Etwas ganz Natürliches: Amorphis, Soilwork, Jinjer und Nailed To Obscurity promoten in Leipzig ihre neuen Alben




Info
Künstler: Amorphis, Soilwork, Jinjer, Nailed To Obscurity

Zeit: 19.01.2019

Ort: Leipzig, Hellraiser

Internet:
http://www.hellraiser-leipzig.de

Seit anno 2017 Olli-Pekka Laine den Baß nach 17 Jahren von Niclas Etelävuori zurückübernommen hat, spielen bei Amorphis wieder alle vier Gründungsmitglieder, ergänzt natürlich nach wie vor um Sänger Tomi Joutsen und Keyboarder Santeri Kallio, die erst später zur Band gestoßen sind. Dieses Sextett veröffentlichte 2018 das dreizehnte Amorphis-Studioalbum Queen Of Time, und es durfte mit Spannung erwartet werden, ob die Finnen die Gelegenheit nutzen und beispielsweise einige Raritäten aus den Neunzigern ausgraben würden. Diese oder ähnliche Fragen interessieren auch eine so große Zahl von Menschen, dass bereits Wochen vor dem Gig das „Ausverkauft“-Prädikat ausgegeben werden kann.

Der Rezensent hat schon etliche ausverkaufte Konzerte im Hellraiser miterlebt – so weit abseits wie an diesem Abend aber hat er noch nie parken müssen. Zudem ist er erst eine Viertelstunde später als geplant zu Hause losgekommen und hat verkehrssituationsbedingt unterwegs keine Zeit aufholen können. Im Verbund mit Parkplatzsuche und Fußweg zum Club vergrößert sich seine Verspätung also noch, und da Nailed To Obscurity offensichtlich pünktlich 18.15 Uhr begonnen haben, bekommt er nur noch die letzte Hälfte des Setclosers „Desolate Ruin“ mit, der einzigen Nummer vom Vorgängeralbum King Of Delusion, die im Set steht, sofern das Quintett die gleiche Setlist spielt wie auf anderen Gigs der Tour, die zuvor vier Songs des aktuellen Albums Black Frost enthalten hat. „Desolate Ruin“ freilich weiß zu überraschen: Der letzte noch mit in diesem Falle deathigem Gesang versehene Teil und das ellenlange instrumentale Outro erinnern an eine etwas melodieorientiertere und etwaiger Folkeinflüsse beraubte Version der frühen Amorphis zu The Karelian Isthmus-Zeiten, und da der Sound schön klar und nicht überlaut ist, kann man die Entwicklung auch prima verfolgen. Offenbar findet das auch im trotz früher Uhrzeit bereits nahezu gefüllten Saal einigen Anklang, denn die niedersächsische Band erhält am Ende viel Applaus und erntet sogar einige Zugabewünsche, die allerdings keine Erfüllung finden.

Nach einer sehr kurzen Umbaupause entern Jinjer die Bühne. Sie haben das strukturelle Problem, dass sie stilistisch am weitesten von einem hypothetischen Durchschnitt der Bands entfernt lagern, und zudem macht es der Soundmensch den Hörern lange Zeit arg schwer, überhaupt zu den Finessen ihres Sounds vorzudringen: Aus den Boxen kommt viel Geräusch, aber wenig Musik, die eigentlich planmäßig irgendwo zwischen Metalcore, Djent und noch anderen modernen Metaleinflüssen liegen soll. Dazu gesellt sich eine Sängerin, die den Soundmenschen offenbar irgendwie bezirzt hat, denn sie ist fast die ganze Zeit über ziemlich deutlich zu vernehmen, und so kann sich der Hörer ein recht eindrucksvolles Bild von ihren Fähigkeiten, aus dem dominierenden Gebrüll nahtlos in klare, teils auch sehr hohe Gefilde zu wechseln. In diesen Höhenlagen klingt die Stimme ganz leicht quäkig, gerade dadurch aber ziemlich durchdringend, und da die Sängerin auch der bewegungstechnische Aktivposten des Quartetts ist und fleißig bangt, fällt es leicht, sie als den Fokus der Band anzusehen. Der interessanteste der Musiker steht allerdings am Baß, und das hört man erst nach einer ganzen Weile, als einerseits der Sound etwas klarer wird und andererseits die Band plötzlich stilistisch umschwenkt: Postrockkompatible Halbakustikelemente machen sich breit, prägen teilweise ganze Songs, die Melodien werden nachvollziehbar und unterstreichen, dass die Musiker durchaus auch eine Melodic-Rock-Kapelle hätten gründen oder sich in Gefilde, wie sie von den jüngeren Anathema bestrichen werden, hätten bewegen können – und in ebenjenen zurückgenommenen Passagen ist es dem Hörer möglich, die Arbeit des Bassisten richtig zu würdigen, der des öfteren mit beiden Händen auf dem Griffbrett arbeitet, mit so mancher seiner Tappingeinlagen wohlige Wärme verbreitet und der Band Qualitäten verleiht, die man nach dem undurchdringlichen Gebretter der ersten Songs kaum vermutet hätte. Im letzten Song „Sit Stay Roll Over“ gibt es freilich nochmal Gebretter, jetzt aber soundmäßig klarer analysierbar, wenngleich immer noch nicht feststellbar ist, in welchem Maße die Ukrainer hier Bestandteile einsampeln. Das Quartett bekommt für seinen Exotenstatus und die beschriebenen Soundumstände doch verhältnismäßig viel Applaus, aber eine Zugabe fordert hier niemand ein.

