Die Grenzen des Sinnvollen: Das Gewandhausorchester spielt Wagner sowie Bruckners Sechste




Info
Künstler: Gewandhausorchester

Zeit: 07.12.2018

Ort: Leipzig, Gewandhaus, Großer Saal

Internet:
http://www.gewandhausorchester.de

Die Sinfonien Anton Bruckners im Konzert mit Werken Richard Wagners zu koppeln besitzt musikhistorisch zweifellos große Plausibilität, führt man sich vor Augen, in welchem Maße der Österreicher den elf Jahre älteren Leipziger verehrte, was dann hier und da auch zu direkten Zitaten führte, am markantesten in der Urfassung der Dritten Sinfonie. Das strukturelle Problem besteht freilich darin, welche Werke Wagners man für eine solche Kopplung denn wählen sollte – eigenständige Orchesterkompositionen gibt es von ihm ja kaum. Die Programmplanungsfraktion des Leipziger Gewandhauses findet für die beiden im Dezember 2018 anstehenden Grossen Concerte jeweils eine originelle Lösung.

In der ersten vollen Dezemberwoche erklingt im ersten Konzertteil das Siegfried-Idyll WWV 103, original ein Geburtstagsgeschenk des Komponisten für seine zweite Frau Cosima unter dem Titel „Tribschener Idylle mit Fidi-Vogelgesang und Orange-Sonnenaufgang, als symphonischer Geburtstagsgruß seiner Cosima dargebracht von Richard Wagner“ aus dem Jahre 1870. Der Terminus „symphonisch“ darf hier im Wagner-Kontext nicht mißverstanden werden – die „Uraufführung“ fand mit 15 Musikern im Treppenhaus der Tribschener Villa statt, eine geplante Umarbeitung für eine große Orchesterbesetzung realisierte Wagner letztlich doch nicht, und so steht das Werk noch heute an der Grenze von großbesetzter Kammermusik und kleinem Kammerorchester: Im Gewandhaus agieren neben den Streichern lediglich fünf Holzbläser, zwei Hornisten und ein Trompeter, und nur die relativ große Streicherbesetzung läßt das Gewicht ein kleines Stück in Richtung Kammerorchester kippen. Die titelgebende Idylle braucht an diesem Abend aber trotzdem nur wenige Sekunden, um sich im ganzen großen Raum auszubreiten, und Gewandhauskapellmeister Andris Nelsons legt zwar die Lautstärke weit nach unten, das Tempo aber durchaus nicht. Der Lieblichkeitsfaktor bleibt auch in den wenigen Tutti erhalten, gestört nur gelegentlich durch die Erkälteten im Publikum – dass die Hörner um die Generalpause herum zunächst wackeln, machen sie selbst sofort wieder wett und werden immer souveräner. Den Mittelteil nimmt Nelsons gefühlt noch weiter zurück, das kammermusikalische Zusammenspiel genügt auch verwöhnten Ansprüchen, der Witz im „Fidi-Vogelgesang“ paßt auch, und wie Nelsons trotz des eingeschränkten dynamischen Spektrums immer noch erstklassige Schichtungen hinbekommt, das verrät den wahren Könner. Auch im Schlußteil überzeugt die Lieblichkeit, obwohl der Weg zu ihr ein holpriger ist: Die Bläser spielen einen bedeutungsvollen Übergang, in dem aber alle Streicher gleichzeitig ihre Noten umblättern – und schon diese kleine Störung trübt den Transformationsprozeß ein. Ins Bockshorn jagen lassen sich Nelsons und seine Musiker dadurch natürlich nicht, der Schlußteil wird immer ätherischer und zurückhaltender und mündet schließlich im Nichts, was das Publikum mit herzlichem Applaus belohnt, auch wenn diesem der letzte Tick Enthusiasmus fehlt.

