Musik an sich


Reviews
Tschaikowsky, P. I - Strawinsky, I. (Currentzis, T.)

Violinkonzert op. 35 - Les Noces


Info
Musikrichtung: Romantik Klassische Moderne Konzert

VÖ: 08.01.2016

(Sony Classical / Sony / CD / DDD / 2013 / Best. Nr. 888751651227)

Gesamtspielzeit: 57:14



RUSSISCHE DOPPELHOCHZEIT

Mit einem ungewöhnlich klaren, transparenten und schlanken Ton sowie einer überaus präzisen, detail- und kontrastscharfen Artikulation gewinnen die Geigerin Patricia Kopatchinskaja und das Orchester MusicAetna unter der Leitung von Teodor Currentzis dem berühmten Violinkonzert von Tschaikowsky neue Seiten ab.
Tschaikowsky hat die Musik vor allem im 3. Satz mit einem geradezu theaterhaften Effekt ausgestattet, der den Hörer mit allen Sinnen in die Szenerie einer ländlichen russischen Hochzeitsfeier versetzt (was den berühmten Kritiker Eduard Hanslick einst zu der bösen Bemerkung provozierte, diese Musik "stinke" regelrecht). Dieser synästhetische Moment wird durch die ungemein plastische Darbietung und differenzierte Farbigkeit von Currentzis und Kopatchinskajas Interpretation verstärkt. So spielen die Streicher auf Darmsaiten, die Bläser stehen und werden, wo sie solistisch hervortreten, auch tontechnisch in den Vordergrund geholt und der Solistin gleichberechtigt zur Seite gestellt. In jedem Moment wird so gespielt, als gelte es, nur diesen einen, kostbaren Moment zum Klingen zu bringen; und doch geht nichts von der großen Architektur und dem "szenographischen" Spannungsbogen des Konzert verloren. Der Klang springt den Hörer unmittelbar an, man sieht und spürt ihn geradezu körperlich. Zugleich wird das alles mit einer solchen Frische, einem solchen Feuer dargeboten, dass die Musik keineswegs "zu riechen" anfängt.
Bald gerät man beim Zuhören in einen Rausch innerer Bilder. Kopatchinskajas Ton ist hörbar an der Musik des 20. Jahrhunderts geschult. Wie da auf kleinstem Raum Farbspiele inszeniert werden, die Saiten mal rau, mal zartschwingend den Ton hervorbringen und ihn bis ins Mikropiano verklingen und als laserfeine Linie vibrieren lassen, ist wirklich atemberaubend anzuhören. So gelingt nicht nur die Formung der malerischen, sondern auch der expressiven Momente, der Stimmungen und Emotionen mit der Genauigkeit eines Seismographen. Dass diese Musik heute noch eine Relevanz jenseits wohlsituiter Konzertrituale hat - eine Frage die Kopatchinskaja umtrieb, bevor sie sich mit der Partitur beschäftigt hat - in dieser Aufnahme hört man es in jedem Takt.

Das gilt auch für das zweite Stück. Strawinskys Ballettmusik Les Noces (1914-17) für vier Solisten, Chor und ein Ensemble aus vier Klavieren und großem Schlagzeug offenbart ihren außergewöhnlichen Rang in dieser Einspielung noch einmal in besonderem Maße. Auch hier ist das Thema eine russische Bauernhochzeit, die von Stravinsky in ein musikalisch-szenisches Ritual transformiert wurde. Der Ton ist, Strawinsky-typisch, schlank und schnörkellos. Es ist keine Note zu viel. Das Ensemble scheint sozusagen nur aus Knochen, Sehnen und Musikeln zu bestehen und fungiert als eine puslierende, manchmal rasende Rhythmusmaschine, die sowohl Carl Orff wie auch den musikalischen Minimalismus der 1960er Jahre vorwegnimmt.
Currentzis Musiker, sein Solist_innenensemble sowie der praktisch durchgängig geforderte Chor vollbringen auch hier wahre Wunder der Artikulation und Feinziselierung. Auf dieser Weise werden die verschiedenen rhythmischen Schichten des Werks mit gestalterischer Fantasie herausgearbeitet und bilden doch ein großes, organisches Ganzes. Alles wird mit einer geradezu unheimlichen Reflexschnelle und Präzision realisiert. Currentzis entdeckt immer wieder betörende Momente der Ruhe, ja Entrückung in der Musik. So offenbart sich der immense kompositorische und theatralische Reichtum der kaum halbstündigen Partitur.
Dass die Sänger Muttersprachler sind, hört man an der genauen Aussprache des Russischen. Besonders gelungen ist der Einsatz verschiedener Gesangstechniken, die außerdem noch wirkungsvoll gegeneinander gesetzt werden: ätherische Klangschönheit trifft auf ethnomusikalische Färbungen durch obertönige, kehlige Tongebung. Die Solisten überzeugen durch eine kunstvoll stilisierte Darstellung, bei der nicht zuletzt der reichlich vorhandene Humor zu seinem Recht kommt. Mitunter wähnt man sich in einer Art russischen Kabuki-Theater, ein Effekt, der durch die räumliche Disposition der Aufnahme noch intensiviert wird.
Großartig!



Georg Henkel



Besetzung

Patricia Kopatchinskaja: Violine

Nadine Koutcher: Sopran
Natalya Buklaga: Mezzosopran
Stanislav Leontieff: Tenor
Vasiliy Korostelev: Bass

MusicaAeterna Choir
MusicAeterna Orchestra

Teodor Currentzis: Leitung


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