Björn „Speed“ Strid und David Andersson hat der Rezensent exakt 30 Tage vorher mit dem Soilwork-Ableger The Night Flight Orchestra in Jena live gesehen (siehe Livereview auf diesen Seiten), und in diesen 30 Tagen ist einiges passiert. Andersson hat sich beispielsweise eine neue Frisur zugelegt, und eine neue Soilwork-Platte ist auf den Markt gekommen, heißt Verkligheten, soll, so ist zu lesen, wieder etwas stärker die Melodic-Death-Wurzeln der Band betonen und will natürlich ausführlich vorgestellt werden. Das tut die Band dann auch – von den siebzehn Songs stammen gleich sechs vom neuen Werk, das vom Band kommende Intro, welchselbiges der Scheibe den Titel verlieh, mitgezählt. Allerdings machen sich die Schweden die Albumpromotion selber schwerer als nötig, und das in zweierlei Hinsicht. Zum einen erscheint es zwar logisch, nach dem Intro auch gleich den Quasi-Opener der Platte, „Arrival“ zu spielen, aber dessen überwiegend sehr flottes Tempo stellt an dieser Stelle noch eine Herausforderung für den Soundmann dar, der er hier noch nicht gewachsen ist, so dass die Drums von Neuzugang Bastian Thusgaard den Reiz vor allem des melodischen Aspekts noch stärker schmälern, als das live sowieso schwer zu vermeiden ist. Doppeltes Pech: Im Verlaufe des Sets findet der Soundmann im Gegensatz zum Gig vom 23.4.2003 in Halle, der klanglich völlig in die Hose ging und den bisher einzigen Liveeindruck stellte, den der Rezensent von Soilwork besaß, überwiegend richtig gute Einstellungen, die nur die Doublebass noch zu stark vorschmecken lassen und Keyboarder Sven Karlsson etwas zu sehr in den Hintergrund stellen (physisch befindet er sich sowieso schon dort, nämlich aus Publikumssicht rechts hinten, aber links hinten ist Thusgaards Drumkit aufgebaut, und der steht akustisch nun ganz und gar nicht im Hintergrund), aber ansonsten ein erfreulich klares, nicht überlautes, aber dennoch recht powervolles Klangbild ergeben, so dass „Arrival“ an einer späteren Setposition vielleicht stärkere Wirkung entfalten hätte können – wenngleich nicht so spät wie „Stålfågel“ und „Witan“: Diese beiden Neulinge fast ganz ans Ende der Setlist zu setzen mutet taktisch eher ungeschickt an, und so braucht sich Speed nicht zu wundern, wenn er mit großer Geste „Witan“ ansagt, aber betreten-unkundige Stille aus dem Publikum erntet. Festzuhalten bleibt allerdings auch, dass die Menschen ganz offensichtlich überwiegend nicht wegen Soilwork anwesend sind: Die Schweden bekommen nach den Songs Applaus, der aber schnell wieder abebbt und, wenn es nicht gleich weitergeht, für dramaturgische Lücken sorgt, die Speed oft nicht füllt. Für einen Circle Pit ist die Halle zu voll, und vor der Bühne machen etliche Anhänger zwar durchaus Stimmung, aber ihre Zahl ist nicht eben Legion.
So bleibt die musikalische Leistung weiter zu analysieren – und die ist durchaus achtbar. Speeds Stimme harmoniert gut mit den Backings von Bassist Taylor Nordberg, und dass die Gitarristen zu den Könnern ihrer Zunft zählen, erschließt sich dankenswerterweise den ganzen Set über, denn die begeisternden Soloduelle von Andersson und seinem Partner Sylvain Coudret in „Arrival“ lassen sich trotz des dort noch schwierigen Sounds gut heraushören. Interessant zu verfolgen ist eine Nummer wie das neue „Full Moon Shoal“: Der Hauptteil könnte mit geringfügig anderer Instrumentationsgewichtung auch im Repertoire von The Night Flight Orchestra stehen, aber da Speed und Andersson um die Problematik der Abgrenzung wissen, haben sie dem Song einen zackigen Mittelteil verpaßt, der aber nicht wie künstlich eingeklebt wirkt, da sich das Stilmittel auch in anderen Songs wiederfindet. Im Mittelteil des Sets scheinen dann mal kurz die Midtempo-Schiebe-Songs zu sehr zu dominieren, aber bevor das zum Problem wird, fügt das Sextett wieder etwas Schnelleres ein und beweist damit, die Gesetze der Setlistdramaturgie ja eigentlich verinnerlicht zu haben. Trotzdem bleibt ein seltsamer Eindruck zurück, den auch die Quasi-Hits „As We Speak“ und „Stabbing The Drama“ nicht mehr entscheidend ändern können, wenngleich besonders das letztere die Stimmung nochmal nach oben schraubt. Der Abschied von der Bühne fällt nach 90 Minuten allerdings eher knapp aus, und da der Soundmann die Pausenmusik ziemlich zeitnah einschaltet, ist auch klar, dass es keine Zugabe geben wird.

