Schwedischer Mitternachtsflug: The Night Flight Orchestra verleiten in Jena zum Tanzbeinschwingen




Info
Künstler: The Night Flight Orchestra, Black Mirrors

Zeit: 20.12.2018

Ort: Jena, F-Haus

Internet:
http://www.nuclearblast.de

Schwedische Musiker scheinen ein seltsames Gen zu besitzen, das ihnen ermöglicht, auch außerhalb ihres eigentlich angestammten Genres zu reüssieren, ja dort wahre Pioniertaten zu vollbringen. Man erinnere sich an die Erfindung des Viking Metal durch die bisherigen Black-Metal-Poltergeister Bathory, die Revitalisierung des Power Metal durch die bisher hauptsächlich in Death-Metal-Bands aktiv gewesenen Musiker von HammerFall oder an Supreme Majesty, die mit Tales Of A Tragic Kingdom eines der stärksten Melodic-Metal-Alben aller Zeiten einzimmerten, obwohl auch ihre Chefdenker zuvor in heftigeren Gefilden unterwegs waren. In diese Riege reihen sich seit einiger Zeit auch The Night Flight Orchestra ein, ein Ableger von Soilwork, der aus ungeahnter Richtung frischen Wind ins zwar zeitlose, aber auch leicht angestaubte AOR-Fach bläst. Mittlerweile auf Nuclear Blast, wo auch Soilwork unter Vertrag stehen, und bei Album Nummer vier angekommen, begibt sich die schwedische Formation nun auf eine reichlich anderthalbmonatige Tour für besagtes Album mit dem bescheidenen Titel Sometimes The World Ain’t Enough. Vier Tage vor Weihnachten stellt das Gastspiel in Jena den drittletzten Gig der Tour dar.

Die Black Mirrors sind auf der ganzen Tour als Support dabei, und als der Rezensent 19.55 Uhr, fünf Minuten vor der verbrieften Startzeit von 20.00 Uhr, im F-Haus eintrifft, spielen sie schon, sind aber noch in einem sehr frühen Stadium ihres Gigs, der keineswegs dazu angetan ist, sich ein stilistisch eindeutiges Bild von den Belgiern zu verschaffen. Die beiden Opener, der erste flotter, der zweite midtempolastig, kämpfen sich irgendwo durch den Alternative- oder Indierock, bevor das Quartett in „The Mess“ das Tempo konsequent rausnimmt, äußerst spacig agiert, der starken Stimme von Frontfrau Marcella dadurch viel Raum gibt und den entrückten Hauptteil mit einem locker-flockigen Speedsolo flankiert. Auch die beiden folgenden Nummern sind eher im Space- oder Psychedelicrock anzusiedeln und siedeln temposeitig weit unten, bevor das Quartett die Schlagzahl für den Rest des Sets wieder deutlich erhöht, jetzt aber stärker in Seventiesrock-Gefilden ackert und zudem soundlich klarer abgemischt ist als zu Beginn, als alles noch etwas durcheinanderlief und zu viel Geräusch im Boxenoutput verblieb. Die schnelleren Songs ermöglichen der Sängerin und den beiden Saitenbedienern zudem, wild auf der Bühne herumzuspringen, Marcella macht aber auch bei schlangentanzähnlichen Bewegungen eine gute Figur und stellt mit ihrer vielseitigen, vor allem in den Höhenlagen interessant gefärbten Stimme wohl den Haupttrumpf der Formation dar, während der Gitarrist erstaunlich dünne Sounds präferiert, aber dafür mit seiner Optik auffällt – man glaubt einen Sohn von Sascha Paeth vor sich zu haben. Als vorletzte Nummer covern die Belgier noch MC5s „Kick Out The Jam“ und packt als Finale noch ein großes Epos aus, in dessen großem frenetischem Soloteil die Instrumentalisten endlich mal richtig aus sich herausgehen, der Soundmensch nur leider den Fehler begeht, die Anlage weiter aufzureißen, als es dem Klangbild gut tut. Kuriose Situation am Ende: Die drei Instrumentalisten spielen einen großen bombastischen Akkord mit Schlußwirkung, aber dann ist nicht etwa Schluß, sondern der Gitarrist hängt noch eine Minute halbakustisches Nachspiel an. Paßt irgendwie zum leicht schrägen Bild der Truppe, die vom noch recht spärlich gesäten Publikum deutlich mehr als nur Höflichkeitsapplaus erhält und im Jena-Kontext eigentlich eher ins Beuteschema des Kulturbahnhofs oder des Rosenkellers paßt.