Anton Bruckners 6. Sinfonie A-Dur WAB 106 hatte der Rezensent zuletzt im Januar 2018 mit der Robert-Schumann-Philharmonie Chemnitz gehört (siehe Review auf diesen Seiten). Lieferte Leopold Hager dort eine Lesart, die mit „österreichische Altersweisheit“ umschrieben werden konnte, so war von vornherein davon auszugehen, dass Andris Nelsons mit dem nun in voller spätromantischer Orchesterstärke antretenden Gewandhausorchester einen völlig anderen Weg wählen würde, wenngleich die Sechste sich für eine ausgesprochen expressive Gestaltung nicht ganz so sehr eignet wie diverse andere Bruckner-Sinfonien. Das macht freilich nichts – Nelsons weiß natürlich um die Grenzen des Sinnvollen, und die überschreitet er auch nicht. Aber wie er schon im eröffnenden Maestoso zu Beginn in einer seiner typischen Haltungen, nämlich eine Hand hinter sich am Geländer des Dirigentenpults, agiert und das Hauptthema trotzdem blockartig in Stücke zerlegen läßt, das unterstreicht das ungewöhnliche Können aller Beteiligter, die sich mittlerweile blind zu verstehen scheinen. Und nötigenfalls krümmt der Dirigent natürlich auch hier seinen Körper zum rechten Winkel und zieht den Instrumentalisten die Töne förmlich aus den Instrumenten. Der Kontrast zwischen blockgemeißeltem Haupt- und mit enormem Fluß ausgestalteten Seitenthema ist jedenfalls hochgradig wirkmächtig, und obwohl die Tutti ein wenig Anlaufzeit brauchen, so kann doch Soloflötistin Cornelia Grohmann in ihrem letzten Gewandhaus-Konzertprogramm die eine oder andere goldene Brücke bauen, und was die Tiefstreicher bisweilen für einen Mix aus Beschwingtheit und Aggression spielen (gleichzeitig wohlgemerkt), bringt so manche Kinnlade zum Herunterklappen. In den Tutti schmeckt das Blech zwar etwas vor, aber Nelsons‘ Dynamikmanagement ist wie immer äußerst gekonnt, und so erscheint es nur logisch, dass der Satzschluß zwar wie ausgemeißelt wirkt, aber vom Dynamikgipfel noch ein gutes Stück entfernt bleibt.
Das Adagio läßt sich mit „viel“ umschreiben: viel Ruhe, viel Größe, viel Formung – und ein Andris Nelsons, der seinen typischen Bewegungsmustern noch eine neue Variante hinzufügt: Hand am Gitter, aber trotzdem das ganze Podest „ausschreitend“. Die Kombination aus großer Geste und im besten Sinne unprätentiösen Formen macht ihm so leicht auch keiner nach. Zwar sind sich die Holzbläser kammermusikalisch nicht immer ganz einig, aber butterweiche Hörner holen sofort die Kastanien aus dem Feuer. Das Ganze ergibt dann eine große düstere Landschaft („Sehr feierlich“ möchte es Bruckner haben), die Nelsons teilweise schon sehr weit zurücknimmt, ganz besonders im extrem ausgeformten Schluß, der ein vielfaches Pianissimo mit dem ganzen Orchester gestaltet, das seinen ganzen Zauber entfalten kann, weil der letzte Huster im Publikum lange genug vorher aktiv gewesen war.
Das Scherzo läßt Nelsons in den Tutti recht gallig spielen, die Andüsterung bleibt allerdings überwiegend im unterschwelligen Bereich. Reminiszenzen ans Jagd-Scherzo der Vierten im Trio bleiben allerdings unironisch, und in der Reprise betont der Dirigent die Kontraste von Galligkeit und Entspannungsmomenten noch stärker als im ersten Teil, wozu ein total schräger Grundton in den Celli sein Scherflein beiträgt.
„Bewegt, doch nicht zu schnell“ wollte Bruckner das Finale haben – Nelsons macht allerdings überraschenderweise ziemlich Tempo, zumindest unterschwellig, ehe die Hörner die Schroffheitsstrategie einläuten, wenngleich die Blockhaftigkeit der Struktur noch nicht so betont wird wie im 1. Satz – noch nicht: Das ändert sich im Verlaufe des Satzes, Nelsons beginnt wieder stärker zu meißeln (freilich auch wieder mit Hand am Gitter) und nimmt das Tempo teils extrem heraus. Nur die Tuttigestaltung läßt auch hier etwas zu wünschen übrig, fällt die Blechdominanz doch ähnlich stark aus wie im 1. Satz, obwohl man hier zumindest ein wenig mehr Untervegetation hört. Dafür besitzen die Ruhepole nicht selten eine fast tänzerische Eleganz, der Dirigent durchmißt wieder das ganze Podest, und im Satzschluß steht er aufrecht da und zieht dem Blech die Töne förmlich quer übers ganze Orchester aus den Schalltrichtern. Der Dynamikgipfel ist planmäßig erreicht, das 1. Bravo aus dem Publikum kommt prompt, und der Beifall schwillt an, als Cornelia Grohmann mit vielen Blumen und Umarmungen das Ende ihres vorletzten Gewandhauskonzertes (das letzte ist die dritte Aufführung dieses Programmes zwei Tage später) versüßt bekommt.


Roland Ludwig



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