Positiver Panslawismus: 11. Slawische Nacht in Leipzig




Info
Künstler: Slawische Nacht mit Die Ukrainiens, Will Eaton, Kapela Polska, Chor Slavia

Zeit: 30.11.2019

Ort: Leipzig, Moritzbastei

Internet:
http://www.moritzbastei.de
http://www.facebook.com/events/2408146486113121/
http://www.dieukrainiens.com
https://de-de.facebook.com/WillEifell/

Ein in Leipzig ansässiges deutsch-polnisches Musikerpaar organisiert seit 2008 eine Veranstaltungsreihe namens Slawische Nacht – was aus einer privaten Feierlichkeit entstand, besitzt mittlerweile ein großes Ausmaß und erfüllt einen nicht unerheblichen soziokulturellen Zweck, nämlich die Vernetzung slawischstämmiger Musiker und Besucher untereinander, aber auch mit nichtslawischstämmigen Menschen: Die Veranstaltung ist keineswegs elitär, sondern offen für alle Interessenten, und so hat sich zum einen eine Art Stammpublikum herausgebildet, das auch diverse Locationwechsel mitgemacht hat – in der Moritzbastei ist die Reihe an diesem Abend vor dem 1. Advent 2019 erstmals zu Gast –, zum anderen kommen aber immer wieder neugierige Novizen hinzu. Auch für den Rezensenten ist es der erste Besuch, und er findet, als er die Veranstaltungstonne der Moritzbastei betritt, eine Art Halbbestuhlung vor – links und rechts stehen in Reihen jeweils drei bis vier Stühle, in der Mitte bleibt viel freier Raum. In diesem plaziert sich für den ersten Programmpunkt der Dirigent des Chores Slavia – ein Stammgast in den Programmen der Slawischen Nacht, denn der Chor hat seit 2008 keinen einzigen Jahrgang ausgelassen. Rechts vor der Bühne sitzt ein Akkordeonist, die siebzehn Sängerinnen und Sänger stehen hingegen auf der Bühne. Zu hören bekommen wir zehn Lieder (plus zwei Zugaben) aus dem polnischen, dem ukrainischen und dem russischen Kulturkreis, also sozusagen einen positiven kulturellen Panslawismus, der Brücken bauen möchte, anstatt neue Grenzen aufzurichten. Die zwölf Damen tragen rote und grüne Kostüme mit unterschiedlichem Kopfschmuck, die fünf Herren sind individuell gekleidet und besitzen teilweise, wie sie unter Beweis stellen, auch solistische Qualitäten. Dass man das Gehörte nicht mit einem Profichor auf eine Stufe stellen kann, ist klar, aber Ausdruck und Stimmung überzeugen und machen Intonationstrübungen locker wett. Da der Advent bevorsteht, erklingen auch zu dieser Zeit des Jahres passende Lieder (dass in den orthodoxen Kirchen das Weihnachtsfest und damit auch die Adventszeit anders liegen, fällt hier nicht ins Gewicht), man wagt sich selbst an Sätze von Michail Glinka heran, erntet vom Publikum reichlich Applaus, der Dirigent moderiert in sympathisch slawisch-durchwirktem Deutsch, und als letzte Zugabe erklingt das unverwüstliche „Kalinka“.

Ebenfalls zu den angestammten Programmpunkten der Slawischen Nacht zählt die Kapela Polska und ihr gemeinsames Singen mit dem Publikum. Das funktioniert so, dass Cheforganisatorin Henrietta Textblätter austeilt (die an diesem Abend nicht für alle Anwesenden reichen – der Rezensent etwa bekommt keines mehr ab) und man auch dann mitsingt, wenn man gar kein Polnisch oder Ukrainisch kann, aber wenigstens die Melodie zu halten in der Lage ist. Notenblätter gibt es freilich keine, aber da schafft die Kapela Abhilfe: Fünf kräftige Sänger stehen auf der Bühne (einige waren schon im Chor Slavia aktiv), dazu kommen als weitere Vokalisten Henrietta, die zugleich etwas Schlagwerk beisteuert, und ihr Partner Bartlomiej selbst, und von den vier Instrumentalisten – ein Gitarrist, zwei Akkordeonisten und ein Saxophonist – spielt letzterer nahezu durchgehend die Melodie mit, so dass man, sobald man das erkannt hat, sich auch an seinen Linien orientieren kann. Das Ganze besitzt natürlich einen leicht anarchistischen Touch, aber es macht jede Menge Spaß, und viele im Publikum kennen zumindest einige der Songs auch bereits, so dass fleißig mitgesungen wird, ganz besonders intensiv in den letzten beiden Songs, denn die sind Standards in den Auftritten der Kapela und stehen immer an dieser Stelle: „My Cigany“ und „Hej Sokoly“. Diverse der Textblätter befleißigen sich übrigens auch kyrillischer Lettern (das dürften dann wohl die ukrainischen Songs sein), so dass klar im Vorteil ist, wer sowas entweder von vornherein kann oder irgendwann mal zu entziffern gelernt hat. Wozu der Russischunterricht im DDR-Schulsystem doch so alles gut war ...

