Musik an sich


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Da Caserta – Andrieu – Senleches u. a. (Boeke)

Codex Chantilly 1


Info
Musikrichtung: Mittelalter Ensemble

VÖ: 21.11.2009

Etcetera / Codaex CD (AD DDD 2007) / Best. Nr. KTC 1900

Gesamtspielzeit: 63:10



NATÜRLICH KOMPLIZIERT

Lange Zeit war man sich nicht einmal sicher, ob die verrätselten Kompositionen aus dem sogenannten Codex Chantilly, einer italienischen Musikhandschrift des 14. Jahrhhunderts, überhaupt für eine reale Aufführung gedacht waren.
Nicht nur das extravagante Layout mancher der über hundert Stücke gab zu denken: Auch für mittelalterliche Ausführende dürfte die Notation in Form konzentrischer Kreise, Harfen oder Herzen eine Herausforderung gewesen sein. Überhaupt ließ die rhythmisch hochkomplizierte Mensural-Notation eher an Gedankenexperimente denken. Nur mit Schwierigkeiten konnte man sie in moderne Notenzeichen übertragen. Von einer Aufführung ganz zu schweigen. Auf gewisse Weise ähnelten die häufig wechselnden, irrationalen und gegenläufigen Zeitmaße eher an Neue Musik. Kann das Ohr überhaupt solchen nur atmosphärisch wahrnehmbaren Subtilitäten folgen?
Es kann! Und zwar mit einigem Genuss. Zumindest gilt dies für den ersten Teil der vom Ensemble Tetraktys geplanten Gesamteinspielung. Unter der Leitung von Kees Boeke wurden einige der schönsten und kompliziertesten Balladen sowie ein Rondeau und zwei Virelais interpretiert, und dies mit einer entspannten Ruhe und Natürlichkeit, die alle satztechnischen Exzentritäten vergessen macht.
Erstaunlich ist die geradezu epische Länge mancher der ungekürzt mit allen Strophen dargebotenen Stücke. Wenn man aber bedenkt, wie viel es beim Hören an Feinheiten zu entdecken gibt, dann machen die Wiederholungen durchaus Sinn, auch für den modernen Hörer. Der freilich sollte Zeit und Konzentration mitbringen. Das abschließende Le me merveil von Jacob de Senleches, ein herrliches, fast schwereloses Duett, benötigt immerhin rund 14 Minuten!
Bei einfachen oder Doppel-Balladen werden übrigens nur die Oberstimmen vokal ausgeführt, die „Begleitung“ der zwei oder drei weiteren Stimmen besorgen Flöte, Fideln und Harfe. Das garantiert Durchhörbarkeit des verwickelten Satzes bei gleichzeitigem organischen Zusammenklang. Erforderlich sind hohe oder sehr hohe Gesangsstimmen. Jill Feldmann (Sopran) und Carlos Mena (Altus) meistern ihre Partien, wobei Menas bemerkenswert volle, fruchtige Stimme mit den Anforderungen besser zurechtkommt als Feldmanns nicht mehr ganz so makelloses mädchenhaftes Organ. Vor allem in der hohen Lage von Solages ‚S’aincy estoit‘ oder Je me merveil wird ihre Stimme schon mal rau und eng. Wesentlich runder gelingt ihr das weniger extrem gelagerte De Narcissus von Franciscus Andrieu. Dennoch: Insgesamt ein vielversprechender Auftakt zu einem ambitionierten Projekt.



Georg Henkel



Trackliste
1Solage: S'aincy estoit que ne feust la noblesce (ballade)
2 Anonymus: Un crible plein d'eaue de vray confort - A Dieu vos comant, baudor (virelai)
3 Philioctus de Caserta?: Medee fu en amer veritable (ballade)
4 Antonello da Caserta?: Je ne puis avoir plaisir (virelai)
5 Galiot?: Se vos ne volés fayre outrage (rondeau)
6 Matteio da Perugia?:De quanqu'on peut belle et bonne estrener (ballade)
7 Franciscus Andrieu: De Narcissus, home tres ourgilleus (ballade)
8 Jacob de Senleches: Je me merveil aucune fois comment - J'ay pluseurs fois pour mon esbatement (ballade)
Besetzung

Jill Feldman: Sopran
Carlos Mena: Altus
Marta Graziolino: Harfe
Silvia Tecardi: Fidel
Kees Boeke: Fidel, Flöte & Leitung



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