Attila

Attila


Info
Musikrichtung: Metal

VÖ: 15.12.2018 (1990)

(Mosh Over Records / Classic Metal Records)

Gesamtspielzeit: 108:00


Zwei aus dem hier musizierenden Trio nannten ihre Band zu Demozeiten, damals noch mit einem anderen Drummer, zunächst Wells Fargo und benannten sich in den Mittachtzigern nach dem legendären Heerführer der Hunnen, obwohl die Mitglieder in einem Areal siedeln, wo die Hunnen weiland nicht hingekommen sind: in den Niederlanden (die nördlichsten anno 451 geplünderten Städte sollen Köln und das im heutigen Belgien befindliche Tournai gewesen sein). Unter dem Namen Attila veröffentlichten Chefdenker Herbie Vanderloo und seine Spießgesellen im darauffolgenden Jahrzehnt drei Studioalben und eine EP, und von diesen Tonzeugnissen liegt hier der zweite Longplayer als Re-Release im Player, kooperativ herausgebracht von Mosh Over Records und Classic Metal Records. Die Scheibe blieb damals selbstbetitelt und ist das auch in der Neufassung noch, allerdings handelt es sich nunmehr um eine Doppel-CD, da zu den 15 Originaltracks auf der ersten noch die gleiche Anzahl an Bonustracks auf der zweiten Scheibe tritt.

