Musik an sich


Reviews
Messiaen, O. (Bellheim)

Vingt Regards sur l’Enfant-Jésus (Sämtliche Werke für Klavier 1)


Info
Musikrichtung: Klassische Moderne Klavier

VÖ: 20.01.2010

(NEOS / Codaex / 2 SACD hybrid / 2008 / Best. Nr. 10907/08)

Gesamtspielzeit: 142:35



ROMANTISCH

Leider bin ich mit dieser Einspielung von Olivier Messiaens monumentalem, weihnachtlich inspirierten Klavierzyklus Vingt Regards sur l’Enfant-Jésus („Zwanzig Betrachtungen über das Jesus Kind“) auch nach mehreren Tagen nicht so recht warm geworden. Das liegt gewiss auch in der Janusköpfigkeit der Musik, die Spätromantisches und Impressionistisches mit avancierter Klanglichkeit und unerhörten Gesten in sich vereinigt. Retrospektives und Progressives ergeben wie so oft bei Messiaen eine faszinierende, auch herausfordernde Mischung. Welcher Perspektive folgt der Interpret? Behält er – was ideal wäre - beide im Blick? Und was bevorzugt der Hörer?

Dass der Pianist Markus Bellheim die Standfestigkeit besitzt, dieses an die spieltechnischen und klanglichen Grenzen gehende Werk zu bewältigen, steht außer Frage. Und dass er mit den sonoren Potentialen seines Instruments nicht geizt, sollte dem sinnlich-kontemplativen Rausch, den der Komponist mit diesem Werk entfesselt hat, eigentlich gut zu Gesicht stehen.
Vielleicht lassen sich die Schwierigkeiten, die ich mit Bellheims Interpretation habe, am besten durch einen Vergleich mit der Einspielung des Zyklus‘ durch die britischen Pianisten Steven Osborne (Hyperion, 2001) illustrieren, der ich wegen ihres Feinschliffs auch der vielgepriesenen Version Pierre Laurent Aimards (Warner) den Vorzug gebe. Osborne legt seine ganze Interpretation filigraner und durchsichtiger an, was in den schnellen Sätzen wie Nr. 6 oder 10 höhere Tempi bei klarster Artikulation und Farbnuancierung erlaubt. Wo es aber erforderlich ist, weiß auch Osborne voluminöse nachtschwarze oder scharf umrissene funkelnde Klänge anzubringen, die den Hörer schon vom Sitz reißen können.
Tradition und Aufbruch scheinen mir in der Lesart dieses Pianisten nicht nur unter diesem Aspekt in einer perfekten Synthese vereint. Auch Tempo- und Farbrelationen stellen bei diesem Werk durchweg eine besondere Herausforderung dar. Gerade in der Betrachtung Nr. 6, wo Messiaen die Musik gleichsam in einer Art urknallhaften Freude explodieren und bei der episodenhaften Materialhäufung scheinbar jedes Maß vergessen lässt, kann die Musik schnell in lose Blöcke zerfallen. Osborne gelingt auch hier die Quadratur des Kreises: exaltierte Virtuosität, Biegsamkeit der Textur, schlüssige Kombination der kontrastreichen Themenblöcke, gleichzeitig quasi-improvisatorische Freiheit durch den swingenden Duktus, in die der Pianist die vertrackten Rhythmen einbettet. Bei Bellheim, der einen breiteren, wuchtigeren Klang bevorzugt, klingt es monolithischer. Da tritt die Musik schon mal auf der Stelle, statt ekstatisch voranzustreben. Ich höre hier viel Kraft, erlebe bzw. „sehe“ aber viel weniger als bei Osborne, der mehr orchestrale Farben und Bewegungen erzeugt.
Ein weiterer Reiz in Osbornes Darstellung ist auch die delikate dynamische Balance, zu der auch die Erzeugung von unwirklichen Fernwirkungen und wolkig-zarte Klänge in der Manier Debussys gehören. Gerade in den sehr ruhigen, zeitentrückten Teilen des Zyklus erreicht die Interpretation dadurch eine meditative Intimität, die dem spirituellen Gehalt angemessen ist. Bei Bellheim höre ich mehr die Spätromantik à la Franz List. Das Klangbild ist hier offensiver, „vollgriffiger“; die langsamen Sätze, z. B. die Betrachtung des Kreuzes, wirken lyrischer. Dadurch springt die Musik im ersten Fall den Hörer wohl machtvoller an, wirkt aber auch vordergründiger bzw. in den ruhigen Teilen weniger surreal oder geheimnisvoll als ausdrucksvoll. Der Flügel bleibt dabei mehr Flügel, Klang und pianistische Technik werden nicht so transzendiert wie bei dem britischen Künstler.
Damit keine Missverständnisse aufkommen: Das sind interpretatorische Nuancen auf hohem künstlerischen Niveau und am Ende wohl auch Geschmacksfragen. Mich indes hat die Fassung Osbournes einfach mehr berührt (auch religiös) und verzaubert .



Georg Henkel



Trackliste
SACD 1: I-XI 71:26
SACD 2: XII-XX 71:09
Besetzung

Markus Bellheim: Klavier


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