In der Umbaupause bekommt der Hörer schon einen Vorgeschmack, was ihn danach erwartet: Vom Band läuft AOR klassischen 80er-Zuschnitts, allerdings unter Verzicht auf ganz große Hits, was das (Wieder-)Hören umso spannender macht, und zumindest den Rezensenten stört es keineswegs, dass die Pause etwas länger andauert. Aber irgendwann muß die Livemusik natürlich losgehen, und der Titeltrack des neuen Albums eröffnet den Reigen von The Night Flight Orchestra. Das schwedische Oktett (!) steht bzw. sitzt in zwei Viererreihen auf der Bühne, wobei von den vier Menschen in der vorderen Reihe nur Björn „Speed“ Strid singt, während die komplette hintere Reihe Backing Vocals beisteuert, also neben Zweitgitarrist/Percussionist Sebastian Forslund auch Drummer Jonas Källsbäck – und auch die beiden Backingsängerinnen sind mit auf Tour, stehen hinten mittig auf zwei Podesten und erinnern optisch an Stewardessen. Die Optik ist auch sonst wichtig: Speed agiert in einem rotvioletten Anzug mit Kapitäns-Schulterstücken, und auch Bassist Sharlee D’Angelo sieht man bei Arch Enemy und seinen Dutzenden anderen Bands üblicherweise nicht im weißen Anzug auf der Bühne – im Publikum findet sich hingegen ein Fanatiker, der das Outfit noch im zitronengelben (!) Anzug samt passendem Schlips zu toppen versucht und ebenso wie diverse andere aus der nicht sonderlich reichlich erschienenen Anwesendenschar jede Zeile textsicher mitformuliert. Da die Schweden auf der neuen Platte ein paar discoverdächtige Elemente eingeflochten haben, macht das Tanzbeinschwingen jetzt noch mehr Spaß, und obwohl man der Kasse natürlich Mehreinnahmen gegönnt hätte, so besitzt der eher locker bestandene Saal doch den großen Vorteil, dass zum Behufe dieser Tätigkeiten auch ausreichend Platz bleibt, ohne dass man permanent seinem Nachbarn ungewollt in die Parade fährt, was später noch an Bedeutung gewinnen wird.
Freilich dauert es ein wenig, bis die Schweden und das Publikum miteinander richtig warm geworden sind, wozu auch der Fakt beiträgt, dass der Sound geraume Zeit etwas zu diffus ausfällt, Speeds Mikrofon bis zum Schluß zu weit in den Hintergrund gemischt ist und die Aufgabe, David Andersson oder Richard Larsson bei ihren Gitarren- respektive Keyboardsoli in den akustischen Vordergrund zu stellen, für den Soundmann lange Zeit eine recht problematische bleibt, wobei man interessanterweise den Baß oft richtig gut und transparent hört und feststellt, dass sich sein Bediener keineswegs auf die Rolle eines puren Rhythmushalters reduzieren läßt. Das Interessante am nicht immer ganz ausgewogenen Soundgewand ist jedoch, dass es stimmungsseitig kaum ins Gewicht fällt, zumindest ab Song 4 nicht mehr: Das flotte „Midnight Flyer“ wird gewissermaßen zum Dosenöffner, der die Begeisterung auch bei den Zweiflern im Auditorium entfacht und mit seinem metallischen Touch das eine Extrem des TNFO-Sounds abbildet, während wie erwähnt der etwas verstärkte, aber immer noch deutlich mit Rockinstrumentarium umgesetzte Disco-Touch das andere Extrem markiert. Und zwischen diesen Polen bewegen sich die acht Schweden mit hochgradiger Sicherheit hin und her und werden belohnt: Die Stimmung wird schrittweise immer ausgelassener und erreicht mit dem lautstark bejubelten Quasi-Hit „This Time“, der als erste Zugabe erklingt, einen Höhepunkt – auch der Rezensent ist längst von seiner puren Beobachterrolle in den Tanzbeinschwingmodus gewechselt. Der zweite Höhepunkt steht aber noch bevor: Aus Publikumsperspektive links vorn steht ein ausgesprochen hübsches weibliches Wesen mit grünem Oberteil, und Speed fällt auf, dass sie mit großem Enthusiasmus das Tanzbein schwingt, weshalb er sie in der letzten Zugabe „West Ruth Ave“ zum „Captain“ für den durchzuführenden Bewegungsmodus ernennt. Bei Soilwork hätte man zumindest in ihrer „amerikanisierten“ Periode jetzt eine Wall Of Death oder Ähnliches erwarten können – hier zettelt der Sänger aber statt dessen eine Polonaise an, von besagtem weiblichem Wesen angeführt und nahezu alle (!) Anwesenden integrierend, wodurch der nur halbvolle Saal seinen strukturell unterstützenden Charakter erhält, indem für die Windungen der Polonaiseschlange ausreichend Platz ist. Das setzt der großen Rockparty gewissermaßen die Kirsche aufs Sahnehäubchen, und da sieht man auch großzügig darüber hinweg, dass die Gesamtspielzeit des Headliners durchaus noch etwas länger hätte ausfallen dürfen – viele der Nummern sind recht kompakt arrangiert, und so schafft man mit 16 Songs nur mühevoll knappe anderthalb Stunden. Aber dafür stimmt der Qualitätsaspekt, und unterm Strich macht der Gig schlicht und einfach Freude, womit sein Zweck erfüllt ist, was offensichtlich auch das Gros der Anwesenden so sieht.


Setlist: The Night Flight Orchestra
Sometimes The World Ain’t Enough
Living For The Nighttime
Speedwagon
Midnight Flyer
Turn To Miami
Star Of Rio
Gemini
Something Mysterious
Stiletto
Josephine
Paralyzed
Can’t Be That Bad
1998
--
This Time
Lovers In The Rain
West Ruth Ave


Roland Ludwig



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