Musik an sich


Reviews
Vasks, P. (Navarra Quartet)

Streichquartette Nr. 1-3


Info
Musikrichtung: Neue Kammermusik

VÖ: 03.09.2010

(Challenge / Challenge Records International / CD / DDD / 2010 / Best. Nr. CC72365)

Gesamtspielzeit: 76:78



SCHMERZ UND SCHÖNHEIT

Die Musik des lettischen Komponisten Peteris Vasks (Jg. 1946) ist Bekenntnismusik, die nur dann wirklich zu verstehen ist, wenn man sich die Geschichte des lettischen Volkes vor Augen führt. Die Sowjetdiktatur, die die völlige Assimilation und damit Auslöschung der lettischen Kultur verfolgte, hat tiefe, traumatische Wunden hinterlassen. Der Schmerzenston von Vasks Musik, der in den hier eingespielten drei, zwischen 1977 und 1995 entstandenen Streichquartetten in unterschiedlichen Graden abstrakter Verdichtung Gestalt gewinnt, ist gleichsam der klingende Abdruck des kollektiven Schmerzkörpers des lettischen Volkes: ein Lamento, spannungsvoll bis zum Zerreißen, von einer expressiven Unmittelbarkeit, die in der Musik des Westens so kaum mehr zu hören ist. Er würde in der hiesigen (Fast)-alles-erlaubt-und-alles-gleichgültig-Kultur möglicherweise auch kaum jene existenzielle Dringlichkeit gewinnen, die ihm Vasks in seinen Kompositionen verleiht. Bei diesem Komponisten wirkt er durch und durch authentisch.

Beim 3. Quartett, das den Reigen eröffnet, mag man zunächst an Samuel Barbers „Adagio for Strings“ denken; doch die Sentimentalität, die das Stück des Amerikaners mitunter entwickeln kann, geht den scharf gezeichneten Linien und körnigen Harmonien Vasks ab. Auch ist das Satzbild so fragmentiert und mit Pausen durchsetzt, dass man schließlich eher die Parallele zu Luigi Nonos „Fragmente – Stille an Diotima“ zu ziehen geneigt ist, wären da nicht diese sehr gegenständlichen Figurationen, die trotz des Einsatzes avancierter Spieltechniken immer unmittelbar sprechend erscheinen. In dieser Transparenz und Verständlichkeit ist Vasks Musik derjenigen Arvo Pärts vergleichbar, der sie auch durch den vorherrschenden Klageton und die vielen berückenden Sekundreibungen in einigem ähnelt.
Der Rückgriff auf Motive aus der lettischen Volksmusik, die aber ohne jeden tümelnden Beigeschmack und dafür in fast schon schneidender, ikonenhafter Strenge aufgefasst werden, ist ein weiterer Aspekt, der Vasks Musik prägt. Ein letztes Element ist der Gesang der Vögel, wenngleich nicht in dem quasi-dokumentarischen „style oiseaux“ eines Olivier Messiaen. Vasks Vögel sind völlig stilisiert. Man hört ungewöhnliche, an elektronische Musik gemahnende Klangfarben, die Assoziationen den Gesang von Vögeln evozieren. Vögel symbolisieren für Vasks Freiheit und Hoffnung und verleihen der harschen Musik, die sonst oft am Rande des Verstummens bewegt oder mit leidenschaftlicher, ja brutaler Gewalt hervorbricht, eine seltsam schwebende Aura. Auch sonst gibt es immer wieder lichte Momente, gleichsam Silberstreifen, die die gebrochenen Klänge umgeben. So liegen in Vasks Musik Bedrohung, Schrecken, Schmerz und Schönheit immer nahe beieinander – wobei die Schönheit, trotz allem, das letzte Wort hat.

Das junge Navarra Quartet spielt mit einer Intensität und Prägnanz, die jedes Tragik- und Pathos-Klischee vermeidet und auch der Schönheit ohne Schönfärberei zu ihrem Recht verhilft. Dazu kommt eine Klangtechnik, die bei größter Genauigkeit im Detail der Musik genügend Raum zur organischen Entfaltung gibt.



Georg Henkel



Besetzung

Navarra Quartett:

Magnus Johnston & Marije Ploemacher: Violine
Simone van der Giessen: Viola
Nathaniel Boyd: Cello



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