Setlist Soilwork:
Verkligheten
Arrival
The Crestfallen
Nerve
Full Moon Shoals
Death In General
Like The Average Stalker
The Akuma Afterglow
Drowning With Silence
The Phantom
The Nurturing Glance
Bastard Chain
As We Speak
The Living Infinite II
Stålfågel
Witan
Stabbing The Drama

Schon während des Intros von Amorphis wird überdeutlich, wem das Hauptinteresse der Anwesenden gehört: Die Stimmung ist besser als während fast des ganzen Soilwork-Gigs, und das ändert sich bis zum Ende des Sets auch so gut wie nicht, wenngleich der absolute Frenetik-Faktor, den der Rezensent an gleicher Stelle reichlich drei Jahre zuvor bei Powerwolf erlebt hat, doch noch ein gutes Stück entfernt bleibt. Um diesen zu erzeugen, hätte die Band vielleicht doch ein paar Ausgrabungen historischen Repertoires vornehmen sollen – aber das tut sie nicht, sondern macht etwas ganz Natürliches: Sie promotet ihr neues Album. Auch Queen Of Time stellt in Analogie zu Soilwork gleich sechs Beiträge zur Setlist, aber die erklingen auch alle sechs live (es ist also kein Konservenintro dabei außer dem zu „The Bee“, dem aber der eigentliche Song in leibhaftig dargebotener Manier folgt), und es sind kurioserweise die ersten sechs Songs des Albums – eine interessante Strategie, die man ähnlich auch schon mal bei Saxon gehört hat und die Nailed To Obscurity auf dieser Tour gleichfalls anwenden. In Analogie zu Songs wie „The Bee“ oder „The Golden Elk“ sind gute Teile der Beleuchtung in goldgelben oder orangefarbigen Tönen gehalten, und generell ist das Licht nicht nur wärmer, sondern auch reichlicher als bei Soilwork, die weitgehend im Halbdunkel musiziert und dadurch (vielleicht ungeplant) eine Barriere zum Publikum aufgebaut hatten. Amorphis kommen da von Anfang an deutlich knuffiger daher, wenngleich auch sie unter Soundproblemen zu leiden haben, allerdings unter extrem kuriosen: Zwar hört man Keyboarder Santeri Kallio hier exzellent, und das ist bei seiner recht prägenden Rolle ja auch wichtig – aber Tomi Koivusaari hat unter irgendeinem Problem mit seiner Rhythmusgitarre zu leiden. Vor „Sky Is Mine“ verschwindet er deshalb gleich komplett von der Bühne, so dass die Band einen halben Song ohne ihn spielt – aber schrägerweise ändert sich auch nach seiner Rückkehr auf die Bühne am Klangbild nichts: Rhythmusgitarrenlinien gibt es an diesem Abend nur zu hören, wenn Esa Holopainen sie spielt, und da der umfangreiche Leadaufgaben zu erfüllen hat, passiert das eher selten. Amorphis ohne Rhythmusgitarre? Es spricht für die Qualität des zwischen (etwas) Metal, (viel) Rock und (etwas) Folk angesiedelten Songmaterials, dass selbiges auch in dieser merkwürdigen Konstellation funktioniert, zumal in trotzdem zwei markant verschiedenen Soundgewändern: In den ersten Songs ist Olli-Pekka Laines Baß deutlich zu dröhnig abgemischt, was sich im Verlauf des Sets abschwächt und den Baß somit zumindest theoretisch organisch einpaßt – die praktische Aufgabe, die Verbindung