehen ist.

Laut der offiziellen Tracklist auf dem Backcover sollte damit theoretisch die DVD erschöpfend behandelt sein – im Menü prangt aber noch ein Punkt „Studio 1994“, also ein nicht sonderlich schwierig verstecktes Easter Egg, das sich als 41minütiger Film entpuppt, der Aufnahmen aus den Greene St. Recording Studios enthält, die teils Reale, teils eine andere Person, wahrscheinlich Flyntz, mit einer Handkamera mitgeschnitten hat. Das erste Drittel besteht im wesentlichen aus ziemlich verwackelten Aufnahmen aus verschiedenen Räumlichkeiten des Studios, wo im Flur eine ganze Galerie von Goldenen Schallplatten hängt und wo der eine oder andere Büroinsasse versucht, den Kameraführenden gleich wieder hinauszukomplimentieren. In musikalischer Hinsicht deutlich interessanter ist das zweite Drittel, denn hier nimmt Flyntz zusammen mit Engineer Rod Hui eines der Soli für den späteren Titeltrack des Albums The Brethren Of The Long House auf, und wer nicht mit den Details der Studioarbeit vertraut ist, bekommt hier mal einen kleinen Einblick, wie komplex die Arbeit ist und wie viele Takes man brauchen kann, bevor einer dabei ist, der alle Anforderungen erfüllt (Flyntz doktort hier besonders am Ausklang des Solos lange herum und diskutiert das auch mit Reale). Im letzten Drittel spielt Reale für den gleichen Song noch einen Harmony- und Solopart, und dann gibt es noch einen Song in einem bereits fortgeschrittenen Stadium zu hören, also schon mit Gesang, nämlich „Ghost Dance“, wo Hui den beiden Gitarristen eine mögliche Mixvariante vorstellt. Das Ganze ist nichts, was man sich öfter als einmal anschaut, aber doch ein interessanter Einblick hinter die Kulissen, der die Erkenntnis ermöglicht oder untermauert, was für harte Arbeit angesagt ist, bevor dann irgendwann mal ein fertiges Album auf den Markt kommt.

In der Gesamtbetrachtung liegt mit dem letzten Archives-Teil erneut ein äußerst wertiges Package vor, das sich in jeder Riot-Kollektion gut macht. Zwar sollten sich Einsteiger erstmal an die Highlights unter den regulären Alben halten (also allen voran Thundersteel und The Privilege Of Power und als letzte Fire Down Under und Born In America, dazwischen den „Rest“), aber es wäre nicht auszuschließen, dass von diesem Einstieg aus der eine oder andere Weg dann bis zum Erwerb der Archives-Serie führt.



Roland Ludwig



Trackliste
CD 1
1. Black Mountain Woman (1992 Rough Mix - Alternate Intro) (5:19)
2. Sylvia (1992 Demo - Alternate Vocal) (5:13)
3. Magic Maker (1992 Rough Mix) (4:42)
4. Night Breaker (1992 Demo) (4:20)
5. Silent Screams (1992 Demo) (6:04)
6. Sailor (1992 Rough Mix) (6:08)
7. Good Lovin‘ (Alternate Version) (4:57)
8. Brethren Of The Long House (1994 Rough Mix) (5:29)
9. Rain (1994 Demo) (5:28)
10. Knockin' At My Door (2005 Demo) (4:23)
11. Darker Side Of Light (2005 Demo) (10:26)
12. Killer (1989 Joe Lynn Turner - Version 2) (3:45)
13. Warrior (Live 1982) (5:31)
14. Rock City (Live 1980) (5:37)

CD 2
1. Sylvia (Alternate Version Demo) (5:21)
2. Intro „Romeo“ (3:53)
3. Instrumental Themes (14:11)
4. Instrumental (Unreleased Song 1992) (7:19)
5. Instrumental (Unreleased Song 1994) (4:11)
6. Mark Reale & Guy Speranza Studio Writing Jam DAT Tape 4-4-94 (Data Track)

DVD
1. Intro
2. Glory Calling
3. Soldier
4. Wounded Heart
5. Rolling Thunder
6. Blood Of The English
7. Narita
8. Tokyo Rose
9. Outlaw
10. Acoustic
11. Santa Maria
12. Destiny
13. Nightbreaker
14. Mike Flyntz Guitar Solo
15. Mark Reale Guitar Solo
16. Instrumental
17. Shenandoah
18. Holy Land
19. Ghost Dance
20. Drum Solo
21. Last Of The Mohicans
22. Thundersteel
23. Silent Scream
24. Burn
25. Warrior
26. Road Racin‘
27. Studio 1994
Besetzung

Mark Reale (Git)
sowie wechselnde Mitmusiker



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