Bleiben wir erstmal bei CD 1. Hier fällt schon im Opener „Time, Time, Time“ auf, dass sich Attila einem sehr eigentümlichen Stil widmen. Sie spielen klassischen Metal, nicht selten speedlastig, aber zugleich mit einer deutlichen Siebziger-Schlagseite und manchmal auch mit einem leichten Punkfeeling, wenn Drummer Ton Holtewes in traditionelles Ufta-Ufta verfällt, und das tut er gar nicht mal so selten. So entsteht ein Mix, mit dem Attila anno 1990, als diese Scheibe eingespielt wurde, mehr oder weniger zwischen allen Stühlen saßen, auch wenn sie durch besagte Kombination durchaus originell waren – dem Rezensenten jedenfalls fällt keine Combo ein, die sich exakt der gleichen Herangehensweise verschrieben hatte. Ein gewagtes Gedankenexperiment wäre, bestimmte Teile von Motörhead und Whitesnake zu kreuzen, aber das klingt vermutlich für die meisten Ohren zu abstrus, und kaum hat man sich dann doch in eine solche Gedankenrichtung durchgerungen, da kommt ein psychedelisches Solo wie das von „Bloodvows“ und paßt auch wieder nicht ins mühsam gezimmerte Konstrukt, obwohl es im Song selbst durchaus nicht wie ein Fremdkörper anmutet und das Slidegitarrenintro sowieso nicht, denn sowas hat Micky Moody bei Whitesnake ja auch gemacht. Darüber hinaus fallen Attila aber auch durch geschickten Einsatz von Akustikelementen auf, etwa in „Judge, Jury, Executioner“ oder in „Running Man“, welchletzteres arrangementseitig sowieso sehr interessant und vielschichtig ausgefallen, da die Jagdszenen unter dem Refrain dem Fluchttempo des Protagonisten entsprechen (es geht um den bekannten gleichnamigen Film mit Arnold Schwarzenegger in der Titelrolle). Nicht immer wirken die diversen Wechsel so organisch wie in dieser Nummer – man muß einige Songs durchaus mehrfach hören, um alle Wendungen zu verstehen, wobei gleich wieder „Judge, Jury, Executioner“ als Exempel dienen kann: Wie im Hauptsolo hier aus flottem Speed in treibendes doublebassunterlegtes Midtempo gewechselt wird, das begrüßt man gleich beim ersten Hören, aber manche andere Wendung braucht doch deutlich mehr Gewöhnungszeit.
Ihre Einflüsse machen Attila auch mit der Auswahl ihrer Coverversionen deutlich. Auf dem Studioalbum gibt es davon nur eine – und die weist sogar noch ein wenig weiter in die Vergangenheit zurück als bisher geschildert: Wir hören Creams „Sunshine Of Your Love“ in einer Metalvariante mit phasenweise der höchsten Snare-Schlagzahl des ganzen Albums, was Altanhänger von Clapton & Co. möglicherweise Herzrhythmusstörungen bescheren könnte, Freunden spielfreudigen Metals aber prima reinlaufen dürfte. Die Cream-Parallelen lassen sich noch auf eine andere Komponente beziehen: Vanderloos Gesang klingt bisweilen wie eine dünnere und etwas hysterischere Variante von Jack Bruce, und zwar dann, wenn er größere Höhenlagen aufsucht, während die tieferen Lagen eigenständiger, aber bisweilen auch weniger überzeugend wirken und man sich nicht selten fragt, was aus Attila geworden wäre, wenn sie einen richtig hochkarätigen Vokalisten in ihren Reihen gehabt hätten. Die Spekulation bleibt freilich müßig – wir müssen mit dem leben, was uns in der konservierten Variante vorgesetzt worden ist. Vanderloo und seine Mitstreiter sind auf jeden Fall so gewitzt, dass sie offenbar von vornherein überlegt haben, wie sie ihren Albumsound auch als Trio umgesetzt bekommen. Heißt praktisch: Der Baß von Arjan Michels übernimmt schon in der Studiovariante nicht unerhebliche Aufgaben jenseits des puren Rhythmushaltens (höre an vorderster Front beispielsweise „1Life2Live“), Vanderloo läßt das eine oder andere Solo auch gleich von vornherein ununterrifft, und Sonderzutaten werden auf das Allernötigste beschränkt, wozu an markanter Stelle die kurzen Keyboardeinlagen in „Victim Of Society“ und das Intro von „For Those Who Died“ zählen, letzteres vermutlich ein Filmsample über die Erschießung von Widerstandskämpfern durch nationalsozialistische Einheiten im Zweiten Weltkrieg, worum sich auch die Lyrics drehen, die auf wahren Ereignissen beruhen. Überhaupt zeigen sich Attila durchaus geschichtsinteressiert, und zwar nicht etwa auf die Hunnenzeit, sondern auf die allerjüngste Geschichte bezogen, wie „1989“ deutlich macht, ein Song über die Freiheitsbewegungen in Osteuropa in selbigem Jahr, also ein brandaktuelles Thema – das Album wurde im Jahr 1990 aufgenommen. Analoges gilt für „Love And Blood“, das sich, obwohl den Namen des Platzes des Himmlischen Friedens nicht explizit nennend, offenkundig mit der dortigen Niederschlagung der chinesischen Oppositionsbewegung befaßt. Dieser Song ist auch die einzige Attila-Eigenkomposition auf dieser Scheibe, die nicht von Vanderloo alleinverantwortet wird – hier gibt es einen Co-Autor namens Auke Peter Gijsbertse, bei dem es sich um den in Amersfoort wohnenden Manager der Band handelt, der auf dem Vorgängeralbum Triad noch an über der Hälfte der Songs beteiligt gewesen war. Vanderloos Songwritingkünste sind allerdings ausgeprägt genug, dass die Kreativität für 15 Songs respektive über eine Stunde Musik reicht, ohne dass die Aufmerksamkeit des Hörers erlahmt, da selbiger wie erwähnt mit der Erschließung des einen oder anderen Wechsels durchaus auch mal länger zu tun hat, und die Spielfreude und der Energietransport stimmen sowieso grundsätzlich positiv, so dass man jedem Nicht-Schubladendenker, der wenigstens grundsätzlich mit dem eingangs beschriebenen Stilmix klarkommt und keine Bauchschmerzen damit hat, dass es hier keine richtigen „Hits“ zu hören gibt, zumindest zum Hineinhören raten kann.

