Pädagogik und andere Erinnerungen: Das Philharmonische Orchester Altenburg-Gera spielt Weinberg und Hindemith




Info
Künstler: Philharmonisches Orchester Altenburg-Gera

Zeit: 12.11.2021

Ort: Altenburg, Theaterzelt

Fotograf: Yang Beom

Internet:
http://www.theater-altenburg-gera.de

Bei der Wiederentdeckung des Schaffens von Mieczyslaw Weinberg rund um dessen 100. Geburtstag waren die findigen Altenburg-Geraer Theatermacher ganz vorn mit dabei. Bereits 2019 brachte das Philharmonische Orchester Altenburg-Gera Weinbergs 6. Sinfonie zu Gehör, sowohl im Konzert als auch später auf Tonkonserve, und die Oper „Die Passagierin“ als musikdramatisches Hauptwerk des Komponisten stand im gleichen Jahr in Gera auf dem Spielplan und konnte in Altenburg nur deshalb noch nicht gespielt werden, weil sie einen technischen Aufwand erfordert, der im Theaterzelt als der Ausweichspielstätte während der laufenden (und sich verzögernden) Sanierung des Theaters nicht realisierbar wäre.
Orchesterkonzerte im Theaterzelt zu spielen, das geht aber (die erste Sanierungssaison, die von 2019/20, hatte man bis zum coronisierten Abbruch im Frühjahr 2020 noch überwiegend in der Brüderkirche gespielt), und im 3. Philharmonischen Konzert der Saison 2021/22 steht nun abermals Weinberg auf dem Programm, sogar gleich zweimal. Es geht los mit seiner Sinfonietta Nr. 2 op. 74, einem 1960 komponierten „Vorläufer“ seines bald darauf große Fahrt aufnehmenden Sinfonieschaffens (bis 1960 war er erst bei Nr. 4 angekommen – freilich immer noch eine Zahl, über die etwa ein Johannes Brahms nicht hinauskam –, aber an seinem Lebensende bei Nr. 22). Hier beschränkt er sich auf ein Streichorchester plus einen Pauker, macht aber schon im eröffnenden Allegro klar, dass er trotzdem eine Menge Dynamik fordert, und die liefert das Orchester auch, zumal die übersichtliche Größe des Zelts und der Sitzplatz des Rezensenten in Reihe 4 dazu führen, dass die Ohren viel Klang abbekommen, bevor der sich im Raum zu verteilen beginnt, was für eine interessante Direktheit sorgt. Hier bekommen wir jedenfalls zunächst klar strukturiertes Gesäge mit einzelnen Paukenschlägen zu hören, und Dirigent Ruben Gazarian schafft es auch im sich verdichtenden Geflecht, sowohl die Grundschärfe des Klanges zu erhalten als auch die Intensität auf hohem Level anzusiedeln, wozu das zügige Grundtempo sein Scherflein beiträgt.
Ins Allegretto rettet der Dirigent auch einiges an Schärfe herüber, obwohl sie hier von einer Grundlockerheit und fast jiddisch anmutenden Elementen verschleiert wird. Wie hier ein feister Dreiertakteinschub aus dem Nichts geholt wird und wieder verschwindet, das muß man erstmal so organisch planen wie Weinberg und so organisch umsetzen wie das Orchester an diesem Abend. Der Zug zum Tor entwickelt sich hier eher unterschwellig, und nachdem Gast-Konzertmeisterin Larissa Cidlinsky schon die ganze Zeit durch sehr körperbetontes Spiel und intensives „Mitgrooven“ (positiv) aufgefallen ist, zeigt sie im bezaubernden Satzschluß, wo sie ein ins ätherische Nichts führendes Solo zu spielen hat, dass sie auch die Kunst der Zurückhaltung meisterhaft beherrscht.
Das Adagio hebt mit einer großen breiten Klanggeste an, die Gazarian auf dem Pult auch optisch nachvollzieht, zumal er generell äußerst plastisch und bewegungsinduziert dirigiert. Hier bestechen diverse dunkel glühende Soli einzelner Streicher, und die Konzertmeisterin muß schon wieder gesondert erwähnt werden, weil sie die Tugend des entrückten Satzschlusses hier gleich nochmal pflegen darf.
Das abschließende Andantino ist die Instrumentalfassung des vierten, titelgebenden Liedes aus dem wenige Jahre zuvor von Weinberg komponierten Zyklus „Erinnerungen“ op. 62 auf Texte des polnischen Dichters Julian Tuwim, ein sentimentaler Rückblick des Dichters wie des Komponisten auf ihre frühere Heimat. Die grundsätzliche Sanglichkeit ist hier also intendiert und wird vom Orchester prima umgesetzt, auch die Stimmung, die zwar Schwermut, aber keine Hoffnungslosigkeit auszudrücken scheint, zumal unterschwellig auch hier ein unverkennbarer Vorwärtsdrang waltet, obwohl der Pauker sein Instrument fast nur zu streicheln hat. Das Cellosolo gerät äußerst ergreifend, und nur der etwas zu diffuse Schluß (einige Pizzikati fliegen über der mit tinnitusartigem Ton entschwebenden Solovioline hin und her – das hatte der Komponist in den beiden Sätzen zuvor besser gelöst) trübt den positiven Eindruck ein wenig. Bildet er zugleich den Grund, dass der Applaus des Publikums eher verwirrt anmutet und nicht lange aushält?

