Mitja VIII: Das Gewandhausorchester spielt Gubaidulinas erstes Violinkonzert „Offertorium“ und Schostakowitschs Elfte „Das Jahr 1905“




Info
Künstler: Gewandhausorchester

Zeit: 11.11.2021

Ort: Leipzig, Gewandhaus, Großer Saal

Fotograf: Roger & Renate Rössing (Deutsche Fotothek)

Internet:
http://www.gewandhausorchester.de

Die Dauer der „Amtszeit“ von Sofia Gubaidulina als Gewandhauskomponistin ist pandemiebedingt mittlerweile auf drei Spielzeiten ausgedehnt worden, und keiner weiß, ob sich nicht eine abermalige Verlängerung notwendig machen wird, um das Schaffen der mittlerweile im letzten zweistelligen Lebensjahrzehnt angekommenen Russin bzw. Tatarin angemessen zu würdigen – das Konzert dieses Abends ist das erste, das unter der 2G-Regel stattfindet, und nur anderthalb Wochen später muß das Gewandhaus wie alle anderen sächsischen Kulturstätten angesichts explodierender Fallzahlen und voller Krankenhäuser abermals in einen Lockdown. Die hastige Einführung der 2G-Regel nur wenige Tage vor diesem Konzert hat der Gewandhaus-Verwaltung naturgemäß wieder mal einen Kraftakt abverlangt, aber das Prozedere klappt, soweit es der Rezensent feststellen konnte, so wie vorgesehen, und letztlich ist der Große Saal ungefähr zu zwei Dritteln gefüllt.

Von Sofia Gubaidulina gibt es mittlerweile drei Violinkonzerte. Das dritte von 2018 hatte im Dezember 2019 seine Gewandhauspremiere erfahren (siehe Rezension auf diesen Seiten), das erste hingegen, komponiert in den 1970ern und später mehrfach revidiert, gab es anno 1993 schon mal zu hören und seither nicht wieder – also eine gute Gelegenheit, es neuerlich aufs Tapet zu heben, zumal die Violinistin Baiba Skride sowieso gerade im „Gubaidulina-Modus“ ist und diese Saison das erste Violinkonzert auch noch mit dem London Symphony Orchestra sowie das dritte mit dem hr-Sinfonieorchester spielt, also intensiv ins Schaffen der Komponistin eingetaucht ist. Wie auch das dritte ist das erste einsätzig und trägt einen gesonderten Titel: „Offertorium“, womit der Querverweis auf Bachs „Musikalisches Opfer“ und dessen von Friedrich dem Großen stammendes Hauptthema gegeben ist, das sich auch als Grundmotiv durch das Gubaidulina-Konzert zieht und dort immer weiter fragmentiert wird, bis es für den normalen Hörer, der nicht in der Partitur mitliest, praktisch nicht mehr zu erkennen ist. Man kann sich zwar auch dem Programmheft widmen und erfährt dort einiges über die weiteren Themengestalten, aber so richtig Hörspaß macht diese Methode nicht, und irgendwann kommt man auf den Gedanken, das Stück unabhängig vom Themengerüst zu betrachten.
Skride steht vom Rezensenten aus genau hinter dem Dirigenten und wird daher von diesem ein wenig akustisch verdeckt, aber dem tastend-suchenden Charakter der thematischen Einleitung verhilft das vielleicht sogar noch zu stärkerer Wirkung. In der Folge entspinnt sich ein Sammelsurium aus hübschen Einfällen, wobei freilich eins auffällt: Im dritten Violinkonzert „Dialog: Ich und Du“ hatten es die Dialogisierenden nicht bis zum Wir geschafft – hier im ersten dagegen ist nicht mal der Dialog da, arbeitet die Solistin überwiegend vom Rest des Orchesters geschieden und findet (offensichtlich planmäßig) nur selten eine gemeinsame Sprache mit anderen Bühnenaktiven und wenn, dann nur mit Einzelmusikern, aber nahezu nie im Gesamtverbund. So scheinen die schon sehr früh auftauchenden jenseitigen Momente aus Solovioline und verschiedenen Schlagwerkbestandteilen die religiösen Untertöne, von denen Gubaidulinas Schaffen gemäß Selbstzeugnis geprägt ist, markant in den Vordergrund zu stellen, und in einem kadenzartigen Teil geht das bis hin zu Klingeltönen, wie man sie aus dem katholischen Gottesdienst kennt, hier allerdings in einem Gemisch aus Ätherik und Nervensäge. Seltsamerweise wirken im Gesamtbild die gelegentlichen spätromantischen Anflüge auf das Gemüt des Hörers beruhigender als so manche Rücknahmestelle, wobei auch wiederum auffällt, dass Gubaidulina durchaus ein Händchen für eindringliche Klangdüsternis hat, mal aus den Tiefstreichern, mal aus dem Tiefblech und mal aus dem ganzen Orchester kommend. Nur macht sie im Gegensatz zu etwa Dmitri Schostakowitsch hier (noch) nichts draus, jedenfalls nichts Tragendes, so beeindruckend einzelne Einfälle auch sind. So landet man bei der Betrachtung irgendwann doch wieder in der Einzelelement- und Strukturanalyse, freut sich über brillante Flageoletts von Skride, bemerkt echoartige Wiederkehrpassagen mit dem suchend-tastenden Gestus der Einleitung und ist angenehm überrascht, wenn danach in einer dieser spätromantischen Passagen endlich (und, wie man zum Schluß weiß, zum einzigen Mal) der Eindruck eines Wir zwischen Solistin und Orchester entstehen darf – eine Gelegenheit, die sich Gewandhauskapellmeister Andris Nelsons besonders intensiv zu gestalten natürlich nicht entgehen läßt. Von den Choralandeutungen bleibt danach indes schnell nichts mehr übrig, ätherische Passagen, etwas Schrägheit und ein letzter Ausbruch wechseln sich ab, und letztlich verschwindet der Klang nach 40 irgendwie seltsamen Minuten ins Nichts, mit lange stehender Spannung, wonach ein erstaunlich ausdauernder Applaus ertönt, wobei Skride allerdings auf eine Zugabe verzichtet. Notiz am Rande: In einer der ätherischen Passagen ein paar Minuten vor Schluß kommen vom rechten Rang sechs laute Pieptöne offensichtlich aus irgendeinem elektronischen Gerät, und kurioserweise fügen sich die an der Stelle so ins Geschehen, dass man sie für Absicht halten könnte. Jedenfalls stören sie nicht – ganz im Gegensatz zum letzten großen gemeinsamen Umblättern auf der Bühne, das erstaunlich viel Unruhe ins Geschehen bringt.