Für den Re-Release wurde wie erwähnt noch eine zweite CD hinzugefügt. Die enthält auch 15 Songs, aber diesmal live mitgeschnitten, und zwar im Januar 1991 in einer Location in Amersfoort (aha!) namens De Kelder. Die Wahrscheinlichkeit ist nicht gering, dass es sich um entweder den Record-Release-Gig oder aber eine andere direkt mit dem Album in Verbindung stehende Liveaktivität gehandelt hat. Von den 15 Albumsongs finden sich nämlich gleich 13 auf der Livescheibe wieder, die ersten drei auch noch in der gleichen Reihenfolge, bevor Attila das auf der Studioscheibe sechstplazierte „Judge, Jury, Executioner“ im Konzert auf Platz 4 vorschieben und es danach reihenfolgetechnisch bunt durch den Gemüsegarten geht. Falls irgendein Showintro erklungen sein sollte, wurde dieses entweder weggeschnitten oder gar nicht erst mit konserviert – es gibt eine kurze, leider nicht genau verständliche Ansage von Vanderloo, und dann geht die Band mit „Time, Time, Time“ gleich in die Vollen. Gefühlt agiert die Formation sogar noch einen Tick zügiger als auf der Studiovariante, was sich auch rein statistisch anhand der Songlängen beweisen läßt – Holtewes macht vor allem in den sowieso schon schnellen Passagen noch etwas mehr Druck, ohne dass sich freilich ein überhasteter Eindruck ergibt, jedenfalls bei genauerem Hinhören nicht. Und feistes Midtempo ist auch in der Livesituation kein Fremdwort für das Trio, wie gleich „Motel Of Fear“ an Position 2 deutlich macht, und spätestens hier hat man auch die eminent wichtige Rolle des Bassisten für den Trio-Livesound begriffen, wenngleich Michels in der Aufnahme ein bißchen zu wenig berücksichtigt wird und der Baß durchaus einen Tick dominanter hätte ausfallen können. Aber er ist da, er ist hörbar, und das ist auch gut so. Die Strukturen orientieren sich so weit wie möglich an denen der Studioversionen, was keine Selbstverständlichkeit ist und gerade bei einer deutlich siebziger-beeinflußten Band auch anders gehandhabt worden sein könnte. Zu ausufernden Improvisationen neigen Attila zumindest in der mitgeschnittenen Stunde Musik nicht – ob sie das sonst anders gehandhabt haben, können nur Menschen entscheiden, die die Band im Gegensatz zum Rezensenten schon mal auf der Bühne erlebt haben. Die Spielfreude ließe solch ein Vorgehen jedenfalls genauso problemlos zu wie die offenkundigen instrumentalen Fertigkeiten. Ob der Gig tatsächlich „nur“ diese 15 Songs umfaßte oder länger war, kann auch nicht klar definiert werden, aber die sehr kurzen Pausen zwischen den Songs sprechen zumindest für eine diesbezügliche gewisse Straffung (zwischen „Judge, Jury, Executioner“ und „1Life2Live“ etwa hört man auch einen kleinen Atmosphärebruch), und vielleicht war der Gig auch schon mit dem Hintergedanken für eine Veröffentlichung mitgeschnitten worden, denn ansonsten würde Vanderloo vermutlich in den Ansagen durchgehend in seiner Heimatsprache reden und nicht überwiegend in Englisch. Michels bekommt hier für seinen Solospot in „1Life2Live“ Sonderjubel, an Vanderloos Vocals muß man sich auch in der Livesituation hier und da erst gewöhnen, aber die transportierte Energie übertrifft die der Studioversion nochmals, so dass man den althergebrachten Begriff eines Powertrios definitiv zur Anwendung bringen kann und den Eindruck gewinnt, dass Attila eine richtig starke Liveband waren. Die Keyboards in „Victim Of Society“ ließen sie live übrigens genauso weg wie das Sample am Beginn von „For Those Who Died“ – was man hier hört, ist also tatsächlich nur das hart arbeitende Trio auf der Bühne, das dann beispielsweise in „I’m You“ oftmals enorm Dampf macht, aber sich in den richtigen Momenten auch zurückzunehmen weiß, wie die beiden proglastigen Zusammenbrüche vor dem scheinbaren Ende des Songs zeigen (die Band hängt dann nochmal einen längeren Part an, nachdem das Auditorium die Frage „Do you wanna rock?“ bejaht hat).
Von den Songs her erklingt wie bereits erwähnt nahezu das komplette selbstbetitelte Album, einzig „Bloodvows“ und „Hellheart“ fanden nicht den Weg in die Setlist oder zumindest auf die CD, was bedeutet, dass Attila auch das Cream-Cover mitsamt des flotten Drumgepolters live darboten, was sie indes wie gleichfalls bereits erwähnt nicht zum Anlaß für ausufernde Improvisationen nahmen und die zweite Coverversion gleichfalls nicht: Nach den 13 Songs vom Attila-Album kommt an Position 14 „I’m Lost“, und das stammt von Yesterday & Todays zweitem Album Struck Down aus dem Jahr 1978, also der Zeit, bevor Dave Meniketti & Co. ihren Bandnamen auf Y & T verkürzten und mit Alben wie Earthshaker bekannt wurden – eine durchaus programmatische Wahl der Niederländer, sich eben nicht für einen der späteren Hits zu entscheiden, wenngleich sie auch hier eine feiste Speednummer draus machen, die Meniketti in dieser Form wohl nicht mal auf den Alben der mit erwähntem Earthshaker eingeleiteten härteren Phase untergebracht hätte. Attila drücken somit auch diesem Original deutlich ihren Stempel auf, ohne es freilich zu zerstören. Die letzte Nummer ist ein abermals speediges Instrumental namens „Flight 105“, das vom Vorgängeralbum Triad stammt und dort den ersten Teil der fast halbstündigen Suite „Myth Of The Ancient“ bildete. Für diese Nummer gilt vermutlich das Gleiche wie für die anderen: Wer mit den Studiovarianten zurechtkommt, wird auch die Liveversionen mögen – auch wenn der Rezensent das bei „Flight 105“ mangels Besitzes von Triad oder der vorherigen Demoaufnahme Myth Of The Ancient noch nicht verifizieren kann und daher auch nicht sagen kann, was es mit dieser Suite auf sich hat. Auf dem zweiten Album gibt es solche riesigen Mehrteiler jedenfalls nicht.