Der Pauker verschwindet vor dem nächsten Stück: Paul Hindemiths Fünf Stücke für Streichorchester op. 44/4 kommen mit einer puren Streicherbesetzung aus und besitzen eigentlich einen pädagogischen Hintergrund, haben sich aber auch einen Platz im Konzertleben gesichert, obwohl es durchaus Aufregenderes für eine solche Besetzung gibt. Markante Themen und große Emotionen sucht man in den fünf Sätzen vergebens, die Musik geht praktisch zum einen Ohr hinein und zum anderen wieder hinaus, ohne dem Hirn zwischendurch einen längeren Besuch abzustatten – über die pädagogischen Qualitäten maßt sich der kein Streichinstrument beherrschende Rezensent kein Urteil an, und zum Spieltechniktraining sind die Stücke sicherlich allemal zu gebrauchen, zumal der Dirigent in seiner Konzerteinführung darauf hinweist, speziell der letzte Satz beinhalte spieltechnische Schwierigkeiten, für die man sich als Laienmusiker (für den die Stücke eigentlich gedacht seien) schon gehörig strecken müsse. Dabei geht das Werk mit einem „Langsam“ überschriebenen Satz harmlos und unauffällig los, erst im „Langsam“-Anfang des zweiten Satzes entwickelt sich so etwas wie Leben, das dann im Hauptteil dieses Satzes („Schnell“) eine neobarocke Färbung annimmt. Satz 3 gerät titelgemäß tatsächlich „Lebhaft“ mit einem munteren Hin und Her bei gewisser Schärfezunahme, aber auch hier fliegt alles in Windeseile an einem vorbei. Auch der grollende Ansatz des „Sehr langsam“-Satzes entpuppt sich schnell als Strohfeuer. Die Satzüberschrift nimmt der Dirigent mit einem relativ zügigen Tempo durchaus nicht wörtlich, Abgründe tun sich auch keine auf, und nur das große finale Aufschwingen läßt Ansätze zu Aufregenderem erahnen. Solches ereignet sich dann erst im letzten Satz „Lebhaft“, der munteres Gesäge und eine wild, aber kontrolliert solierende Konzertmeisterin bietet und ein paar kleine Dynamiküberraschungen bereithält, in die Gazarian gekonnt so viel Pfeffer gibt, wie er es verantworten kann. Klar, die werkimmanente Dramaturgie wird erkennbar, aber erst jetzt beginnt man sich auch als Nichtspieler eines Streichinstrumentes wirklich näher für das Werk zu interessieren – da ist es aber auch schon vorbei. Nichtsdestotrotz geht hier der finale Eindruck in den Applaus ein, der dementsprechend deutlich weniger verwirrt ausfällt.