Nach der Pause gibt es die 1957 uraufgeführte 11. Sinfonie op. 103 des bereits erwähnten Dmitri Schostakowitsch, zwar „Das Jahr 1905“ untertitelt, aber problemlos auch als Parabel auf andere Konflikte zwischen Herrschern und Beherrschten lesbar als auf den das „offizielle“ Programm hergebenden Petersburger Blutsonntag. Die Lektüre des Programmheftes erbringt dabei die interessante Erkenntnis, dass sich Dramaturgin Ann-Katrin Zimmermann ins nicht mehr eben reichlich besetzte Lager derjenigen schlägt, die die von Solomon Wolkow herausgegebenen Memoiren Schostakowitschs für unecht oder zumindest verunechtet halten. Zwar scheint Schostakowitschs Arbeitsweise, eine Sinfonie oft lange vorher im Kopf zu entwerfen und sie dann rasch niederzuschreiben, der Version, die Parabel sei auf den ungarischen Aufstand von 1956 oder gar gemäß der in den Memoiren zu lesenden Formulierung „Ich komponierte sie 1957. Und sie bezieht sich auf die Gegenwart von 1957, obwohl ich sie ‚Das Jahr 1905‘ genannt habe“ auf die aktuelle Lage in der Sowjetunion bezogen (zwar hatte nach Stalins Tod eine gewisse Tauwetter-Periode eingesetzt, aber das Formalismus-Verdikt von 1948 gegen Schostakowitsch und viele andere Komponisten galt immer noch!), eher konträr gegenüberzustehen (was schon bei der Siebenten in einem analogen Fall für interessante Fehlschlüsse gesorgt hatte), aber Konflikte zwischen Herrschern und Beherrschten hatte es im sowjetisch dominierten Osteuropa ja auch schon in den Jahren zuvor gegeben, nicht zuletzt 1953 in der DDR, einem Land, das Schostakowitsch aus eigener Anschauung kannte und mit dessen Kulturwelt, speziell der Bach-Pflege, er selbst in Berührung gekommen war. Dass der Komponist sich über eventuelle Doppelbödigkeiten in seinem Schaffen unter den Bedingungen der real existierenden Sowjetunion sowohl in der Stalin- als auch in der Post-Stalin-Ära nicht öffentlich äußern konnte (es wäre praktisch Selbstmord gewesen), fällt ihm bei einer konsequent schriftquellenorientierten Deutung seitens der Nachwelt natürlich auf die Füße, und so hilft hier nur das Wissen um die Realität in einer Diktatur, verbale Zeugnisse oder eben Nicht-Zeugnisse entsprechend der Gesamtsituation zu werten.
Von solcherart theoretischen Erwägungen mal abgesehen enthält die Elfte aber auch noch eine Stunde hochinteressante Musik, und da mit Andris Nelsons bekanntlich ein Schostakowitsch-Spezialist (und einer, der das Leben in einer Diktatur zumindest aus seiner Kindheit noch kennt) am Pult steht, darf man hohe Erwartungen ansetzen, die auch weitestgehend erfüllt werden. Die Einschränkung bezieht sich unter anderem darauf, dass schon im Adagio-Einleitungssatz „Platz vor dem Palast“ hier und da deutlich wird, dass die monatelange erzwungene Spielpause 2020/21 noch nicht wieder ganz zu 100% kompensiert werden konnte, was die Komponente des vom Gewandhausorchester gewohnten traumwandlerischen Zusammenspiels angeht – schon die Einleitung gerät deutlich zu nervös, und im weiteren Verlauf hakt’s hier und da auch noch, was die Feinabstimmung angeht. Positivum: Auf die Erzeugung der akustischen Winterlandschaft wirkt sich dieser Aspekt durchaus nicht entscheidend aus, die Stimmung paßt ohne Wenn und Aber, zumal Nelsons, bei Schostakowitsch generell eher für sehr bedächtige Tempi zu haben, hier durchaus behutsam, aber nicht schleppend vorgeht. Und als Klangfarbenmaler macht ihm und dem Orchester eh niemand was vor, seien es die geschickt ins Ganze eingepaßten Trompetenthemen oder die programmgemäß fahl bleibenden ersten Sonnenstrahlen.