Das Booklet des Re-Releases enthält alle Texte der Eigenkompositionen und einige strukturelle Angaben, verzichtet aber auf Liner Notes oder ähnliche Beigaben. Was merkwürdig anmutet, ist die Farbgebung. Grau-in-Grau-Töne können durchaus reizvoll sein, aber hier wirkt es so, als habe der Layouter beim Kontrast nicht aufgepaßt, und jetzt läuft alles ineinander, so dass man zwar die Texte deutlich lesen, aber auf den Fotos kaum was erkennen kann. Das geht schon auf dem Frontcover los, und dort sind gestaltungstechnisch auch nur noch die Umrisse des Logos übriggeblieben, so dass man, wenn man das Album im Laden vor sich hat, raten muß, wie denn der Bandname nun lauten soll, zumal in den Umriß beispielsweise problemlos auch der Name der Russen Arija hineinpassen würde (den im Cleartray nochmal in Hellgrau auf Dunkelgrau, aber immerhin in Klarschrift abgedruckten Bandnamen entdeckt man erst auf den zweiten Blick). Generell läßt die optische Gestaltung das Album wie eine graue Maus wirken, und das haben die musikalischen Qualitäten Attilas dann doch nicht verdient, wenngleich es zumindest eine Stimme gab, die der Band genauso ein graumäusiges Bild zuschrieb, nämlich die von Arno Hofmann in Stefan Riermaiers Westeuropa-Metal-Lexikon – Hofmann erkannte die Siebziger-Attitüde der Band, kam aber mit dieser nicht zurecht und mit den fehlenden „Hits“ auch nicht. Das sollte aber niemanden hindern, sich dieser eigentümlichen Metalvariante mit offenem Ohr zu nähern.



Roland Ludwig



Trackliste
CD 1
1. Time, Time, Time (04:13)
2. Motel Of Fear (04:25)
3. Running Man (04:41)
4. I’m You (04:38)
5. Bloodvows (03:43)
6. Judge, Jury, Executioner (04:10)
7. Sunshine Of Your Love (04:06)
8. Hellheart (04:03)
9. Victim Of Society (04:35)
10. 1989 (04:56)
11. For Those Who Died (04:51)
12. Deadline (02:57)
13. 1Life2Live (04:36)
14. Love Or Blood (04:10)
15. Burning Paradise (03:58)

CD 2: Live 1991
1. Time, Time, Time (3:46)
2. Motel Of Fear (4:14)
3. Running Man (4:16)
4. Judge, Jury, Executioner (4:04)
5. 1Life2Live (4:20)
6. Victim Of Society (4:23)
7. Love Or Blood (3:45)
8. 1989 (4:44)
9. Deadline (2:52)
10. For Those Who Died (4:13)
11. I’m You (4:24)
12. Sunshine Of Your Love (3:59)
13. Burning Paradise (3:57)
14. I’m Lost (2:24)
15. Flight 105 (4:17)
Besetzung

Herbie Vanderloo (Voc, Git)
Arjan Michels (B)
Ton Holtewes (Dr)



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