Mieczyslaw Weinberg hat sich nicht nur mit seinen 22 Sinfonien einen Platz im Herzen einiger Musikgourmets gesichert, sondern auch eine Vielzahl von Instrumenten mit Solokonzerten bedacht. Deren erstes war das Cellokonzert c-Moll op. 43 aus dem Jahre 1948 – ein strukturell freilich ungünstiges Jahr für den Komponisten, der noch im Januar/Februar zusammen mit Schostakowitsch und etlichen anderen sowjetischen Tonsetzern dem Formalismusverdikt anheimfiel und somit jahrelang nur sehr eingeschränkt arbeiten konnte, zumal ihm auch noch seine jüdische Assoziation auf die Füße fiel, da sich Stalin nach dem Ende des Krieges wieder stärker dem in der russischen und auch noch in der sowjetischen Gesellschaft sowieso stark verankerten Antijudaismus widmete und beispielsweise Weinbergs Schwiegervater, der Schauspieler und Leiter des Jiddischen Theaters Moskau Solomon Michoëls, bei einem vom Geheimdienst inszenierten Überfall ums Leben kam. In dieser Zeit mit einem für die politische Arbeit vollkommen unnützen Werk wie einem Cellokonzert um die Ecke zu kommen hätte sowohl für Weinberg als auch für den Widmungsträger, den jungen und aufstrebenden Mstislaw Rostropowitsch, äußerst ungünstige Folgen gezeitigt, und so bewies der Komponist Weitblick und versenkte das Werk zunächst in der Schublade, aus der es dann erst vier Jahre nach Stalins Tod gezogen und mit dem Widmungsträger als Solisten vom Moskauer Philharmonischen Orchester uraufgeführt wurde.
In Altenburg und an den drei Abenden zuvor in Gera kann das Philharmonische Orchester Altenburg-Gera den Solistenpart aus eigenem Hause besetzen: Seo Young Lee (Foto) ist seit 2020 Solocellistin des Orchesters, und die junge, aber schon weitreichend erfahrene Koreanerin widmet sich mit Freude und großem Können dieser reizvollen Aufgabe. Der Rezensent sitzt in Reihe 4 der Solistin fast direkt gegenüber und kann daher nicht sagen, ob der Höreindruck einer enorm starken klanglichen Präsenz des Solocellos über fast die gesamte Spielzeit hinweg auch an anderen Stellen des Theaterzelts so auffällig ist – was in gewisser Hinsicht aber auch egal ist, denn falls es nicht so ist, hat der Rezensent eben das Privileg, die solistische Arbeit besonders genau mitverfolgen zu können, zumal die Einbindung des Soloinstruments ins Orchester trotz des dominanten Eindrucks durchaus gut ausbalanciert wirkt und somit kein Fremdkörpereindruck entsteht. Natürlich gibt der Komponist der Solostimme so manche Glanzpunktmöglichkeit (man erinnere sich, wer der Widmungsträger ist), aber Lee weiß, wann sie sich zurücknehmen muß, so dass etwa gleich im eröffnenden Adagio der Eindruck eines edel zurückgenommenen, aber sehnsuchtsvollen Gestus entsteht, durch dunkel glühende Klangfarben des Soloinstruments befördert. Ruben Gazarian leitet gekonnt durch die weiten, stets zugänglich bleibenden Klanglandschaften und holt oft und gern zur großen Geste aus, schichtet gekonnt Lage auf Lage so, dass das Solocello immer vorn bleibt, entwickelt besonders in den Tiefen einiges an Druck und meistert letztlich auch die Gestaltung des Satzschlusses – berückend, aber alles andere als hoffnungslos – mit Können und mit Spannungserzeugung.
