Musik an sich


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Bach, J. S. (Weinberger)

Sämtliche Orgelwerke


Info
Musikrichtung: Barock Orgel

VÖ: 30.09.2008

(CPO / JPC / 22 CD / DDD / 1997-2008 / Best. Nr. 7006321)

Gesamtspielzeit: 1480



ÜBERREICH GEFÜLLTE SCHATZTRUHE

Die Königin unter den Instrumenten ist die Orgel. Und die Toccata und Fuge in d-Moll (BWV 565) von Johann Sebastian Bach gilt vielen als das Kronjuwel für dieses Instrument. Kein Bach-Orgel-Programm kommt ohne dieses Stück aus, dessen archaischer Vorschlagstriller mit anschließendem Absturz in die tiefen Register bereits unzähligen gotisch-barocken Fantasien als Klangkulisse diente. Angesichts von so viel Attraktivität wird schnell übersehen, dass das berühmte Werk von zweifelhafter Echtheit ist!
Genau hingeschaut hat (nicht nur bei diesem Stück) der Organist Gerhard Weinberger. In seiner Gesamteinspielung der Orgelwerke, die seit 1997 beim Label CPO erschienen und nunmehr in einer schönen Box mit 22 CDs und 168-seitigem englischen Kommentar für rund € 50.- erhältlich ist, findet sich das berühmte Stück auf die hinteren Plätze, spricht Volumen, verbannt. Drei späte CDs, die Nr. 18 bis 20, sind nämlich ausschließlich den umstrittenen Werken gewidmet – ein Service, den keine andere Gesamteinspielung in diesem Umfang bietet. Auch die Aufnahme von Frühwerken und Varianten anderer bekannter Stücke ist ein Plus. Weinberger hat schließlich als Finale noch die Kunst der Fuge mit aufgenommen. Die diesem Opus vorgeschaltete Weltersteinspielung der erst 2008 entdeckten Choralfantasie Wo Gott der Herre nicht bei uns hält (BWV 1128) macht diese Sammlung wirklich zu der bislang umfassendsten.

Fast 25 Stunden Bach auf der Orgel – das klingt eindrucksvoll, vielleicht auch einschüchternd. Die Kraft und Dichte dieser Musik kann einen wirklich überwältigen. Dabei ist es, unbeschadet der quantitativen Leistung, dann eben doch die interpretatorische und aufnahmetechnische Qualität, die diese 22 CDs schließlich an die Spitze der verfügbaren Gesamteinspielungen katapultiert.
Die Bedingungen für das Projekt waren denkbar günstig: Eine kleines, aber ambitioniertes Label versichert sich der Kunst eines renommierten Bachinterpreten und lässt ihm genügend Zeit, seine Vorstellungen auf ausgesuchten barocken Orgeln zu verwirklichen, die Bach wohl auch im Ohr und vielleicht sogar unter den Fingern gehabt hat. Denn Orgel ist nicht gleich Orgel, und in diesem Fall wird gleich eine ganze Orgellandschaft zum Leben erweckt. Über 20 Instrumente aus Thüringen und Sachsen-Anhalt hat Weinberger bespielt, außerdem einige weitere große Bachorgeln, z. B. aus Grauhof, Trondheim und Groningen. Durchweg handelt es sich auch bei den Kleineren um sehr gut restaurierte Exemplare mit charaktervoller Disposition. Diese Edition ist eine Fundgrube herrlicher barocker Pfeifenklänge und Spezialeffekte wie „Zimbelstern“ oder „Sonne“. Vor der Wiedervereinigung wäre eine derart systematische Erschließung kaum möglich gewesen.

Weinberger kostet diese reiche Palette an Möglichkeiten weidlich aus, so dass kein Stück wie das nächste klingt und auch ungewöhnliche Farben zu ihrem Recht kommen. Jede Platte ist deshalb zugleich ein imposantes Orgel-Porträt. Immer wieder erstaunlich sind die Farbmischungen, die der Interpret zusammenstellt. Programmierer von Synthesizern könnten hier einmal auf wirklich neue Ideen kommen ... Insbesondere die zahllosen ausdrucksvollen Choralbearbeitungen profitieren von Weinbergers sicherem, historisch informierten Gespür für die richtige Registrierung.
Der Interpret favorisiert aufgelockerte Programme gegenüber systematischen Zusammenstellungen. Z. B. werden Gruppen der unterschiedlichsten Orgelchoräle (die in Bachs Oeuvre deutlich überwiegen) durch Präludien, Fugen u. a. voneinander abgesetzt. Oder der III. Teil der Clavierübung getrennt nach den Stücken manualiter und pedaliter auf zwei CDs verteilt. Mit Hilfe des Registers im Booklet findet man sich aber zügig zurecht, wenn man ein bestimmtes Stück sucht. Und selbst da, wo Werktypen wie die repräsentativen vollgriffigen Fantasien, Toccaten, und Fugen zu größeren Einheiten zusammengefasst werden (CD Nr. 8), zeichnet sich Weinbergers Interpretation durch stimmige Differenzierungen unter den einzelnen Nummern aus. Virtuosität und Brillanz können eben einmal in Gestalt mächtig aufrauschender Klangblöcke, ein anderes Mal kammermusikalisch konzentriert erscheinen. Eigentlich gibt es darum auf jeder Platte mindestens eine Entdeckung zu machen, aber auch Bekanntes kann man neu kennenlernen. Manches, wie z. B. die sonst leider oft pastos-dröhnend genommene Passacaglia, ist mir hier erstmals wirklich nahe gebracht worden: in diesem Fall als ein Wunder an Einfallsreichtum über einer Tanzfigur.
Dazu kommt die durchweg bestechende Klarheit von Weinbergers Spiel und der exzellenten Aufnahmetechnik. Selbst große Orgeln klingen im Plenum nicht einfach nur laut. Die dichte Faktur bleibt durchhörbar, ohne dass das natürliche Klangvolumen darunter leidet (aufregend körperlich vor allem die Bässe).

Fazit: Eine überreich gefüllte Bach-Schatztruhe, unbedingt zu empfehlen!



Georg Henkel



Besetzung

Gerhard Weinberger: diverse Barockorgeln


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