Diese Stärke kommt im attacca anhängenden Allegro mit dem Titel „Der 9. Januar“ naturgemäß besonders stark zum Tragen. Das Bild des zusammenströmenden und diskutierenden Volks bedarf eines feinfühligen Dynamikmanagements, und das legt der lettische Dirigent auch vor. Aber er holt noch ein Trumpf-As aus dem Ärmel. Nachdem schon die ersten Tutti-Ausbrüche eher zurückhaltend geblieben sind und die unheimliche Stimmung durch ein langsames, aber unterschwellig treibendes Tempo befördert worden ist, fällt der erste Schuß auf die Menge mit der gebotenen Plötzlichkeit, wonach sich das große Zusammenschießungs-Tutti in überraschender Weise entwickelt. Klar, man kann es auch als simple Welle der Gewalt darstellen und erzielt damit markante Wirkungen – aber das reicht Nelsons noch nicht, und er stattet diese wilde Passage mit derartiger Transparenz aus, dass man praktisch jede Leiche einzeln wahrnimmt. Das können nicht viele Orchester und nicht viele Dirigenten in nicht jedem Raum, aber an diesem Abend trifft alles glücklich zusammen.
Der „In memoriam“ überschriebene Adagio-Satz reiht sich exakt ins große Geschehen dieses Abends ein: Hier und da wackelt’s mal, auch ein paar Störgeräusche kommen, aber das Stimmungsbild ist an Authentizität kaum zu überbieten, und so zauberhafte Pizzikati wie von den Tiefstreichern an diesem Abend in der Satzeinleitung hört man nicht alle Tage. Nelsons zieht den Bratschen das markante Thema in seiner typischen 90-Grad-Winkel-Körperhaltung förmlich aus den Instrumenten und wird mit wunderbarer Weichheit belohnt, und in der minutenlangen Zeitlupensteigerung den Pfad nicht zu verlieren ist auch keine leichte Aufgabe. Besagter Pfad führt zum zentralen und themengemäß zurückhaltend bleibenden zentralen Ausbruch, nach dem der Dirigent das Kunststück vollbringt, die Reprise des Hauptthemas noch behutsamer aus den Instrumenten zu ziehen. Und er hat natürlich nichts an der Komposition verändert: Das besagte Thema ist immer noch das von „Unsterbliche Opfer“, auch wenn man im Programmheft über den Titel „Du wurdest Opfer“ gestolpert ist. Letzteres ist zwar tatsächlich die wörtliche Übersetzung des Originaltextbeginns, aber wenn man das konsequent durchzöge, müßte man beispielsweise auch „Tapfer, Genossen, im Gleichschritt“ schreiben und nicht „Brüder, zur Sonne, zur Freiheit“, und statt „Leuchtend prangten ringsum Apfelblüten“ sind es im russischen Original blühende Apfel- und Birnbäume gewesen: Nicht immer hat eine so schöne 1:1-Übertragung stattgefunden wie etwa bei „Timur und sein Trupp“.
Im abermals attacca anhängenden Finalsatz, einem Allegro non troppo namens „Sturmgeläut“, brauchen wir jedenfalls nicht zu diskutieren, ob wir nun von der „Warschawjanka“ reden oder die erste Zeile „Feindliche Stürme durchtoben die Lüfte“ anführen. Schon vor dessen Einsatz holt Nelsons enorm viel Aggression aus den Streichern, besonders die acht Kontrabassisten sägen alles kurz und klein, und das Liedzitat selbst gerät gleichfalls sehr intensiv – aber der Dirigent erweist sich abermals als Meister der Vielschichtigkeit, impft der Fortsetzung eine Art Schadensbewußtsein ein und versieht die Unisoni mit einem erzwungenen Touch, der entfernt an das Finale der Fünften erinnert. Zudem holt er diesmal auch brutale Abwürgungen eines Scheinfriedens in seiner 90-Grad-Haltung aus dem Orchester, was man in der Form so von ihm nicht kennt. Auch das Finale bleibt hochinteressant: Nelsons läßt die Glocken eine Art Fremdkörperstatus einnehmen, und nach dem plötzlich anmutenden Ende klappt er die Partitur rasch zu. Das verwirrt das Publikum, aber der Applaus fällt dann doch lange und intensiv aus – verdientermaßen: Hier hat ein Dirigent Schostakowitsch verstanden.


Roland Ludwig



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