Der Moderato-Satz hängt attacca an und besticht mit einer gewissen munteren Lockerheit, für die hier mal nicht die Solistin hauptverantwortlich ist, sondern die im wesentlichen aus den Bläsern kommt, von denen der Komponist einige mit „Sonderaufgaben“ betraut. Gazarian hat es also mit munteren Flöten, aber auch völlig jenseitig klingen Hörnern zu tun, und wenn dann die Trompeten auch noch eine Art Blechjazz spielen, ist wieder mal die gestaltende Hand des Dirigenten gefragt, das alles wie aus einem Guß klingen zu lassen. Das gelingt an diesem Abend ohne Wenn und Aber, zumal sich Gazarian trotz diverser blitzartig erscheinender und wieder verschwindender Einfälle überwiegend einer sehr behutsamen Formung widmen darf, was sich bis in den Satzschluß hinein zieht, der eine kuriose Mixtur aus einer verklingenden Linie der Solistin und der von der Klangfarbe her ähnlichen Lüftung des Zeltes bietet.
Gleich zwei Allegro-Sätze folgen noch. Der erste mischt Gesäge mit aus dem Solocello kommenden jiddischen Anklängen und zeigt, dass Gazarians souveräne Beherrschung von Wendungen auf kleinem Raum, die er in Satz 2 schon angedeutet hat, keine Eintagsfliege war. Aus dem großen Schlachtenkíno des plötzlichen Ausbruchs (mit einem riesig wirkenden Dirigenten) ebenso plötzlich in einen lieblichen Nebengedanken abzuschweifen, ohne dass es konstruiert wirkt, dafür braucht man Könner, und solche arbeiten an diesem Abend hier. Auch in den Tutti bleibt die Solistin immer klar durchhörbar, und ein kleiner Orchesterschlußtriumph führt zur Kadenz, der Weinberg immer wieder eine Tonfolge inkorporiert hat, die ein wenig an „Unsterbliche Opfer“ erinnert, das Schostakowitsch einige Jahre später in seiner 11. Sinfonie verarbeitet hat, die der Rezensent kurioserweise am Vorabend im Gewandhaus gehört hat. Auch der allgemeine Tonfall ähnelt sich durchaus, wobei auch die Solistin enorm körperbetont spielt und einen hochspannenden Kadenzausklang hervorzaubert ...
... der attacca in den anderen Allegro-Satz mündet. Hier fällt zunächst die geschickte Dialogarbeit der Solistin mit dem förmlich dahingetupften Holz ins Auge bzw. vielmehr ins Ohr, wobei interessanterweise der Cellistin auch der Job zufällt, unterschwellig Tempo zu machen, etwa in den witzigen Pseudo-Galopp-Passagen, die indes bisweilen geschickt ausgebremst werden. Obwohl die Zahl der klanglichen Abgründe sinkt, nimmt die der Wendungen zu, aber der Ironiefaktor bleibt, wenn das scheinbar bedeutungsvolle große Orchestertutti ohne die Solistin auskommt, aber dafür motivisch in ihre Kadenz zurückgreift. Gazarian und Lee arbeiten konzentriert und mit gutem Feingefühl füreinander bis zum Ende gemeinsam, wobei Lee im entrückten Schluß lange nicht mehr so sehr im Klangvordergrund steht wie selbst in ruhigeren Passagen der ersten drei Sätze, aber ihren Platz im Zentrum jederzeit behauptet. Gazarian formt ein letztes Mal sehr intensiv, und es gelingt ein bezaubernd spannender Schluß, der eine glanzvolle Gesamtleistung krönt und natürlich mit viel Applaus belohnt wird. Die Solistin bedankt sich mit Bachs Sarabande aus der 3. Cellosuite in einer fast impressionistisch angehauchten Version, wobei auffällt, dass ihr Ton hier lange nicht so dunkel ausfällt wie im Weinberg-Konzert. Selbiges wiederum könnte für alle, die Schostakowitsch mögen, aber mit dessen ausgeprägtem Existentialismus bisweilen überfordert sind, eine äußerst reizvolle Entdeckung sein.


Roland Ludwig



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