der Drums zur Rhythmusgitarre zu halten, fällt ja mangels Hörbarkeit der letzteren flach, und Jan Rechberger am Drumkit ist sowieso von Anfang an richtig gut in klangliche Szene gesetzt, nur die Doublebass schmeckt auch hier einen Deut zu sehr vor und neigt dazu, die Untervegetation unnötig plattzumachen. Akustischer Platz für Tomi Joutsen bleibt jedenfalls genug, und der Mann vollbringt abermals eine starke Leistung im Spannungsfeld zwischen Gebrüll und Klargesang, wie man es von ihm ja mittlerweile gewohnt ist. Dass er allerdings auch in der Publikumskommunikation souveräner wirkt als der alte Hase Speed bei Soilwork, verwundert ein wenig – das Publikum frißt ihm allerdings auch aus der Hand und wartet mit dem Mitklatschen durchaus nicht immer auf Aufforderungen von der Bühne.
Bleibt der Detailblick auf die Setlist: Von den sechs neuen Nummern war schon die Rede, und dass Amorphis sich trauen, auch einen rhythmisch eher schweren Brocken wie „Daughter Of Hate“ auf die Bühne zu bringen, stellt ihrem Selbstbewußtsein ein ebenso deutliches Zeugnis aus wie der Umstand, dass dieser Song auf dem Album gleich an Position 2 steht. Da Queen Of Time schon seit Mai 2018 auf dem Markt ist, hatte die Fangemeinde allerdings auch genug Zeit, um sich mit dem neuen Material vertraut zu machen, und vermutlich ist auch bei diversen Festivals 2018 schon einiges gespielt worden. Im Rest des Sets führen die Finnen quer durch ihr Schaffen der Ära Joutsen, aber auch hier sind sie selbstbewußt genug, auf einen Quasi-Hit wie „You I Need“ zu verzichten und darauf zu vertrauen, dass „Sky Is Mine“, „Sacrifice“ oder „Hopeless Days“ – sechs der acht nicht vom neuen Album stammenden Songs standen übrigens auch schon in ihrer Setlist vom Nightwish-Supportgig anno 2015 – die Kastanien auch aus dem Feuer holen werden. Das bereitet denn auch keine Schwierigkeiten, und so bleibt es bei einem einzigen Blick ins letzte Jahrtausend: „Black Winter Day“ erklingt als Closer des regulären Sets, und der Soundmann erschafft eine noch seltsamere Version, indem hier auch noch die Leadgitarre mehr zu erahnen als zu hören ist. Da die Oldschool-Fraktion im Auditorium offenbar nicht übermäßig stark vertreten ist, tut das den Zugabeforderungen natürlich keinen Abbruch, und „Death Of A King“ und „House Of Sleep“ erfahren recht intensive Mitformulierungen bestimmter Zeilen aus dem Auditorium. Amorphis bringen es letztlich auf reichlich 80 Minuten Spielzeit – da hätte also durchaus noch was in den Set gepaßt. Aber das Gros der Anwesenden strömt während des Outros – wie schon 2011 in Jena wieder eine Nummer von Eläkeläiset – dennoch zufrieden in die Januarnacht hinaus.

Setlist Amorphis:
The Bee
The Golden Elk
Sky Is Mine
Sacrifice
Message In The Amber
Silver Bride
Bad Blood
Wrong Direction
Daughter Of Hate
Heart Of The Giant
Hopeless Days
Black Winter Day
--
Death Of A King
House Of Sleep


Roland Ludwig



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