Der Panslawismus erklimmt an diesem Abend eine neue Stufe: Einen tschechischen Künstler gab es bei der Slawischen Nacht bisher noch nicht zu hören – der Liedermacher Will Eifell aus Ústí nad Labem debütiert diesbezüglich also. In seiner ersten Ansage versucht er’s mit Tschechisch, verlegt sich dann aber doch lieber aufs Englische, da im Saal offenbar nur wenige des Tschechischen mächtig sind. Bewaffnet ist der junge Mann mit Mikrofon und Akustikgitarre sowie einer Loopmöglichkeit, und was wir in den zehn Songs plus zwei Zugabe zu hören bekommen, ist keineswegs der „übliche“ Liedermachersound, sondern quasi eine heruntergestrippte Version von Rockmusikvorlagen, die einen gewissen Alternativeeinschlag besitzen, sich aber von Grunge-Trauerklößigkeit fernhalten, obwohl Eifell sogar in ein seattletypisches Karohemd gekleidet ist. Dazu kommt eine leicht angerauhte, aber nicht zu nölige und durchaus melodiefähige Stimme, mit der er die überwiegend im heimatlichen Idiom gehaltenen Texte vorträgt. Selbst eine Nummer namens „Aussig Blues“ verliert sich nicht gar zu sehr in Selbstmitleid, und der Künstler ist in seiner Heimat offenbar gut genug vernetzt, um auch Songs anderer Bands seiner Stadt zu covern. Aufs Glatteis begibt er sich freilich, als er RB Leipzig zur temporären Bundesliga-Tabellenführung gratuliert, aber es sind offenbar weder Chemie- noch Lok-Fanatiker anwesend, die ihm dafür grollen könnten. Statt dessen gibt es durchaus etlichen Applaus und die erwähnten zwei Zugaben – in der hinteren Hallenhälfte aber ist das panslawische „Familientreffen“ in vollem Gange, und so manche Gruppe unterhält sich so laut, dass man sich kaum noch darauf konzentrieren kann, was auf der Bühne passiert. Insgesamt ein guter Auftritt, der freilich im Gesamtkontext ein klein wenig wie ein Fremdkörper wirkt.

Die Ukrainiens markieren den Schlußpunkt des Livemusikprogramms – die 2002 gegründete Formation bildet seit langem eine feste Größe im Genre Eastern Speed Folk und ist immer für einen schweißtreibenden Gig gut. Dem begrenzten Platz in der Veranstaltungstonne begegnet man, indem zumindest einige der Stühle entfernt werden und die Tanzfläche somit wenigstens etwas größer wird – und es dauert nicht sonderlich lange, bis diese Fläche von jungem oder junggebliebenem Volk in Beschlag genommen und das Tanzbein fleißig geschwungen wird. Auf bestimmte Länder sind die Ukrainiens trotz ihres Bandnamens dabei nicht erpicht – auch sie frönen prinzipiell einem Panslawismus, erweitern diesen allerdings auch noch um türkisch beeinflußte Klänge, denn schließlich waren gute Teile des Balkans, aber auch die Areale nördlich des Schwarzen Meeres einstmals auch von turksprachigen Menschen besiedelt. Die türkischen Nummern zeichnen sich dabei durch eine Änderung der Tanzform aus, indem hier eine Longa gepflegt wird, und das während des Sets dieses Abends zweimal: In „Longa Fahafaza“ und „Nihavent Longa“ werden die Anwesenden aufgefordert, sich unterzuhaken, einen Kreis zu bilden und dann das Tanzbein nach vorn und hinten schwingen zu lassen, was ein guter Teil der Anwesenden gern mitmacht, während sich andere in den hinteren Hallenbereich zurückziehen. Ansonsten spielt sich das Sextett kreuz und quer durchs osteuropäische Liedgut, hält das Tempo meist relativ hoch und hievt zur Freude des Rezensenten auch „Widjeli Notsch“ der legendären Band Kino (der russischen natürlich, nicht der englischen) in den Set. Akkordeon und Gebläse liefern maßgeblichen farbtupfenden Input, und der Drummer verdient spezielle Erwähnung – er spielt an diesem Abend nämlich seinen allerersten Gig mit der Band, und hätte es der Sänger nicht erwähnt (und damit Extraapplaus für den Neuen erzeugt), man hätte es allenfalls an einigen Momenten erkannt, wo der eine oder andere der „alten“ Musiker mal Einsätze andeutet, während es prinzipiell am Zusammenspiel der Ukrainer, äh, Dresdner (aus dieser Stadt kommt die Truppe nämlich) nichts zu deuteln gibt und der natürlich speziell für die Tanzbarkeit bedeutsame Grundbeat nicht wackelt, wenngleich auf der anderen Seite Variabilität durchaus keine Hexerei darstellt. Mit „Hej Sokoly“ steht ein Song am Ende des Hauptsets, den es auch schon von der Kapela Polska zu hören gab, aber das stört hier niemanden, im Gegenteil: Die Nummer ist ein Hit in vielen slawischen Ländern (teils mit Textvariationen) und funktioniert im Kontext des Repertoires der Ukrainiens natürlich ebenso prächtig. Hier traut sich der Drummer sogar Blastspeedpassagen einzubauen und reißt damit sozusagen letzte verbliebene Begrenzungsmauern ein – das gefällt dem Publikum, unter das sich zwischenzeitlich auch zahlreichen „normale“ Discogänger gemischt haben: In den anderen Räumen der Moritzbastei herrscht mittlerweile der übliche samstagabendliche Tanztempelbetrieb, und von diesem sickern schrittweise immer mehr Menschen auch zur Slawischen Nacht ein. Die erlebt noch eine Gesang-plus-Akustikgitarre-Nummer als Zugabe nach einem langen, ca. 20 Songs umfassenden Set, und dann endet die Livemusik gegen 1.30 Uhr, die Party indes noch nicht: DJ Rolnik und DJ Mazynista setzen die Linie der Ukrainiens mit Konservenmaterial fort, das allerdings ohne weitere Begutachtung durch den Rezensenten, der sich rechtschaffen ermüdet auf den Heimweg begibt.


Roland Ludwig



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